© RTL+/Viacom International (Samuel Benito in "Zeit Verbrechen - Dezember")

Extreme Herausforderung - Jorgo Narjes über „Zeit Verbrechen“

Ein Interview mit dem Produzenten Jorgo Narjes über die Anthologie-Serie „Zeit Verbrechen“, die nach vielen Schwierigkeiten jetzt bei RTL+ gestreamt werden kann

Veröffentlicht am
28. November 2024
Diskussion

Um die vierteilige Anthologie-Serie „Zeit Verbrechen“ hat es in den letzten Monaten viel Aufsehen gegeben. Nach ihrer gefeierten Premiere bei der Berlinale versanken die jeweils rund einstündigen Filme im Nirwana, als Paramount+ seine europäischen Aktivitäten einstellte. Jetzt sind die vier „True Crime“-Filme als Streaming bei RTL+ zu sehen. Ein Gespräch mit dem Produzenten Jorgo Narjes über die Schwierigkeiten und Wagnisse einer unkonventionellen Adaption.


Bei „True Crime“-Filmen stellt sich immer die Frage: Was davon ist wahr? Wie haben Sie diese Stoffe aus dem „Die Zeit“-Podcast „Verbrechen“ bearbeitet? Gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Vorlagen und den filmischen Adaptionen?

Jorgo Narjes: Das war die Grundidee, dass wir alle ein Problem haben mit dem Wahrheitsanspruch dieses Genres. Ich finde es ziemlich vermessen, wenn Filmemacher behaupten: „Das war so!“ Der Wahrheitsanspruch des „True-Crime“-Formats ist problematisch. Schon die journalistische Recherche bedingt ja einen speziellen Blick auf einen Fall, sie trifft immer eine Auswahl. Bei der Umsetzung der Podcasts ist uns noch viel deutlicher geworden, wie problematisch dieses „true“ in „True Crime“ ist. In diesem Rahmen begannen wir unsere Filme zu entwickeln. Das ermöglichte aber auch eine ganz andere Freiheit. Unser Credo war, dass wir filmisch davon erzählen, was für uns die entscheidende Komponente eines Falls ist. Was den Kern einer Geschichte ausmacht. Manche Details der Geschichten, Fakten, die aus den Akten hervorgingen, konnten nicht im Stil einer vermeintlichen Realität 1:1 nachinszeniert werden.

Wie kam es zur Auswahl dieser formal und inhaltlich so unterschiedlichen Episoden? Und warum wollten sie das als Anthologie zeigen und nicht einfach nur als vier Filme?

Jorgo Narjes: Das Anthologie-Format hat in Deutschland keine große Tradition. Es bot sich jedoch deshalb an, weil der Podcast sehr vielfältig ist. Jede Geschichte hat ein eigenes Genre, eine eigene Tonalität, und funktioniert nach eigenen Regeln. Als es um die Umsetzung ging, stellte sich schon die Frage nach einem gemeinsamen Nenner. Den könnte man künstlich setzen, aber ich hätte dabei das Gefühl gehabt, nur das zu machen, was alle im deutschen Fernsehen machen. Man kann dem Publikum durchaus zutrauen, sich in jeder Folge auf neue Figuren und eine neue Erzählung einzulassen. Ich würde den Zuschauer:innen aber nicht empfehlen, das einfach hintereinander „wegzubingen“. Diese Filme stehen für sich und werden nur durch eine Klammer zusammengehalten.


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Man hätte aber ja auch wie im „Dekalog“ von Kieslowski einige Protagonisten auch als Nebenfiguren in den anderen Filmen wieder auftauchen lassen können.

Jorgo Narjes: Wir haben uns schon damit beschäftigt, ob sich verbindende Elemente finden lassen. Aber es zeigt sich, dass es schwer wäre, solche Querverbindungen zu etablieren, da die vier Geschichten grundunterschiedlich sind. Dieses Thema stand für mich eher an zweiter Stelle. Die wichtigere Frage war: Wer setzt das um? Wer bringt einen neuen Blick auf das Genre mit?

Was war Ihre Rolle als Produzent? Wie kamen Sie auf diese Geschichten und wann sind X-Filme und Paramount+ als Auftraggeber eingestiegen?

Jorgo Narjes: Es fing damit an, dass mir der Podcast empfohlen wurde, und ich das filmische Potenzial erkannte. Ich arbeite als Produzent für X-Filme und habe das Projekt dann intern vorgestellt. Das stieß sofort auf positive Reaktionen, weil wir uns das als Autorenfilme vorstellen konnten. Zusammen mit Uwe Schott, dem Geschäftsführer von X-Filme, bin ich dann an „Die Zeit“ herangetreten. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich aber auch schon mehr als 30 andere Interessenten bei der „Zeit“ gemeldet, da der Podcast in den Jahren 2019/2020 wahnsinnig populär wurde. Mein Ansatz bestand darin, die eigenständigen Werke durch nichts anderes als die Klammer „Zeit Verbrechen“ zusammenzuhalten. Das fanden sie bei der „Zeit“ gut. Sie wussten, dass der Podcast vor allem junge Zuhörer:innen Ende 20, Anfang 30 ansprach. Daher gefiel die Idee, diese vier Episoden von jungen Regie-Stimmen umzusetzen. Mit der „Zeit“ im Rücken traten wir dann an Paramount+ heran.

Livia Wilson in "Zeit Verbrechen - Deine Brüder" (RTL+)
Lavinia Wilson in "Zeit Verbrechen - Deine Brüder" (© RTL+)

Diese vier Episoden sind sehr filmisch und können auf der großen Leinwand bestehen. Spielte es eine Rolle, ob man das „Serie“ oder „Filme“ nennt? Wie wichtig war der Kino-Look und die Nähe zum Autorenfilm?

Jorgo Narjes: Der andere Look ist die Konsequenz daraus, wer inszeniert. Es ging mir primär darum, wer einen frischen, interessanten Blick auf dieses Genre eröffnet. Was kann heutzutage „Crime“ sein? Wie weit lässt sich dieser Begriff ausdehnen? Deswegen fiel die Wahl auf Mariko Minoguchi, Helene Hegemann, Faraz Shariat und Jan Bonny, weil die in ihren bisherigen Werken eine je eigene Perspektive verfolgt haben. Das hat dann zur Folge, dass sich die vier „Zeit Verbrechen“-Filme jeweils anders anfühlen. Alle vier bringen eine andere Ästhetik und einen anderen Umgang mit Schauspielern mit. Für mich ist es eine Serie, aber eine, die anders funktioniert. Es wandeln sich ja auch Sehgewohnheiten. Das muss sich als Format mehr etablieren. Die Serie „Black Mirror“ wäre dafür ein gutes Beispiel. Und da diese vier Filme die Realität ja auch interpretieren, haben wir auch vier Dokus gedreht, die einen auf den Boden der Tatsachen zurückholen und zwischen den Filmen und den Podcasts vermitteln.

Wie kam es konkret zur Auswahl der vier Filmemacher:innen?

Jorgo Narjes: Das sind vier, die ich spannend finde und mit denen ich unbedingt zusammenarbeiten wollte. Ich verfolge ihre Arbeit schon länger und war mir sicher, dass sie etwas Interessantes miteinbringen würden. Als erstes habe ich Mariko Minoguchi angesprochen, weil mich ihr Debütfilm „Mein Ende. Dein Anfang“ so beeindruckt hatte. Danach sprach ich dann Helene Hegemann, Faraz Shariat und Jan Bonny an.

Gab es ein gemeinsames Treffen mit allen vieren, auch wenn die einzelnen Filme separat inszeniert wurden?

Jorgo Narjes: Es gab Treffen, schon für die Stoffauswahl. Interessanterweise hat sich niemand für dieselbe Geschichte interessiert, weil die vier so unterschiedlich sind.

Gab es von Ihrer Seite aus eine Vorgabe?

Jorgo Narjes: Es gab eine Shortlist. Ich habe alle Folgen mehrfach gehört und das dann pro Person heruntergebrochen.

Wie viele Folgen des Podcast gibt es denn insgesamt?

Jorgo Narjes: Damals gab es 130; jetzt sind es über 200. Ich muss gestehen, dass ich die letzten Folgen nicht mehr gehört habe, denn das ist durchaus belastend. Der Rest war wie ein Ping-Pong-Spiel: Was fühlt sich am besten an, wozu gibt es eine Idee? Um meinen Grundansatz ernst zu nehmen, mussten alle vier selbst entscheiden, welche Geschichte für sie die richtige ist.

Lars Eidinger in "Zeit Verbrechen - Der Panther" (RTL+)
Lars Eidinger in "Zeit Verbrechen - Der Panther" (© RTL+)


Zurück zur Produktion. Wie kam Paramount ins Spiel?

Jorgo Narjes: Es ist üblich, dass man mit verschiedenen Anbietern oder Sendern spricht. Paramount+ verstand unseren Ansatz am besten. Sie mochten den Anthologie-Charakter und die Marke „Zeit Verbrechen“. Wir sind mit dem ganzen Paket, also auch schon mit den Kreativen, auf die Suche gegangen. Paramount+ gab uns sehr schnell das „Go“, für die vier Filme und für die vier Dokus.

So viel zur positiven Geschichte mit Paramount. Dann aber kam der Knall. Was können Sie dazu sagen?

Jorgo Narjes: Es lagen nur wenige Wochen zwischen der Entscheidung, dass wir mit der Serie auf der Berlinale Premiere feiern, und der Entscheidung, dass Paramount sie nicht mehr auf der eigenen Streamingplattform zeigen würde. Das war für alle Beteiligten sehr hart. Im Rückblick zeigt sich, dass die Berlinale sehr wichtig war, weil jetzt alle wussten: Die Serie ist da. Sie existiert. Es war aber auch für das Paramount+-Team sehr frustrierend, weil sie ja auch einige Jahre an der Serie gearbeitet hatten. Es war eine Entscheidung von oben. Man liest ja viel über strukturelle Veränderungen.

Es ist eine Sache, wenn der Mutterkonzern in Hollywood auf die Kosten schaut und sich entschließt, keine nationalen Eigenproduktionen mehr zu produzieren. Aber etwas, wofür man Geld ausgegeben hat, das fertig ist, dann nicht mehr zu zeigen, weil man keine falschen Signale aussenden will, ist nicht mehr nachvollziehbar. Es traf ja nicht nur deutsche Eigenproduktionen, sondern auch italienische. Was steckt hinter dieser Politik?

Jorgo Narjes: Das ist auch für mich das Unverständlichste an dieser Entscheidung. Die Filme lagen ja digital vor, es hätte sozusagen nur eines Klicks bedurft, um sie online zu stellen. Klar, man will das natürlich begleiten und Pressearbeit machen. So entstehen Marketingkosten und man hätte nochmal Geld in die Hand nehmen müssen. Das ist vielleicht die Logik hinter dieser Entscheidung. Dennoch stieß das bei uns auf komplettes Unverständnis.

Wer ist in diesem Fall der Rechteinhaber?

Jorgo Narjes: Paramount. Sie haben uns immer auf dem Laufenden gehalten, wie es dann seit Februar nach den Berlinale-Premieren weiterging. Es gab ja ein großes Interesse, auch wegen der vielen Preise. Ich bin sehr froh, dass wir Ende August mit RTL+ ein neues Zuhause für die Filme gefunden haben.

Aber eine lineare Ausstrahlung im Fernsehen ist nicht geplant?

Jorgo Narjes: Nein, aber auch weil die vier Filme unterschiedlich lang sind.

Die einzelnen Filme sind teilweise sehr hart und brechen mit Sehgewohnheiten. Ich gebe Ihnen Recht, dass man das nicht hintereinander wegschauen kann. Man muss zwischendurch durchatmen. Ist das deutsche Publikum für diese Anthologie bereit?

Jorgo Narjes: Ich glaube schon. Für uns war klar, dass diese Filme auch unbequem sein müssen und nicht nach gängigen Regeln funktionieren können, wo nach sechzig Minuten die Welt wieder in Ordnung ist. Wir wollten auch, dass einen die Filme nicht mehr loslassen. Ein Beispiel dafür sind die zehn Minuten in „Dezember, in denen der Protagonist alleine auf der Straße durch die Nacht irrt. Das durfte keine Sekunde kürzer sein, wenn wir unsere Integrität nicht verraten wollten. Das ist schwer zu ertragen, aber es geht ja um einen 18-jährigen Jungen, der überfahren wurde. Alles andere würde dem nicht gerecht werden. Da spielen durchaus auch moralisch-ethische Überlegungen mit herein, etwa wie man Opfern gegenübertritt. Ich glaube schon, dass das Publikum dafür bereit ist. Durch die veränderten Sehgewohnheiten gibt es eine Offenheit für dieses Format. Man sollte das Publikum nicht unterschätzen. Ich will als Zuschauer ja auch herausgefordert werden. Und es ist völlig in Ordnung, wenn man mit einer Episode mehr anfangen kann als mit einer anderen, eben weil sie ästhetisch so unterschiedlich sind.

Jule Hermann in "Zeit Verbrechen - Dezember" (RTL+)
Jule Hermann in "Zeit Verbrechen - Dezember" (© RTL+)


Viele werden sich schon fragen, wie es sein kann, dass in „Deine Brüder“ die besten Freunde einen der ihren so brutal ermorden. Oder dass in „Dezember“ dem Jungen niemand hilft. Wie nahe bleiben diese Episoden an der Vorlage? Haben sie sich da besonders viele künstlerische Freiheiten genommen?

Jorgo Narjes: „Deine Brüder“ und „Dezember“ sind die beiden Folgen, die am nächsten an der Realität sind. Das ist sehr gut dokumentiert, auch die Sätze der beiden Polizisten, die sagen: „Ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten und das ist Mickey Mouse.“ Da ist man fassungslos. Gerade bei diesen beiden Folgen gab es viele Reaktionen; viele konnten das gar nicht glauben. Bei „Der Panther“ war alles noch viel absurder. Die reale Geschichte dieses V-Manns ist noch düsterer. Der reale Mann ist auch der größte Lügner von allen. Daher kann man ihm auch nicht trauen und sich mehr Freiheiten nehmen.

Die Goldenen Jahre des Streamings sind vorbei. Nicht nur Paramount hat sich aus Europa zurückgezogen, sondern auch Sky oder HBO Europe. Hinzu kommt das Überangebot. Worin liegt für sie als Produzent die Bedeutung von Serien? X-Filme hat ja mit „Babylon Berlin“ hier schon Geschichte geschrieben.

Jorgo Narjes: Der Boom hat sich gewandelt. Weltweit wird deutlich mehr Konfektionsware hergestellt. Man muss deshalb andere Wege suchen. Mit „Zeit Verbrechen“ haben wir versucht, etwas Neues zu wagen. Serien können ja auch anders funktionieren. Ich glaube, dass es noch viele Freiheiten in der Serienwelt gibt, auch wenn es eine andere Zeit ist als während der Corona-Pandemie. Es ist schwieriger, aufzufallen. Das kann man nur, wenn man radikaler wird. Viele der Kreativen haben wieder mehr Lust auf Kino. Ich verstehe, woher das kommt. Es gibt eine größere Unsicherheit. Dass wie im Fall von „Zeit Verbrechen“ die Gefahr besteht, dass eine Serie nicht herauskommt, konnte man allerdings nicht antizipieren. Als Produzent entwickle ich mit allen vier Regisseuren von „Zeit Verbrechen“ gerade Anschlussprojekte fürs Kino.

Sandra Hüller in "Zeit Verbrechen - Love by Proxy" (RTL+)
Sandra Hüller in "Zeit Verbrechen - Love by Proxy" (© RTL+)


Hinweis

Die vier rund einstündigen Beiträge der „True Crime“-Anthologie „Zeit Verbrechen“ sind ab 6. November bei RTL+ im Streaming zu sehen. Dabei handelt es sich um die Filme „Dezember“ von Mariko Minoguchi, „Der Panther“ von Jan Bonny, „Deine Brüder“ von Helene Hegemann sowie „Love by Proxy“ von Faraz Shariat. Bei RTL+ stehen ebenfalls die vier Dokumentation sowie die jeweiligen Folgen des zugrundeliegenden Podcasts zu Verfügung.

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