© Leonine (aus „Beau Is Afraid“)

Angstzustände - Ari Aster

Die Filme von Ari Aster

Veröffentlicht am
25. Juni 2023
Diskussion

Mit „Beau Is Afraid“ läuft aktuell ein neuer Film von Ari Aster in den Kinos, der die früheren Werke des US-Filmemachers, „Hereditary“ und „Midsommar“, zu einer Trilogie des Unbehagens rundet. Aster gehört damit zu einer neuen Generation von Horror-Regisseuren, die einer Genre-Spielart zu neuer Blüte verhelfen, die sich als „Art-Horror“ charakterisieren lässt. Ein Porträt.


Neben Robert Eggers („The Witch“) und David Robert Mitchell („It Follows“) gilt Ari Aster als einer der vielversprechendsten US-Filmemacher der Gegenwart. Gemeinsam haben alle drei, dass sie vom Independent-Film kommen und ihnen der Durchbruch mit Horrorfilmen gelang – einem Genre, dem sie durch feinfühlige Annäherung neues Leben und Aktualität eingehaucht haben. Inhaltlich kreisen die Werke der drei Regisseure um latente gesellschaftliche und familiäre Beklemmungen, die vor allem auf jungen Protagonist:innen lasten. Aster formte aus „Hereditary“ und den beiden nachfolgenden Filmen, „Midsommar“ und „Beau is Afraid“, eine Trilogie der Angstzustände.

Die Erwartungen an Aster und seine Regiekollegen sind immens. Nicht umsonst bezeichnete Altmeister Martin Scorsese den 1986 geborenen Ari Aster als „eine der außergewöhnlichsten neuen Stimmen des Kinos“. Mit seinem jüngsten Film „Beau Is Afraid“ (seit 11.5. im Kino) spaltet der Amerikaner aber eher die Gemüter, als für allgemeine Begeisterung zu sorgen: Der Streifen mit Joaquin Phoenix („Joker“) in der Hauptrolle ist ein drei Stunden langes, gigantisches neurotisches Albtraum-Spektakel des 21. Jahrhunderts, das zum Symptom unserer Zeit wird. Aber wer ist eigentlich dieser Ari Aster und was versteckt sich in seinen Filmen?


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Die Geburt eines Auteurs

Spätestens mit dem Kurzfilm „The Strange Thing About the Johnsons“ (2011, hier bei YouTube zu sehen), in dem ein Sohn in einer amerikanischen Vorstadt-Familie eine inzestuöse Beziehung zu seinem Vater unterhält, hat Ari Aster auf sich aufmerksam gemacht. Der Skandalfilm ging viral, es häuften sich Reaktionsvideos auf YouTube, in denen man Menschen dabei zusehen konnte, wie sie auf den Film schockiert reagierten. Doch erst mit „Hereditary“ (2018) schaffte es Aster Jahre später auf die große Leinwand, was auch mit seiner Eigenwilligkeit beim Umsetzen seiner künstlerischen Visionen zu tun hat. Die üblichen Hollywood-Studios kamen für ihn nicht wirklich in Frage; erst das Independent-Studio A24 aus New York machte Asters Film nach einer anfänglichen Finanzierungs-Odyssee möglich. Das Horrordrama über eine Familie, die nach dem Tod der Tochter immer weiter in den Abgrund driftet und von okkulten Kräften verfolgt scheint, sorgte für Begeisterung, Kritiker sahen schon einen „Exorzisten einer neuen Generation“.

Ari Aster und „Beau Is Afraid“-Hauptdarsteller Joaquin Phoenix (© Eric Charbonneau/Leonine)
Ari Aster und „Beau Is Afraid“-Hauptdarsteller Joaquin Phoenix (© Eric Charbonneau/Leonine)

Nur ein Jahr später führte Aster den Zuschauer mit „Midsommar“ (2019) in einen endlos anmutenden, lichtdurchfluteten Horror-Sommer in einer alternativen Kommune in Schweden – vergleichbar mit dem Klassiker „The Wicker Man“ (1973). Vier Jahre später – Aster war nach den direkt aufeinanderfolgenden Filmen überarbeitet, dazu kam die Covid-19-Pandemie – folgt nun also „Beau Is Afraid“, und diesmal handelt es sich um keinen „klassischen“ Horrorfilm, sondern um eine schwer zu beschreibende, albtraumhafte Tour-de-Force-Komödie. Dennoch fügt er sich mit den Vorgängerfilmen in eine erzählerische Linie.


Zwischen Michael Haneke und David Lynch

Orientiert hat sich Aster unter anderem an dem österreichischen Filmemacher Michael Haneke und seiner Trilogie der emotionalen Vergletscherung, bestehend aus „Der siebente Kontinent“ (1989), „Benny's Video“ (1992) und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ (1995) – Filme um soziales Unbehagen und emotionale Unterdrückung, mit denen Haneke eine Gesellschaftskritik der Moderne schuf, die nur schwer zu ertragen ist. Aster, der den ersten Teil dieser Trilogie als einen „der perfektesten Filme, die je gedreht wurden“ bezeichnet, greift diese Kritik auf, macht aber etwas Eigenständiges daraus, das sich, anders als Hanekes Werk, nicht mehr in den Grenzen des Realismus bewegt. „Hereditary“, „Midsommar“ und „Beau Is Afraid“ legen ebenfalls moderne (Angst-)Zustände von Menschen offen und bedienen sich dabei der Mittel des Fantastischen und des Horrors.

Man könnte Aster auch als eine erfrischende Mischung aus Haneke und dem US-Filmemacher David Lynch („Mulholland Drive“) bezeichnen. Alle drei Filme Asters folgen einer Albtraumlogik, die mal verständlich, mal verwirrend ist, dabei aber immer an Lynchs bizarre Traumwelten erinnert. Was genau in „Beau Is Afraid“ aus dem neurotischen Inneren des Protagonisten stammt und was Wirklichkeit ist, ist nicht eindeutig; Erlebtes und Fantasiertes verschmelzen.


„Hoher“ Horror?

Nach „Hereditary“ wurde Aster in die Ecke des „Elevated Horror“, des „gehobenen“ Horrors, gestellt. Ein Begriff, der die Bewegung intelligenter, anspruchsvoller Horrorfilme seit den 2010er-Jahren einfangen soll, aber – nicht überraschend – stark umstritten ist, weil er indirekt impliziert, dass das Genre ansonsten per se „niedrig“ sei. Aster selbst sieht den Terminus ebenfalls kritisch: „Ich selbst würde die Filme überhaupt nicht kategorisieren. Ich bin schon sehr früh abgestempelt worden. Man bezeichnete mich als einen Vertreter dieses ‚Elevated Horror‘. (…) Ich liebe das Horror-Genre. Wie in jedem Genre gibt es jedoch gute und schlechte Filme. Ich denke, der Begriff ‚Elevated Horror‘ suggeriert, dass Horror bereits ein entwertetes Genre ist.“

Ari Asters Durchbruch: „Hereditary“ (© Splendid)
Ari Asters Durchbruch: „Hereditary“ (© Splendid)

Dabei ist Asters Werk undenkbar ohne seine filmischen Vorgänger: Seine Filme sind vollgestopft mit Referenzen. „Hereditary“ etwa wirkt wie ein Mosaik aus Werken von M. Night Shyamalan („The Sixth Sense“), Nicolas Roeg („Wenn die Gondeln Trauer tragen“), David Lynch („Blue Velvet“) und Roman Polanski („Rosemary’s Baby“). Diese extreme Zitierwut kann natürlich kritisch betrachtet werden. Doch das Endergebnis ist keineswegs epigonisch, sondern ein einzigartiges Werk, das Kraft aus der filmhistorischen Vergangenheit schöpft und dabei ein neues Seherlebnis schafft. „Midsommar“ und „Beau Is Afraid“ folgen demselben Schema, orientieren sich aber auch noch sehr stark an bildenden Künsten und an der Literatur. Vor allem literarischen Werken, etwa von Franz Kafka und den Schelmenromanen, verdankt Aster jede Menge Inspiration.


Zeitgenössisches Unbehagen

Als ich Ari Aster Anfang Mai 2023 interviewte, habe ich ihm die Frage gestellt, ob er ängstlich sei. Woraufhin er knapp geantwortet hat: „Ja, ich bin ein ängstlicher Mensch, und viele Dinge können diese Angst auslösen.“

In Asters ersten drei Filmen geht es denn auch um ein ständiges Unbehagen, das die Protagonisten auf Schritt und Tritt verfolgt. Sowohl die jugendliche Hauptfigur Peter in „Hereditary“ als auch Dani in „Midsommar“ sind von traumatischen Erfahrungen gezeichnet und suchen verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Ist-Zustand. Bei Beau („Beau Is Afraid“) ist die Angst als bestimmender Modus seiner Existenz sogar schon im Filmtitel festgeschrieben: Er fürchtet sich permanent vor seiner Umgebung, den Mitmenschen, der Gesellschaft – wohl begründet im Verhalten seiner Mutter und seiner Erziehung.

In einem Interview hat Aster Beaus Wahrnehmung als „eine Art Zerrspiegel der Welt, in der wir leben“, bezeichnet. Sie sei „auf alle Arten schrecklich, so wie unsere Welt, nur noch überdrehter“. Und diese Unerträglichkeit der Gegenwart bekommt der Zuschauer gemeinsam mit Beau voll zu spüren. Schon bei der Geburt gibt Beau einen ängstlichen, unbehaglichen Schrei von sich, und letztlich findet er symbolisch wieder zurück in den Mutterleib. Ähnlich wie in „Hereditary“, wo Peter sich letztendlich in einer Albtraumfantasie zum Dämonenkönig Paimon wandelt, oder in „Midsommar“, wo die Protagonistin zur Maikönigin wird, ein zutiefst ambivalentes Ende, das einerseits die Erlösung der Figuren von den peinigenden Ist-Zuständen markiert, andererseits aber auch unlösbar verbunden ist mit Auslöschung und Tod.

„Midsommar“ ist ein Sommer-Horrorfilm in der „The Wicker Man“-Tradition (© Weltkino)
„Midsommar“ ist ein Sommer-Horrorfilm in der „The Wicker Man“-Tradition (© Weltkino)


Auch die dunkle Seite ist ein Ausweg

Alle drei Figuren stehen symbolisch für eine Generation, für die die Gegenwart des 21. Jahrhunderts im wahrsten Wortsinn unheimlich geworden ist und die nach einer Alternative sucht. In dem gesellschaftlichen (und familiären) Umfeld, in dem sie leben, sehen sie keine Zukunft, finden keine individuelle Anerkennung. Peter (junger Mann), Dani (junge Frau) und Beau (älterer „weißer“ Mann) verkörpern verschiedene Facetten dieses grundlegenden Gefühls der Ent- und Befremdung. Aster fängt somit, mehr metaphorisch als realitätsnah, diesen von Klimakatastrophe und multiplen Krisen befeuerten Zeitgeist ein.

In der Auflösung dieser Zustände geht Aster sehr radikal vor – für ihn ist auch die dunkle Seite ein Ausweg. Peter treibt es in die Fänge eines Dämonen, Dani mutiert zur Rachemörderin, Beau begeht Matrizid. Ein mulmiges Gefühl bekommt das Publikum spätestens dann, wenn es merkt, dass die Figuren dabei auch noch irgendwie glücklich zu sein scheinen. Aster steigert es konsequent durch eine ausgeklügelte visuelle Gestaltung und ein ausgefeiltes Sounddesign – man erinnere sich nur an das permanente, an den Nerven zehrende Zungenschnalzen der Tochter in „Hereditary“.


Der Horror als Mittel

Greifen wir den weiter oben erwähnten Begriff „Elevated Horror“ auf. Filme wie „The Babadook“ (2014) oder „Get Out“ (2017) zählt man neben den Filmen von Aster und Eggers dazu. Die Werke seien intelligent und komplex und es gehe darum, das Erlebnis für den Zuschauer zu steigern, auf ein anderes Niveau zu hieven, klassische Horrorgeschichte aufzuwerten. Aster hält davon, wie gesagt, nicht viel. Meiner Meinung nach trifft es der Begriff „Art-Horror“ besser – im Sinne von Arthouse-Horrorfilmen, die Jump Scares durch existenzielle Ängste (!) ersetzen und deren Ambitionen über die unmittelbare Befriedigung der Angstlust der Zuschauer hinausgehen. Horror ist hier nicht Selbstzweck, sondern ein erzählerisches Mittel. Und in diesem Punkt brilliert Aster.

„Beau Is Afraid“ präsentiert sich als neurotisches Albtraum-Spektakel (© Leonine)
„Beau Is Afraid“ präsentiert sich als neurotisches Albtraum-Spektakel (© Leonine)

„Hereditary“ zum Beispiel ist eben nicht nur ein Horrorfilm, der bekannte Genre-Motive wie Sekten und dämonische Besessenheit aufgreift, sondern auch ein Familiendrama, in dem es um Trauer, das Erbe innerhalb einer Familie und den Umgang jedes einzelnen Familienmitglieds damit geht. In „Midsommar“ geht es ebenfalls um Traumaüberwindung sowie um die vermeintliche Trennung eines jungen Paares und die Gefühle, die sie bei beiden Seiten auslöst – immer expressiv gesteigert durch die Kombination mit Horror-Elementen. In „Beau Is Afraid“ werden die psychologisch-traumatischen Seiten einer Mutter-Sohn-Beziehung genauestens unter die Lupe genommen. Was lösen Lügen und Psychoterror einer Mutter beim Kind aus? Wie kann sich das Kind von den Eltern emanzipieren? Wie geht man mit einer dominanten Mutter um? Wie mit einem undankbaren Sohn? Diese Fragen webt Aster in sein neurotisches Albtraumszenario ein und arbeitet sie meist metaphorisch ab. Genre-Standards nutzt Aster als Werkzeug und passt sie seinen Erzählbedürfnissen an – als veritabler „Auteur“-Filmemacher, der immer Regisseur und Drehbuchautor gleichzeitig ist.

„Beau Is Afraid“ ist der bislang teuerste Film in der Geschichte von A24, und wie es aussieht, ist er weit davon entfernt, seine Kosten wieder einzuspielen. Niemand hat Aster bei dem Film dazwischengeredet (Final Cut!), es ist die reinste Form seiner künstlerischen Vision. Man kann nur hoffen, dass die Angst Aster nicht einholt – die Angst von Studios, dermaßen persönliche, kompromisslose Werke auch in Zukunft zu ermöglichen.


Zum Autor

Adrian Gmelch ist der Autor des Bandes „Art-Horror. Die Filme von Ari Aster und Robert Eggers“ (2022). Darin versucht er sich zunächst an einer Art Standortbestimmung von Aster und Eggers im Kontext des historischen und gegenwärtigen Horrorkinos, arbeitet sich am Begriff des „Elevated Horror“ ab und schlägt stattdessen den Begriff „Art-Horror“ vor, wobei es ihm weniger um den „Anspruch einer allgemeingültigen Definition“ für ein Subgenre geht als um eine dichte Beschreibung von Merkmalen, die er am Werk von Aster und Eggers herausarbeitet. Die Werkanalyse der beiden Filmemacher bildet dann das Herzstück des Bandes, wobei Gmelch akribisch filmischen und anderen kulturgeschichtlichen Inspirationsquellen nachspürt sowie die ästhetischen Strategien der beiden Filmemacher untersucht. Abschließend und erweiternd gibt es dann noch eine Liste mit Horrorfilmen von 2010 bis in die Gegenwart, die Gmelch dem „Art-Horror“ anrechnet.

Art-Horror. Die Filme von Ari Aster und Robert Eggers“. Büchner Verlag, Marburg 2022. 258 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 27 Euro. Bezug: in jeder Buchhandlung oder hier.

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