Bei der „Oscar“-Verleihung 2024 ging der Preis fürs beste Kostümbild an Holly Waddington für ihre spektakulären Roben in Yorgos Lanthimos’ „Poor Things“. Und obwohl der darauffolgende Lanthimos-Film „Kinds of Kindness“ kein historischer „Kostümfilm“ ist, glänzte er erneut mit ausdrucksstark-ungewöhnlichen Outfits. Die Kostümbildnerin Abigél Szilas spürt zwischen seidigen Roben und engen Rollkragenpullis, Mega-Puffärmeln und Minikleidern den erzählerischen Qualitäten der äußeren Hüllen nach.
Die ersten Kinomonate des Jahres 2024 war für Fans des Regisseurs Yorgos Lanthimos besonders erlebnisreich, da gleich zwei neue Filme des absurd-philosophischen Filmemachers starteten. Zunächst „Poor Things“, und etwas später dann die Anthologie „Kinds of Kindness“. Die Settings dieser beiden Filme könnten nicht unterschiedlicher sein. „Poor Things“ ist eine fantastisch-schauerromantische Coming-of-Age-Tragikomödie, die in einer viktorianisch anmutenden Vergangenheit von einer Frau handelt, die von einem Wissenschaftler in Frankenstein-Manier aus dem Körper einer verstorbenen Erwachsenen und dem Gehirn eines Babys erschaffen wurde. „Kinds of Kindness“ spielt dagegen in der Gegenwart und erkundet beunruhigende Machtdynamiken in Form eines nur lose miteinander verbundenen Triptychons. Beide Welten wurden nicht zuletzt auch dank der Arbeit der Kostümbildnerinnen Holly Waddington („Poor Things“) und Jennifer Johnson („Kinds of Kindness”) auf spektakuläre Weise visuell zum Leben erweckt.
Waddington und Johnson nähern sich mit ganz unterschiedlichen Ansätzen der Charakterisierung der jeweiligen Welten und Figuren. Um den Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen zu verstehen, werden im Folgenden die Rolle von Farbe, Transformation und Dissonanz in den jeweiligen Kostümen analysiert.
Farben, die erzählen
Die Bedeutsamkeit der Tönung fällt schon zu
Beginn von „Poor Things“ auf, wenn das erste, monochromatische Bild
in bodenlosem Blau auf der Leinwand erscheint. Victoria, Bellas Mutter und die
vorherige Bewohnerin des Körpers der Protagonistin (beide gespielt von Emma Stone), ist in diesem Prolog Sekunden davon
entfernt, in den Tod zu springen und von der Themse verschluckt zu werden,
wobei die Welt der Farben den Tod bereits vorausnimmt. Victorias metallisch-kobaltfarbenes
Kleid macht sie schon als Lebende zu einem Teil der Elemente; das Kleid
korrespondiert mit dem gespenstischen Blau des bewölkten Himmels und der Farbe
des tödlichen Wassers.
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„Kinds of Kindness“ verfügt ebenfalls über
wassergetränkte Charaktere. Im zweiten Teil des Triptychons, „R.M.F.
is Flying“, kehrt die
verschollene Meeresbiologin Liz (Emma Stone) zu ihren Liebsten zurück. Nur ihr Mann Daniel (Jesse Plemons) realisiert, dass sie nicht mehr dieselbe
Person ist, was unter anderem durch ein Kostüm-Detail offenbart wird: Die
Schuhe von Liz passen der Heimkehrerin nicht. Er reagiert zunehmend feindselig
auf sie, was schließlich eine blutige Wendung nimmt. Die vermutete
Hochstaplerin kleidet sich aus der Garderobe von Liz in einem
praktisch-bequemen Look mit Funktionshosen und locker geschnittenen Hemden.
Dieser scheinbar so nüchterne Stil weist jedoch Farben auf, die mit Hintersinn
gewählt sind. Sie erinnern ans Meer, in dem Liz einst verschwand und aus dem
die Hochstaplerin vermutlich kommt. Gegen Ende der Episode trägt die falsche
Liz eine hellblaue Jacke über einem gelben Hemd – unter anderem in einer Szene
im Krankenhaus, in der die Farbe der Windbreaker-Jacke fast mit der blaugrünen
Wandfarbe verschmilzt. Ein an sich angenehm-harmloser Ton, der an ruhige Gewässer erinnert, hier aber zur „Tarnfarbe“ einer
Figur wird, die sich an ihre Umgebung anpassen will, aber letztlich daran
scheitert.
Ganz am Ende, wenn die falsche Liz ihre Jacke auszieht, um
sich ein letztes Mal für Daniel zu verstümmeln und ihre eigene Leber für ihren
Mann herauszuschneiden, zieht sie die Jacke aus und legt das gelbe Hemd
darunter frei – ein Farbton, wie er seit Jahrhunderten für die
Wasserschutzkleidung von Fischern und Seeleuten verwendet wird, um bei Nebel
oder stürmischer See besser gesehen zu werden. Diese Signalfarbe nützt der
falschen Liz allerdings nichts mehr; sie stirbt und muss das Feld einer anderen
überlassen. Die echte Liz taucht in der Tür auf und umarmt glücklich ihren
Mann. Beide tragen gelb – sie haben einander gefunden. Die falsche Liz wollte sich mit ihrem Blau
anpassen, aber Farben dienen manchmal dazu, die Deplatziertheit einer Figur
auszudrücken.
Das Verhältnis von Figur und Welt
In „Poor Things“ ist die Kinoleinwand während Bellas „Kindheit“ in der Villa von Godwin „God“ Baxter (Willem Dafoe) schwarz-weiß eingefärbt, bis sie ihre erste eigene Entscheidung trifft und mit dem ausschweifenden Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) nach Lissabon durchbrennt. In Portugal angekommen, beim „furiously jumping“ – Bellas Ausdruck für Sex mit ihrem Liebhaber –, explodiert die Leinwand in dynamischen Gelb- und Orange-Tönen. Bellas Welt öffnet sich in einem überschwänglichen Coming-of-Age-Prozess.
Im echten Leben hat die typische
Unbeholfenheit von Teenagern damit zu tun, dass die Körper sich verändern und
im „Dazwischen“ zwischen Kindheit und Erwachsensein stecken. Auch Bella steckt,
obwohl ihr Körper schon der einer Erwachsenen ist, in einem solchen „Dazwischen“,
was nicht nur durch das Schauspiel von Emma Stone, sondern auch durch die Kostüme
dargestellt wird. Die Figur wirkt buchstäblich wie ein bunter Hund. Ihre
babyblauen und babyrosa Kleider mit riesigen Gigot-Ärmeln und den ultrakurzen unteren
Bedeckungen, die ihren Beinen fohlenhafte Länge geben, bringen Bellas aktuelle
pubertäre Verfassung zum Ausdruck.
Diese Verspieltheit wird später durch den Intellektuellen Harry (Jerrod Carmichael) zerstört, der es nicht ertragen kann, dass eine so intelligente junge Frau so unreif bleibt. Er zeigt ihr das Leid der Armen in Alexandria. In dieser Szene trägt Bella bezeichnenderweise ein weißes Rüschenkleid, das ihr Privileg als reiche Engländerin symbolisiert und an die traditionelle Kolonialkleidung im britischen Afrika erinnert. Ihre und Harrys weiße Kleider sind wie helle Farbkleckse auf Alexandrias vergilbtem Stück Papyrus.
„Kinds of Kindness“ nutzt die Bekleidungsfarben der Sektenmitglieder in der dritten Episode „R.M.F. Eats a Sandwich“ hingegen als Marker der Entfremdung. Bei der Sekte handelt es sich um einen merkwürdigen, mit Wasser-Symbolik, seltsamen Reinheitsvorstellungen und Sex hantierenden Kult, der davon besessen ist, nicht von fremdem Sperma „kontaminiert“ zu werden. Die Kleidung der Mitglieder ist in fast schon schmerzhaft-grellen Tönen gehalten, vor allem die beide Leiter Omi (Willem Dafoe) und Aka (Hong Chau) stechen förmlich ins Auge.
Beide betreiben einen esoterisch verbrämten Personenkult um sich, indem sie beispielsweise die Wasserquelle der Gemeinde mit ihren eigenen Tränen „segnen“. Schon die unangenehmen Farben verdeutlichen, dass es sich hier um eine künstliche, unauthentische Spiritualität handelt, die nur dazu dient, den Machtanspruch der Leiter gegenüber den Gläubigen zu zementieren, was das übergreifende Thema des Films ist.
Verwandlungen am Körper
Die Darstellung dieser Sektenführer war für Dafoe wie auch für Chau – ähnlich wie für ihre Mitspieler Jesse Plemons, Emma Stone und Margaret Qualley – nur eine von drei Rollen innerhalb des Films. Die jeweils drei Sets von Kostümen pro Figur mussten sich also markant genug voneinander unterscheiden, um die Schauspieler:innen von Episode zu Episode sichtbar zu verwandeln. Jennifer Johnson hat darauf genauestens geachtet, von den Socken bis zur Unterwäsche. Sie musste für jede Rolle unterschiedliche stilistische Regeln aufstellen, um sie effektiv voneinander zu trennen, und verwandte dafür Muster, Silhouetten und Farben. Das lässt sich beispielhaft an den Outfits von Emma Stone verdeutlichen.
In der ersten Sektion, „Der Tod von R.M.F.“, kontrolliert der Businessman Raymond (Dafoe) sorgfältig jeden Aspekt des Lebens seiner Angestellten, im Verlauf der Episode auch das von Rita (Emma Stone). Die Outfits, die Raymond ihr vorschreibt, sind völlig unpraktische, unbequeme Hingucker; sie machen aus der Frau, die eigentlich Optikerin ist, eine sexualisierte Puppe mit knappen Minikleidern in glänzenden Mardi-Gras-Mustern und schillernden Tönen, mit hautengen Silhouetten, und hohe Stilettos.
Das ist der größtmögliche Kontrast zu den eher sportiv-lässigen Kleidern in hellen Uni-Farben, die Stone als Meeresbiologin Liz/Doppelgängerin in Episode 2 trägt. Im dritten Teil nimmt Stone die Rolle von Emily an, einem Sektenmitglied, das den Auftrag hat, eine Frau mit der Gabe zu finden, Tote ins Leben zurückzubringen. Dabei trägt sie einen braunen Anzug – eigentlich der dezent-professionelle Business-Look schlechthin, der hier allerdings durch den weiten Schnitt, die kontrastreich-kollidierende Kombination mit einer lila Bluse und den ins Orange tendierenden, ein bisschen nach den 1970er-Jahren aussehenden Ton des Brauns etwas dezidiert Exzentrisches hat.
Von Mutter zu Tochter, vom Kleinkind zur Frau
Die Kostüme spielen in „Kinds of Kindness“ bei der Verwandlung der Schauspieler:innen von Rolle zu Rolle eine zentrale Rolle. Die Verwandlung, um die es in „Poor Things“ geht, ist dagegen direkt Teil der Geschichte. Dort gibt es die durch die Hirntransplantation vollzogene Verwandlung von der toten Mutter (Victoria) zur Tochter (Bella) innerhalb desselben Körpers, und zum anderen Bellas Coming-of-Age-Transformation durch Reifung vom Kind in einem erwachsenen Körper zur selbstbewussten Frau.
Die erste Verwandlung ist abrupt: Victoria
stirbt im Prolog in dem melancholisch tiefblauen Kleid und ersteht als Bella. Über
das Leben und den Charakter der Mutter erfährt man nur wenig; bei diesem
Wenigen spielen jedoch einmal mehr die Kostüme eine wichtige Rolle. Im Prolog
sieht man Victoria zunächst von hinten in dem blauen Kleid, an dem die
segmentierten Ärmel, die den Armen fast etwas
Gliederbeinig-Insektenhaftes geben, die auffälligste Merkmale sind und an eine Achselrüstung erinnern. Eine militärisch-strenge Anmutung,
die sich auch in Victorias zweitem Kleid zeigt, wenn es um Bellas Begegnung mit
ihrem Vater/Victorias Ehemann geht sowie Bellas kurzzeitige „Rückverwandlung“ in
die Tote, als der Ehemann sie beziehungsweise ihren Körper als rechtmäßiger
Gatte zurückfordert. Die Ärmel und das Mieder der orange-lila Robe sind mit Soutache geschmückt, einer typischen Verzierung von Uniformen. Das kommt nicht von ungefähr: Victoria war
die Frau eines brutalen, chauvinistischen Generals namens Alfred Blessington (Christopher Abbott); ihr
Stil spiegelt also das Milieu wider, dem sie entkommen wollte: scharf,
militaristisch, aggressiv.
Im Gegensatz dazu trägt die eigentliche Bella, deren Entwicklung man im Film mitverfolgt, weichere Elemente: Polster, Rüschen, Strick, Pastellfarben und ballonartige Ärmel. Diese kindlichen Elemente verdeutlichen Bellas geistiges Alter trotz ihres erwachsenen Körpers und erzeugen einen scharfen Kontrast zu Victorias steifen Kleidern. Das bringt auch den Unterschied zwischen den Lebensumständen von Mutter und Tochter zum Ausdruck. Obwohl Bella von der Welt abgeschirmt wird, ist ganz offensichtlich, dass die Kontrolle, die ihr liebevoller Erschaffer/Vater über sie ausübt, ihr mehr Spielraum lässt, als Victoria je von ihrem besitzergreifenden Ehemann bekam.
Die andere Tendenz der Transformation zeigt sich in Bellas Reise durch die Mode, die ihre Selbstwerdung auf dem Weg von England nach Lissabon, übers Meer nach Alexandria, nach Paris und schließlich wieder heim nach London visuell begleitet. Von gepolsterten Morgenmänteln und kindliche Rüschenblusen über experimentelle-verspielte Modelle, wie sie sie in Lissabon und Paris trägt, bis hin zu schlichten, farbneutral-eleganten Ensembles reift sie sozusagen stilistisch, während ihr Körper unverändert bleibt. Hier zeigt sich die Macht der Kostümbildner: Die Kleidung ist keineswegs nur ausschmückendes Beiwerk, sondern ein unverzichtbares narratives Element.
Dissonanz und Humor
Die absurde Natur von „Kinds of Kindness“ ist zum Teil auf den Kontrast zwischen der schockierend-verstörenden Handlung und den humorvoll-skurrilen Elementen zurückzuführen; ein krasser, aber zugleich organisch wirkender Mix. Ein anschauliches Beispiel dafür taucht im ersten Teil auf, in einer Szene zwischen Raymond und seinem Angestellten Robert (Jesse Plemons). Raymond nimmt Robert unter die Lupe. Er lässt ihn erst reden, wenn sein Auftritt perfekt ist, während er selbst einen einfachen schwarzen Rollkragenpullover trägt, der ans Stereotyp des genialischen Künstlers aus den Beatnik-Zeiten erinnert. Doch dann steht Raymond plötzlich auf, wodurch seine biedere Bundfaltenhose und schwarze Kniestrümpfe mit braunen Schuhen sichtbar werden, was bei diesem Firmenschurken so abrupt und unerwartet ist, dass es einen wirkungsvollen komödiantischen Effekt erzielt.
Diese Szene ähnelt sehr dem Ende von „Poor Things“, als Bella beginnt, Medizin zu studieren. Sie trägt ihr bisher ernstestes Kostüm; zum ersten Mal ist sie ganz in Schwarz gekleidet und passt perfekt zu den anderen Studenten im Auditorium. Zumindest so lange, bis sie aufsteht und ihren Minirock und ihre hohen Socken freigibt. In Bellas Fall zeigt diese plötzliche Enthüllung, dass sie sich zwar zu einer kultivierten jungen Frau entwickelt hat, ohne dass darüber aber ihre Marotte verschwunden wäre, auf Bein- und Bewegungsfreiheit zu setzen. Reifung bedeutet eben nicht Konformität!
Ein weiterer visueller Gag, den Willem Dafoe
in „Kinds of Kindness“ herrlich nonchalant präsentiert, ist die infam
orangefarbene Speedo-Badehose im dritten Teil. Der allmächtige-manipulative
Sektenguru tritt in der lustigsten aller Badehosen auf. In den Outfits seiner
Sektenmitglieder Emily (Emma Stone) und Andrew (Jesse Plemons), den
Hauptfiguren der Episode, findet sich zudem ein skurriles Echo des
Badeklamotten-Looks: Zu ihren Anzügen tragen die beiden, denkbar unpassend,
Wassersandalen. Die Kostümdesignerin erklärte in einem Interview: „Sie sind so
sehr in ihrer Sekte verwurzelt, dass sie es auch als Unternehmer nicht
schaffen, sich ganz in der Gesellschaft zurechtzufinden; das drückt sich in den
Wassersandalen aus.“
Wie Kleider getragen werden
Nochmals zurück zum ersten Teil rund um den Geschäftsmann Raymond, der seine Angestellten/Liebhaber gnadenlos dominiert und bis in ihren Kleidungsstil kontrolliert. Raymonds Stilempfinden ist von dem Magnaten Gianni Agnelli mit seinem berühmten Sprezzatura-Stil inspiriert, einer gewissen Eleganz, die mit scheinbar mühelosen Elementen perfektioniert wird. Raymonds feine italienische Anzüge werden mit großen Krawatten mit lockeren Knoten im Stil der 70er Jahre gepaart, was jedoch nicht bedeutet, dass er mit der Mode nicht Schritt halten kann. Es zeugt von einem starken Selbstbewusstsein und einer subtilen Exzentrik, die zu dieser Figur passt, die Menschen nicht mal zu seinem Vorteil kontrolliert, sondern nur zu seinem Vergnügen.
Neben Robert (Jesse Plemons) ist vor allem eine junge Frau namens Vivian (Margaret Qualley) Gegenstand von Raymonds Herrschsucht. Beide reagieren sehr unterschiedlich auf ihre Rolle als Objekt. Während Robert sich in den feinen Anzügen und den engen, bunten Rollkragenpullovern, die Raymond ihm aufzwingt, sichtlich unwohl zu fühlen scheint, trägt Vivian ihre seidig-dünnen, Ultramini-Kleider offenbar mit lässiger Selbstverständlichkeit. Durch die Art und Weise, wie die Schauspieler ihre jeweiligen Kostüme tragen, entsteht eine merkliche Dissonanz zwischen den beiden Figuren, obwohl ihre Position sehr ähnlich ist. Das wirft ein interessantes Thema auf: Beide werden von Raymond objektiviert – aber ist das auch in beiden Fällen ein Missbrauch, eine toxische Beziehungskonstellation? Welche Rolle spielt dabei der „consent“, die Freiwilligkeit? Kann es eine solche in so krassen Abhängigkeitsverhältnissen überhaupt geben? Dies ist eine der konfliktreichen Fragen über Machtspiele und Manipulation, die den ganzen Film bestimmen.
Sowohl „Poor Things“ als auch „Kinds of Kindness“ sind beeindruckende Mischungen aus einzigartigen visuellen Fantasien, seltsamem Humor, provokanten Themen und widersprüchlichen Gefühlen. Neben dem Schauspiel und dem Drehbuch tragen dazu auch die Kostüme und die Art, wie mit ihnen gespielt wird, das ihre dazu bei.
Die mit einem „Oscar“ geehrte Arbeit von Holly Waddington für „Poor Things“ fällt dabei schneller ins Auge, schließlich ist der Film als Historienstoff mit seinen Gigot-Ärmeln, Korsetts und langen Röcken das, was man als waschechten „Kostümfilm“ bezeichnet. Aber auch die von Jennifer Johnson entworfenen Kostüme für „Kinds of Kindness“ glänzen durch ihre Durchdachtheit, ihren Anspielungsreichtum und dem, was sie visuell zur Ausgestaltung der Figuren leisten. Mit ihrer detaillierten Charakterisierung gelingt es Johnson, die Vielzahl an Personen, die diesen Episodenfilm bevölkert, zu definieren, noch bevor die jeweiligen Figuren irgendetwas sagen. Obwohl beide Filme oft ins Satirisch-Karikierende spielen, werden alle Figuren zu echten Menschen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten.
Es wird bunter
Die Filme von Lanthimos sind in den letzten Jahren im Vergleich zu seinen vorherigen Filmen „The Favourite“ (2018), „The Killing of a Sacred Deer“ (2017) und „The Lobster“ (2015) fantastischer und bunter geworden. Für seinen kommenden Film „Bugonia“ (2025) will Lanthimos wieder mit Emma Stone und Jesse Plemons zusammenarbeiten, doch eine Kostümbildnerin ist noch nicht bestätigt. Es hat für Lanthimos anscheinend schon Tradition, für diesen Job stets einen neuen Profi zu finden. Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, wer das neue Gesicht des Surrealismus erschaffen wird!
Literaturhinweise
- Jennifer Johnsons Kostümdesign für „Kinds of Kindness“
- Macht und Kontrolle in der Kleidung in „Kinds of Kindness“