© Grandfilm (Artwork zu "Saint Omer")

Die Arbeit am Wir - Alice Diop

Kino der Fremdheitserfahrung: Zu den Dokumentarfilmen von Alice Diop und ihrem Spielfilmdebüt „Saint Omer“

Veröffentlicht am
07. September 2023
Diskussion

Mit „Saint Omer“ (Kinostart: 9.3.2023) hat die französische Dokumentarfilmerin Alice Diop ihren ersten Spielfilm vorgelegt und wurde damit prompt beim Filmfestival in Venedig mit dem „Großen Preis der Jury“ geehrt. Diop, 1979 als Tochter einer aus dem Senegal stammenden Familie in Frankreich geboren, fokussiert in ihren Arbeiten immer wieder auf Protagonisten, die wie sie einen migrantischen Hintergrund haben: Ein Kino der Fremdheitserfahrung, das vom genauen, geduldigen Hinsehen lebt.


Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich diesen Text nicht schreiben. Es gibt eine Distanz zwischen mir und dem, was die Filme von Alice Diop zeigen, die nicht mit den üblichen Verweisen auf das Kino als universale Sprache oder ähnlichen rhetorischen oder gedanklichen Kniffen zu überbrücken ist. Dabei geht es nicht um zu simple Zuschreibungen, die mir aufgrund meiner kulturellen Herkunft oder Hautfarbe versagen würden, über diese Filme zu schreiben. Es geht vielmehr um ein Erfahrungsdefizit, das verhindert, in den Bildern ihrer Filme das zu sehen, was zu sehen ist.


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Damit meine ich, dass ich verleitet werde, meine Werte, meine irrelevanten Gefühle auf die Bilder zu projizieren und das, was ich nicht greifen kann, mit intellektuellen Argumenten oder noch schlimmer, mit Mitleid oder vergleichbaren Gefühlen aufzuwiegen. In der Auseinandersetzung mit den Filmen bin ich über mich selbst erschrocken, das heißt, ich bin über die Täler erschrocken, die sich vor mir aufgetan haben, und über die Hilflosigkeit, mit der ich versucht habe, sie zu überwinden. Gleichzeitig aber berichten Diops Arbeiten von eben jener anhaltenden Fremdheit, die immer auch eine widersprüchliche Verschiedenheit einschließt und zulässt. Ich werde versuchen, diese Fremdheit, dieses Anderssein als produktive Kategorie zu begreifen und so der naiven Unmöglichkeit meines Zugangs und den Filmen Diops gerecht zu werden. Wenn ich damit scheitere, dann ist das letztlich Ausdruck der komplexen Kraft des Wirkens dieser Filmemacherin.

Filmenacherin Alice Diop 2022 beim Filmfestival in Venedig, wo sie für "Saint Omer" den "Großen Preis der Jury" bekam (IMAGO/gefotostock)
Alice Diop wurde in Venedig für "Saint Omer" mit dem "Großen Preis der Jury" geehrt. (© imago/gefotostock)

Nicht Teil des Programms

„Menschen wie wir sind unvorstellbar für sie. Wir sind nicht Teil des Programms. Araber, Menschen aus den Sozialprojekten…wir sind nicht Teil des Programms. Kino, Theater, das ist nichts für Araber und Schwarze. Für uns! Vielleicht können wir Rapper sein oder Fußballer oder das Gleiche tun wie Mama oder Papa, Straßenfeger, aber sonst nichts. Wir sind nicht Teil ihres Programms.“ Diese wütenden und verzweifelten Sätze des jungen Schauspielers Steve in Alice Diops „La Mort de Danton“ (2011) beschreiben ex negativo das „Programm“ der Filmemacherin. Seit knapp zwei Jahrzehnten widmet sich die aus einer senegalischen Familie stammende französische Filmemacherin den Menschen, die nicht Teil des Programms sind. Sie schenkt jenen Aufmerksamkeit, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, den Bewohnern der urbanen Peripherien, deren Geschichten schon mit der Geburt geschrieben werden.

Steve versucht, als Schauspieler Fuß zu fassen. Er trifft auf eine rassistische Welt, in der er kein Schauspieler, sondern nur ein schwarzer Schauspieler sein darf. Diop begleitet und betrachtet ihn, sie dokumentiert, hält fest. Ihre Bilder sind unaufgeregt, uneitel. Sie erhebt nichts zur Kunst außer das Schauen, Zuhören und das darin enthaltende Suchen nach Erkenntnis. Bis auf ihren jüngsten Film, „Saint Omer“, hat sie dokumentarisch gearbeitet. Es ist keine Übertreibung, wenn man ihre Arbeit in den Fußstapfen so bedeutender Filmemacher wie Raymond Depardon oder Frederick Wiseman betrachtet. Gleichzeitig bringen solche Vergleiche nicht viel. Sie sind nur Ausdruck eines filmischen Gewichts, das einem selten begegnet.


Teil einer multi-ethnischen Welt

Wenn man schreibt, dass Diop aus einer senegalesischen Immigrantenfamilie stammt, hat das nichts und alles mit ihrem Schaffen zu tun. Nichts, weil die ehemalige Studentin der Kolonialgeschichte Afrikas und visueller Soziologie ihren Blick stets auf das wirft, was sich im nur angeblich Gleichen oder Ähnlichen von ihr unterscheidet und vice versa. Alles, weil sie durchaus daran interessiert ist – ihr Film „Wir“ (2020) zeugt davon bereits im Titel – eine Gemeinschaft, Komplizinnenschaft, einen kollektiven Plural zu erkennen, wenn nicht zu kreieren. So mischt sie unter die Bilder von Menschen aus den Pariser Vororten Videoaufnahmen ihrer eigenen Familie und versteht sich so selbst als Teil dieser multiethnischen Welt der gemeinsamen Verschiedenheit.

"Wir" (© Sarah Blum & Sylvain Verdet)
"Wir" (© Sarah Blum & Sylvain Verdet)

Diop ist eine Filmemacherin, die jenseits irgendwelcher Parolen aufrüttelt, ganz einfach, indem sie zeigt, was sonst nicht gezeigt wird. Es ist zur Mode geworden, in solchen Fällen zu schreiben, dass jemand den Protagonisten „eine Stimme verleiht“, „eine Bühne gibt“. Dabei wird oft ignoriert, dass das Rampenlicht nicht auf die Bühne, sondern auf diejenigen gerichtet ist, die diese ermöglichen. Diesen Widerspruch hebt Diop auf, indem sie sich zum einen immer wieder selbst ins Bild rückt, sei es durch ihre Stimme wie im erstaunlichen „Vers latendresse“ (2016), indem sie den machoiden Männlichkeitsbildern der Pariser Banlieus in intimen Gesprächen eine paradoxe Zärtlichkeit entlockt, oder eben ganz bildlich in „Wir“. Derart entstehen Räume vor der Kamera, die gleichzeitig die Welt abbilden und wie ein Schutz vor selbiger wirken. Dieses Wir ist utopisch, aber ist auch ganz wirklich. Diop sucht in der Wirklichkeit nach den Dingen, die den Klischees widersprechen. Das ist natürlich politisch, kommt aber auch ganz selbstverständlich, wenn man hinschaut.


Anhaltende Fremdheitserfahrung

Obwohl Diops Blick keinesfalls nur schwarzen Menschen gilt, ist ihr Kino beseelt von einer zeitgemäßen Négritude, in der die Suche nach afrikanischer Selbstbestimmung in der Diaspora auch Ausdruck einer anhaltenden Fremdheitserfahrung ist, für die, die ohnehin oftmals von Weißen vorgegeben Begriffe und Erfahrungsbeschreibungen keine Entsprechung bieten. Erlauben wir den Jugendlichen in den Banlieus ihre Vorstellungen von Liebe und Sexualität? Können wir uns die sozialen Wohnbauprojekte als fröhliche Orte vorstellen? Entdecken wir in einer Frau, die ihr kleines Kind umgebracht hat, uns selbst? Mit solchen Fragen konfrontieren die Filme Diops. Aber sie arbeiten auf einer ganz sinnlich-körperlichen Ebene, befreit von den auf ihnen lastenden Diskursen.

Selten hat man etwa die Einsamkeit dieser in die Körper eingeschriebenen Fremdheit so klar und doch so verschlossen gesehen wie in ihren Filmen. Es gibt kaum filmische Beispiele, in denen die Undurchsichtigkeit so stark zur menschlichen Eigenschaft erhoben wurde. Es versteht sich von selbst, dass Diops Blick geduldig ist. Dauer wird zugelassen, weil sie nötig ist, um unter den Oberflächen Liegendes zum Vorschein zu bringen. Ein Zögern, ein Schweigen, das Schlucken, bevor sich eine Stimme erhebt: diese zugleich körperlichen und seelischen Regungen sind entscheidend für das, was Diop in ihren Filmen sichtbar macht.

"Saint Omer" (© SRAB Films/Arte France Cinéma 2022/Grandfilm)
"Saint Omer" (© SRAB Films/Arte France Cinéma 2022/Grandfilm)

Müsste man ihre Filme auf eine Kernaussage reduzieren, dann wäre es wohl die, dass das, was die Menschen zu Menschen macht, komplexer ist als alles, was es darüber zu sagen gibt. Man kann es nur sehen, spüren. Für Randgruppen gilt das nochmal umso mehr, werden sie doch mit großer Regelmäßigkeit in nicht-individuelle Schubladen gesteckt. Es wird aus westlicher Perspektive mehr über die Araber gesagt als über alle einzelnen Araber zusammen.


Das, was in einem Menschen vibriert

Diops Filme erkunden die Grenzen zwischen dem, was man ist, und dem, was man sehen kann. Das Fremde, das Andere wird in Blicken, die sich treffen, zu einer inneren Kategorie. Es gibt keine Zuschreibungen, es gibt nur etwas zwischen den Menschen, ein Nicht-Miteinander-Sein-Können oder eine Zärtlichkeit, zumindest eine Neugier. Darin findet Diop Traurigkeit, aber auch Faszination. In „Saint Omer“, der sich an den wahren Fall um Fabienne Kabou anlehnt und dessen Dialoge auf den tatsächlichen Aussagen vor Gericht basieren, gibt es genau einen Blickkontakt im Gerichtssaal zwischen der für den Mord an ihrer Tochter angeklagten Frau und der Schriftstellerin, die dem Prozess folgt.

Es ist aber genau dieser kurze Blick, der den Antrieb für Diops Filme ausmacht. In ihm treffen sich das Verständnis und das Unverständnis, das ganz Gleiche und das völlig Verschiedene. Die Körper und die aus ihnen sprechenden Augen transzendieren die simplen Botschaften. Claire Denis spricht oft davon, dass man bei guten Filmemachern eine Intensität erkennt, wenn sie ihre Kamera auf Menschen richten. Filmemacherinnen, die, so Denis, die Schönheit in einem Körper suchen, das, was in einem Menschen vibriert. Diop ist nach dieser Definition eine gute Filmemacherin. Zwischen ihr und den Protagonisten entsteht eine selbstverständliche Nähe, die sich auf die Filme überträgt. Jenseits dramaturgischer oder effekthaschender Einfälle wird Aufmerksamkeit in ihren Filmen durch Konzentration generiert. Ihr Blick hinterlässt eine Spur, und die Kamera hilft, den Abdruck zu speichern.

"Saint Omer" (© SRAB Films/Arte France Cinéma 2022/Grandfilm)
"Saint Omer" (© SRAB Films/Arte France Cinéma 2022/Grandfilm)

Dazu dient Diop nicht nur in „Saint Omer“ die quasi isolierte, konfrontative Welt des Gerichtssaals, in der sich die Welt wie in einem Labor einteilen lässt in die Urteilenden, die Beobachtenden und die sich Verteidigenden. In „La permanence" (2016), einer großartigen Dokumentation, verharrt die Kamera im Sprechzimmer von Dr. Geeraert, einem nüchternen Verteidiger menschlicher Werte, der am Rande von Paris jene ärztlich versorgt, die kaum als Mitglieder der französischen Gesellschaft existieren. Diop, die in diesem Film selbst die Kamera führte, blickt dabei auf ihn, die Patienten oder eine anwesende Psychologin. Die Struktur ist ganz ähnlich wie im Gerichtssaal. Auf den Gesichtern lassen sich die hochintensive Unerklärlichkeit, die tiefsitzenden Ängste, die eigentlich versteckten Regungen der Hoffnung ganz direkt erkennen. Trotzdem sind diese Bilder nie zu nah, sie halten die richtige Distanz. Das liegt auch daran, dass die Beobachtenden genauso beobachtet werden von Diop wie die, die beobachtet werden.


Zwischenbilder, die alles sagen

Obwohl diese Mikrokosmen durchaus einladen würden, alles zu abstrahieren, betrachtet Diop keine Person losgelöst von deren sozialem Umfeld. Bereits ihre erste TV-Arbeit, „La Tour du Monde“ (2006), beginnt mit einem Schwenk vom Himmel auf das Viertel „La rose des vents“ in Aulnay-sous-Bois nordöstlich von Paris. Es ist der Ort, an dem Diop aufgewachsen ist, und sie verbindet diese Welt der Sozialwohnungen mit dem großen Ganzen. Ihr Blick ist immer von außen und innen zugleich. Die Bilder, die sie findet, sind konkret. Kaum einmal gibt es diese metaphorischen Bilder, die heute das Kino fluten. Wenn sich die Spiegelung einer Frau im Zug in „Wir in der Pariser Nacht verliert oder Steve in „La Mort de Danton vor dem unscharfen, hinter Glas verschwimmenden Eiffelturm aus dem Bild kippt, wirken die Aufnahmen doch so, als wären sie ohne Hintergedanken entstanden. Es sind kaum wahrnehmbare Zwischenbilder, die hier alles sagen.

"La permanence" (© Athénaïse/arte)
"La permanence" (© Athénaïse/arte)

Letztlich konfrontieren Diops Filme mit dem Anderen, aber auch mit einem Selbst vor diesen Anderen. Sie zeigt eine Welt, die sich nicht erholen kann von einer kolonialen Begegnung, von einem kapitalistischen Ungleichgewicht, das durch sämtliche Venen dringt, als wäre das menschliche Wir ein Körper ohne Zentrum. In dieser Metapher bleibend, filmt Diop beharrlich die Aorta, jenes pulsierende Leben, das unter Haut und Knochen versteckt, alles antreibt.

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