In der US-amerikanischen Serie „Beef“ (aktuell bei Netflix) geraten zwei Menschen in eine sich immer mehr hochschaukelnde Auseinandersetzung, die zunehmend absurdere Züge annimmt. Im Spiegel dieser Groteske wird ein unnachgiebiger Selbstbehauptungskampf sichtbar, in dem jeder Mensch als Ego-Company agieren muss, die durch ökomische Ziele, soziale Erwartungen und eine permanente Medienpräsenz bestimmt ist. Darüber hatte das Kino auch schon in früheren Zeiten eine Menge zu erzählen.
Die US-Serie „Beef“, die augenblicklich bei Netflix zu sehen ist, gehört zu den auffälligsten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs. Die zehn Folgen erzählen vom Krach (im englischen Jugendjargon: „Beef“) eines Mannes (Steven Yeun) und einer Frau Mitte Dreißig (Ali Wong), die sich in Los Angeles zufällig auf dem Parkplatz eines Baumarktes begegnen und einander bei ihren alltäglichen Gewohnheiten stören. Da keiner von beiden nachgeben will, entwickelt sich in kürzester Zeit ein Wettbewerb des Rechthabens, der schnell eskaliert. Einer bedroht den anderen, und schon nimmt eine Verfolgungsjagd ihren Lauf, die keine Rücksicht auf die Straßenverkehrsordnung und auf Vorgärten nimmt.
Dieser
Streit, der nur dann eine Pause findet, wenn die Kräfte erlahmen oder die
öffentliche Kontrolle zu groß wird, ist einer zwischen zwei Individuen, die
sich gesellschaftlich zu behaupten versuchen, und zwar auf zwei
unterschiedlichen Ebenen. Er versucht sich als Handwerker, der jede Arbeit
annimmt, die in den reichen Villenvororten zu erledigen ist. Sie ist mit einer
Art Blumen-Boutique erfolgreich, die sie aber an eine Unternehmerin verkaufen
möchte. Der Mann lebt mit seinem Bruder zusammen, der den Tag mit
Computerspielen verbringt. Die Frau ist mit einem Mann verheiratet, der als
Gestalter von Gebrauchskunst vom Ruhm seines Vaters, eines erfolgreichen
Künstlers, zehrt, unter diesem aber auch leidet.
Die Ansprüche der Gesellschaft
Beide haben die Rollen, die sie als Unternehmer ihrer selbst zu erfüllen haben, verinnerlicht. Beide sind damit unglücklich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Kinder koreanischer Einwanderer sind, die es in den USA zu Wohlstand gebracht haben oder zu bringen trachten. Die Ansprüche von Eltern und Verwandten lasten ihnen schwer auf den Schultern.
Dieser wie selbstverständlich gewählte Blickwinkel einer asiatischen Gemeinschaft in Los Angeles ist das Besondere der Serie, die Sonny Lee als Showrunner entwickelt hat. Hier stehen Figuren im Mittelpunkt, und zwar genauso selbstverständlich, wie sie viele Jahre lang nur als Reservoir für Randfiguren dienten.
Das kann man gut an einer der Darstellerinnen exemplifizieren: Ashley Park spielt in „Beef“ die Freundin der Protagonistin, die lange Zeit nur am Rande auftaucht, ehe sie am Ende die Handlung beschleunigt; die in den USA geborene Schauspielerin mimte zuletzt den aus China stammenden weiblichen Sidekick der weißen Hauptfigur in „Emily in Paris“.
Die
in der Gegenwart spielende Serie „Beef“ handelt davon, wie sich der Kampf nach
einigen Ruhephasen immer wieder neu entzündet. Bald sind alle, die im Umfeld der
Kontrahenten leben, in die Auseinandersetzung miteinbezogen, stellenweise ohne
Wissen, aber nie unschuldig, da sie ihren eigenen Interessen folgen, während
sie in der Halböffentlichkeit der Geschäfte, Kirchen und sozialen
Einrichtungen, auf Partys oder Nachbarschaftstreffen das Gegenteil behaupten. Die
Interessen aller, ihre Begierden und Lüste durchkreuzen sich; jeder steht auf
irgendeine Weise mit jedem in Verbindung; die Figuren animieren sich zu
Verbindungen der vielfältigsten Art. Dabei kann aber niemand irgendeinem
anderen vertrauen, nicht einmal sich selbst.
Jeder agiert als Ego-Company
In diesem Sinne erzählt „Beef“ von nichts anderem als von dem Selbstbehauptungskampf innerhalb der aktuellen US-Gesellschaft, in der jeder Mensch als Ego-Company agieren muss, die durch ökonomische Zielvorgaben, soziale Erwartungen und permanente Medienpräsenz bestimmt wird. In den besten Szenen von „Beef“ wird die Anstrengung sichtbar, die auf den Subjekten lastet, die in Windeseile zwischen den verschiedenen Anforderungen wechseln müssen, wie sie von den ökonomischen, sozialen und auch familiären Erwartungen gefordert werden, und zudem ständig in den (auch sozialen) Medien präsent sein müssen. Selbst noch das Geständnis in der psychotherapeutischen Sitzung, ob allein oder als Paar, ist vom Zwang beherrscht, so zu sein, wie alle anderen es sind – und man es dummerweise auch von sich selbst erwartet.
So gesehen hat „Beef“ weniger mit den klassischen Rachefantasien des Hollywood-Kinos wie „Ein Mann sieht rot“ (1974) oder „Falling Down“ (1993) zu tun als vielmehr mit Filmen, die vom bedingungslosen Wettbewerb der Individuen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erzählen. Zwei Beispiele seien genannt.
Da ist zum einen „Big Business“ (1929), ein 19-minütiger Einakter, den Hal Roach produzierte, mit Stan Laurel und Oliver Hardy in den Hauptrollen. Ein klassischer Slapstick-Film, wie er am Ende der Stummfilmperiode gedreht wurde. Laurel und Hardy spielen zwei Männer, die im kalifornischen Winter an den Haustüren Weihnachtsbäume verkaufen. Sie sind in einer klassischen Rollenteilung miteinander verbunden. Oliver Hardy spielt den Chef, der sich klüger gibt, als er ist, und Stan Laurel seinen naiven Knecht. Beide haben die Regeln des kapitalistischen Wettbewerbs, also des im Titel genannten Geschäfts, verinnerlicht.
Auf die Persönlichkeit kommt es nicht an
Der
ersten Kundin (Lyle Tayo) begegnet Ollie mit unterwürfiger
Freundlichkeit. Als sie kein Interesse an einem Tannenbaum zeigt, legt Ollie
nach, ob vielleicht ihr Ehemann einen Baum kaufen wolle. Die Frau sagt mit
einem koketten Lächeln, dass sie keinen Ehemann habe. Nun mischt sich Stan ein
und dreht die Frage um eine absurde Drehung weiter: „Wenn Sie einen Ehemann
hätten, würde er einen kaufen?“ Das ist der guten Frau nun zu viel, sie knallt
den beiden die Türe vor der Nase zu.
Als bei einem anderen Haus eine Warntafel darauf hinweist, dass fahrende Händler (und Anwälte) in diesem Anwesen nicht gerne gesehen sind, wischt Oliver Hardy dies mit dem ebenso stolzen wie eitlen Satz „It’s personality that wins“ beiseite. Diesen Satz würden auch alle Personen aus „Beef“ unterschreiben. Doch hier nutzt er nichts, denn Ollie fängt sich nur einen Hammer-Schlag auf den Schädel ein. Der, der den Schlag ausführt, bleibt anonym; in der Einstellung sind nur die Hand und der Hammer zu sehen.
Auch
mit dem dritten Kunden haben die beiden kein Glück. Er will ebenfalls keinen Weihnachtsbaum
kaufen. Dummerweise klemmt der Mann beim Schließen der Haustür einen Zweig des
Baums ein. Deshalb müssen die beiden noch einmal klingeln, was den Hausbesitzer
(James Finlayson) wenig erfreut. Beim zweiten Schließen der Tür
wird erneut der Baum eingeklemmt, beim nächsten Mal ist es ein Stück des
Mantels von Ollie. Der gute Mann ist ob der ewigen Klingelei der beiden Tölpel höchst
genervt und schickt sie von dannen. Doch da hat Stan eine neue und – wie er
meint – gute Geschäftsidee. Er klingelt ein weiteres Mal und fragt den
sichtlich verärgerten Mann, ob er eine Baumbestellung für das nächste Jahr
aufnehmen könne. Das macht den Mann so wütend, dass er mit einer Heckenschere
den Baum in Stücke schneidet. Was er aber besser hätte bleiben lassen, denn nun
gehen Stan und Ollie zum Gegenangriff über. In den folgenden neun Minuten
entwickelt sich eine Zerstörungsorgie ohnegleichen, an deren Ende das Haus in
Schutt und Asche gelegt ist und der Wagen der beiden Tannenbaumverkäufer zu
einem Schrotthaufen wurde.
Selbst die Versöhnung ist ein Trick
Dem durchaus lustvollen Zerstörungsspiel mit Anleihen beim Sport und beim Spieltrieb von Kindern schauen Passanten und Nachbarn gebannt zu. Ein Polizist (Tiny Sandford) notiert gewissenhaft alle Straftaten, die er dort beobachtet. Er greift erst ein, als ihn Ollie aus Versehen auf den Fuß schlägt. Im Angesicht der Ordnungsmacht geben sich die beiden Baumverkäufer dann devot. Ollie schlägt die Augen nieder und dreht verlegen an seinem Hut. Stan legt ein Stück des zerlegten Klaviers wieder ordentlich zurück, als wolle er es reparieren.
Auf die Frage des Polizisten, wie das alles begonnen habe, erzählen die beiden unter Tränen, wie der Hausbesitzer den Streit begonnen habe. Der erklärt, bald ebenfalls weinend, dass er sich nur gewehrt habe. Die Tränen der Befragten rühren den Polizisten und die umstehenden Passanten so sehr, dass alle zu weinen beginnen. Es entsteht eine kollektive Gefühlserfahrung, wie sie in „Beef“ die mit Rockmusik unterlegten Gottesdienste oder manche Therapiestunden entfalten. Doch im Gegensatz zum Hausbesitzer haben Stan und Ollie ihr Leid nur vorgespielt. Hinter vorgehaltener Hand grinsen sie sich an. Und die Zigarre, die Stan dem Hausbesitzer in einer Art Versöhnungsgeste überreichte, entpuppt sich als Scherzartikel, der explodiert, sobald er sie angezündet hat.
„Big
Business“ wurde wie alle frühen Arbeiten des Komiker-Duos von Hal Roach
produziert. Die Regie führte James W. Horne. Leo McCarey
war als „Supervising Director“ und George Stevens als Kameramann
beteiligt, bevor sie wenig später selbst als Regisseure tätig wurden. McCarey
drehte beispielsweise mit den Marx Brothers die überdrehte Komödie „Duck Soup“ (1933), während Stevens in den 1950er-Jahren einen Western wie „Mein großer Freund Shane“ inszenierte.
Fassadenverkäufer: „Tin Men“ von Barry Levinson
Ein anderes Beispiel ist der Spielfilm „Tin Men“ (1987) von Barry Levinson. Die Eskalation des Streits, die in „Big Business“ innerhalb weniger Minuten geschieht und sich in „Beef“ über zehn Folgen erstreckt, entwickelt sich hier in knapp zwei Stunden. Wie in „Beef“ geraten zwei Menschen beim Ausparken aneinander. Es sind Männer desselben Fachs. Sie verdienen ihre Brötchen als Vertreter, die an der Haustüre Aluminiumfassaden als den neuesten Design-Hit anpreisen. Sie gehören damit wie Stan und Ollie zu den fahrenden Händlern, vor denen das Schild in „Big Business“ warnte. Eine Warnung, die in „Tin Men“ überaus berechtigt erscheint. Denn die Fassaden-Verkäufer wenden allerlei legale, oft aber auch illegale Tricks an, um die Hausbesitzer zu übertölpeln.
Damit ihnen das gelingt, müssen sie äußerst selbstbewusst auftreten, gediegene Kleidung tragen und mit den neuesten Kraftwagen vorfahren. Sie spielen sich in der Öffentlichkeit als Vertreter der Moderne auf, als die sie die Aluminiumfassaden denn auch verkaufen. Privat sind sie Kleinbürger, die sich gerade mal für Pferderennen und das Fernsehprogramm interessieren. Beim Mittagessen streiten sie nicht um Politik oder Wirtschaft, sondern nur um eine Fernsehserie wie „Bonanza“, der einer der Vertreter jedweden Realismus abspricht. So neu ist die gesellschaftliche Debatte um Fernsehserien also nicht.
Die beiden Männer beginnen einen Kleinkrieg, der auch vor dem Privatleben nicht haltmacht. Der eine (Richard Dreyfuss) verführt sogar die Frau des anderen (Danny DeVito), um es ihm endgültig heimzuzahlen. Doch ehe ihr Kleinkrieg final eskaliert, werden sie zusammen mit weiteren Vertretern wegen ihrer Betrügereien vor eine Untersuchungskommission gerufen. Am Ende verlieren beide ihre Lizenz, was sie ihren Streit vergessen lässt. Gemeinsam planen sie eine Zukunft, in der sie merkwürdige kleine Autos verkaufen wollen, die in Deutschland produziert werden.
„Tin Men“ spielt in Baltimore. Es ist der zweite von vier Filmen, in denen Barry Levinson seine Heimatstadt porträtiert. Der erste Film, „American Diner“ (1982), spielt Ende der 1950er-Jahre, der dritte, „Avalon“ (1990), während des Ersten Weltkriegs; der vierte, „Liberty Heights“ (1999), zu Beginn der 1950er-Jahre. Hinzu kommt die von Levinson entwickelte und produzierte Polizei-Serie „Homicide“, die in den frühen 1990er-Jahren angesiedelt ist. Alle diese Filme, aber auch die Serie erfassen den sozialen Kosmos ihrer Figuren und Baltimore als städtischen Raum, in dem sich die Menschen einzurichten und zu behaupten haben. Ihre Wohnungen und Häuser sind Rückzugsorte von den Selbstbehauptungskämpfen, die sie in ihren Berufen durchzustehen haben. Schon die Jugendlichen in „Liberty Heights“ und erst recht die jungen Männer in „American Diner“ testen die sozialen Rollen aus, die sie als Erwachsene einnehmen wollen. Die Muster, nach denen sie ihre Rollen modellieren, liefern ihnen die Massenmedien, zunächst das Kino, später das Fernsehen.
Wem man nicht trauen sollte
In „Beef“ sind es die Sozialen Medien, in denen die gesellschaftlichen Rollen verhandelt werden. In ihnen wird auch der Wert verhandelt, nach dem die Frauen und Männer eingestuft werden. Ihre Häuser und Wohnungen sind weniger Rückzugsorte als Räume, in denen sich die Subjekte gleichsam ausstellen. Damit ähneln sie den Autos in „Tin Men“. Ihre Beziehungen unter- und miteinander ziehen sich über zehn Folgen hin, die zwischen 30 und 39 Minuten dauern.
Je
weiter die Serie fortschreitet, desto häufiger wechselt sie die Genres – von der
Comedy über den Gangsterfilm bis zum Melodram. Der durchaus souverän
inszenierte und anspielungsreiche Genre-Mix verdeckt im Lauf der Serie aber immer
stärker den realistischen Kern der seriellen Erzählung, um dann zu einem überraschenden
Ende zu finden, dem man ähnlich wie der tränenreichen Versöhnung in „Big
Business“ wohl nicht ganz trauen sollte.
„Big Business“ mit Laurel und Hardy ist im Netz zu sehen. „Tin Men“ dagegen ist selbst auf DVD kaum noch erhältlich, was einmal mehr anzeigt, wie schlecht es um das klassische Filmrepertoire bei den Streamingdiensten bestellt ist.