© imago images/gezett (Birgit Hein im Jahr 2016)

Zum Tod von Birgit Hein

Mit Birgit Hein (6.8.1942-23.2.2023) starb nicht nur eine der bedeutendsten Avantgarde-Filmemacherinnen. Sie war eine der wichtigsten Vermittlerinnen der Medienkunst

Veröffentlicht am
19. April 2023
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Mit Birgit Hein (6.8.1942-23.2.2023) starb nicht nur eine der bedeutendsten Avantgarde-Filmemacherinnen Deutschlands. Sie war zudem eine der wichtigsten Vermittlerinnen der Medienkunst, die entscheidend dazu beitrug, dass das Bewegtbild in der Kunstwelt inzwischen gleichberechtigt mit Malerei und Skulptur wahrgenommen wird. Nachruf auf eine leidenschaftliche Kämpferin, die dem Underground Würde und der Hochkultur die nötige Dosis Gegenkultur verlieh.


Wahrscheinlich hätte das bewegte Bild noch Jahrzehnte länger darum kämpfen müssen, gleichberechtigt mit Malerei und Skulptur wahrgenommen zu werden, wenn es Birgit Hein (6.8.1942-23.2.2023) nicht gegeben hätte. Die ersten „Materialfilme“, die sie ab 1967 mit ihrem Mann Wilhelm Hein schuf und im eigenen Badezimmer entwickelte, brachten Köln auf die Weltkarte des experimentellen Films. 1968 gehörte sie zu den Mitorganisatoren des legendären X-Screen-Festivals.

Geboren am 6 August 1942 in Berlin, wuchs Birgit Hein in Duisburg auf und studierte in Köln Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Zu einem Zentrum der modernen Kunst wurde Köln mit Gründung des Kunstmarkts 1967. Was fehlte, war der Underground; Birgit und Wilhelm Hein gehörten zu dessen Protagonisten.


Pionierwerke des Found-Footage-Films

„Es geht nicht um den Film als Träger von außerfilmischen Aussagen“, beschrieben Birgit und Wilhelm Hein die Wirkung ihres bahnbrechenden 20-Minüters „Rohfilm“, der 1969 beim Filmfestival Mannheim Premiere feierte. Mit hochkonzentrierter Wucht treffen darin 8- und 16mm-Aufnahmen, Positiv- und Negativbilder aufeinander, doch das scheinbare Chaos folgt größter Präzision. Der langsam ansteigende Ton verstärkt den Eindruck, dass man eine visuelle Explosion in Zeitlupe erlebe. In „Reproductions“ (1968, 28 Min.) werden Reisefotos in Grautöne aufgelöst. „Portraits“ (1970, 15 Min.) verändert abgefilmte Fotos und Bewegtbilder im Entwicklungs- und Kopierprozess.


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In diesen Pionierwerken des Found-Footage-Films dekonstruierten sie das vorgefundene Material so radikal, dass sie die Wirkungsweisen des Films selbst sichtbar machten. Zugleich wecken sie eine durchaus als politisch empfundene Skepsis gegenüber den Institutionen, die bewegte Bilder liefern. Das brachte beide auf die documenta 5; bei der documenta 6 kuratierte Birgit Hein 1977 das Filmprogramm. Im selben Jahr kuratierte sie gemeinsam mit Wulf Herzogenrath die bahnbrechende Ausstellung „Film als Film“ im Kölnischen Kunstverein. Erstmals wurden dabei die Pionierleistungen der abstrakten und experimentellen Filmavantgarden seit den 1920er-Jahren aufgearbeitet und dem damals blühenden Undergroundfilm gegenübergestellt. Das deutschsprachige Standardwerk hatte Hein dazu bereits 1971 mit dem Taschenbuch „Film im Underground“ veröffentlicht.


Eine zentrale Vermittlerin

In ihrer Mehrfachbegabung als Künstlerin, Wissenschaftlerin, Kuratorin, Vermittlerin und Aktionistin wurde Birgit Hein neben den Österreichern Peter Weibel und Valie Export zur zentralen Figur bei der Etablierung des Bewegtbilds im Kunstkontext – ohne freilich das Dispositiv Kino aufzugeben. Die „Kali-Filme“ (1987-88, 70 Min) zählten beim zeitgenössischen Avantgarde-Publikum in London und New York zu ihren populärsten Arbeiten. In ihrem aggressiv montierten Materialcollagen dekonstruieren sie unter anderem Horror- und Frauengefängnisfilme.

Birgit Hein erklärte dazu: „Die ,Kali-Filme‘ zeigen Fantasien von Sexualität und Gewalt, die in der offiziellen Kultur tabu sind. In den Niederungen des Trivialfilms finden wir die Bilder für unsere eigenen niederen Instinkte. Kali ist eine Muttergöttin aus der indischen Hindu-Mythologie. Sie ist die gebärende und zugleich die tötende und kastrierende Frau. Seit Urzeiten fürchten sich die Männer vor ihrer Macht. Der Frauenfilm gibt ein Bild der Kali von heute.“

Nach der Trennung von Wilhelm Hein schuf sie wegweisende Essayfilme, die in ihrer kompromisslos-persönlichen Ansprache als höchst eigenständige Positionen zu den prägenden Diskursen um Gender, Gewalt oder Feminismus verstanden wurden. Ihr radikaler Liebesfilm „Baby, I will Make You Sweat", dessen Berlinale-Aufführung 1994 das Publikum spaltete, kann als bester Film zum Thema Sextourismus gelten; Birgit Hein ist selbst die weibliche Protagonistin.

Von 1990 bis 2008 war Birgit Hein Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, wo unter anderem Björn Melhus zu ihren Schülern zählte.

In ihren späteren Videoarbeiten nahm sie einige der Stilmittel ihres Frühwerks wieder auf, in der Form und im impliziten Misstrauen gegenüber einer offiziellen Bildproduktion. Ihr „Abstrakter Film (2013, 9 Min.) besteht aus Handyvideos der Kämpfe in Libyen und Syrien. Die Fragmente zeigen einen unkontrollierten Fluss von nahezu abstrakten Bildern – der sogar den Tod des Filmenden einschließt.


Die nötige Dosis Gegenkultur

Bruchlos ließ sie ihrer Lehrtätigkeit ein ruheloses Engagement für die Kunstvermittlung in der Berliner Öffentlichkeit folgen. Ab 2007 war sie Mitglied der Akademie der Künste Berlin, ab 2012 bis 2021 stellvertretende Direktorin der Sektion Bildende Kunst. Dort kann man gerade eine Ausstellung von Nan Goldin erleben, die von Birgit Hein schon in den frühen 1990er-Jahren für ihre Braunschweiger Studierenden eingeladen wurde.

Wer Birgit Hein erlebt hat, fand sie meist unter Strom. Nichts, das mit Film als Kunst zu tun hatte, entging ihrer Aufmerksamkeit oder war unter dem Radar ihres analytischen Verstands. Egal, ob sie eine Entwicklung umarmte oder verdammte: ihre Leidenschaft war ihr sicher. Dem Underground verlieh sie Würde – und der Hochkultur die nötige Dosis Gegenkultur. Am 23. Februar 2023 starb diese große Protagonistin des nicht-industriellen Films in Deutschland 80-jährig in Berlin.



Bei der Edition Filmmuseum ist unter dem Titel „Materialfilme 1968-76“ eine Sammlung der frühen Arbeiten von Birgit und Wilhelm Hein erschienen, unter anderem auch mit „Rohfilm“, Reproductions“ und „Portraits“. Das Booklet enthält Texte von Marc Siegel und Florian Cramer. Bezug: Edition Filmmuseum

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