© Horst von Harbou, Quelle: Filmmuseum Berlin – Stiftung Deutsche Kinemathek (Fritz Lang stößt beim Dreh von „Metropolis“ die „entfesselte Kamera“ von Karl Freund (hinter ihm mit Hut) an)

Ohne Bewegung ist alles nichts

Das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt zeigt von April 2025 bis Februar 2026 die Sonderausstellung „Entfesselte Bilder“

Veröffentlicht am
07.04.2025 - 13:47:44
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Schon im frühen 20. Jahrhundert befreite sich das Kino von den starren Bildern seiner ersten Jahre, erfand die Kamerabewegung und in den 1920ern die „entfesselte Kamera“. Und bald setzten Filmemacher ihren Ehrgeiz darein, Kamerabewegungen auszureizen und lange Plansequenzen auszutüfteln. Eine Ausstellung im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt widmet sich von der Erfindung bis in die Gegenwart hinein diesem effektvollen Stilmittel, das durch technische Entwicklungen und inszenatorische Raffinesse immer mehr verfeinert wurde und heute schier keine Grenzen mehr kennt.


Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der stolze, aber alt gewordene Portier des Luxushotels „Atlantic“ genügt den Anforderungen nicht mehr und wird zum Aufpasser der Herrentoilette degradiert. Zu Hause, in seinem proletarischen Milieu, verschweigt er beschämt seine neue Position. Kameramann Karl Freund (mit Assistent Robert Baberske) versetzt Friedrich Wilhelm Murnaus Kammerspielopus „Der letzte Mann (1924) dank einer mobilen, omnipräsenten Aufnahmeapparatur in einen wahren Bewegungsrausch. Die Kamera, der leichte „Stachow-Filmer“, fliegt – aller statischer Fesseln entledigt – auf Leitern, auf Seilen, auf Schienen oder vor die Brust geschnallt durch Raum und Zeit.

In der Eingangssequenz vom „letzten Mann“, einer Kamerafahrt, gleitet die auf ein Fahrrad gestellte Kamera im gläsernen Fahrstuhl in die Hotellobby hinunter, durchquert elegant die von mondänen Gästen und beflissenen livrierten Bediensteten wimmelnde Halle bis zur Drehtür, um nach einem Zwischenschnitt, nach draußen, vor das Hotelportal zu gelangen.

Entfesselte Bilder“ heißt die neue, sehenswerte Sonderausstellung des Frankfurter Filmmuseums am Schaumainkai. Gewidmet ist sie als Projektionsschau einem der interessantesten filmtechnischen Stilmittel: der Plansequenz. Diese bezeichnet die virtuose Kunst, mit einer langen und ungeschnittenen Einstellung nichts weniger als die Entdeckung der Welt mit anderen Augen zu ermöglichen. Es ist ein guter Einstieg, dass im Museumsfoyer unter anderem ein Nachbau des legendären Stachow-Filmers und eine „Super Parvo“-Kamera der Firma Debrie inklusive Schienenbogen zu sehen sind. Drinnen im dunklen Ausstellungsraum empfängt den Besucher auf Monitoren und Leinwänden ein wahrer Reigen von Filmausschnitten.

Ausstellungsansicht „Entfesselte Bilder“ (© DFF/Uwe Dettmar)
Ausstellungsansicht „Entfesselte Bilder“ (© DFF/Uwe Dettmar)

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Die Plansequenz in zehn Kapiteln

Kurator Michael Kinzer wählt für die Präsentation bewusst ein „Labyrinth aus Projektionen und Monitoren“ – von den Anfängen der Filmgeschichte bis zur Gegenwart. Mit seinem Team will er „Filmausschnitte in Kontexte setzen, mit einem ästhetisch-stilistischen Fokus Räume schaffen und Emotionen wecken“. In zehn Kapiteln lassen erzählerische Meilensteine entscheidende Entwicklungsstationen der Plansequenz Revue passieren, die Eingang in den Kanon der Filmgeschichtsschreibung gefunden haben. Mit dem Anspruch, als eigenständige Kunstform zu gelten, entwickelte die Etablierung einer medienspezifischen Filmsprache eine Schule des Sehens. Die von der Stadt Frankfurt und der Dr. Marschner Stiftung unterstützte Ausstellung ist bis 1. Februar 2026 in Frankfurt zu sehen. Eine Filmreihe und diverse Podcasts komplettieren das Angebot.

Die künstlerische Explosion des expressionistischen (deutschen) Stummfilms in den 1920er-Jahren favorisiert – vergleichbar den Intentionen des Epischen Theaters – die Integration des Publikums ins Geschehen, die Emanzipation von der vierten Wand. Schon in den Drehbüchern von Carl Mayer sind das Spiel mit der Unheimlichkeit des Blicks, die atemberaubende Geschwindigkeit, der stakkatohafte Bilderrhythmus vorgezeichnet. Die unaufhaltsame Entfesselung der Kamera führt weg von der Passivität des Theaters, hin zu einem selbstbewussten, aktiven Perspektivwechsel. So entsteht eine ungeahnte Lebendigkeit, eine Partizipation des Sehens und auch eine akustische Kadenz, denn wenn die Augen anders sehen lernen, müssen auch die Ohren die neuen Angebote der Wahrnehmung aufnehmen. „Der letzte Mann“ zeigt diese Dualität in der bekannten Sequenz des „fliegenden Trompetentons“, wenn die auf einen Fahrkorb montierte Kamera vom Ohr des Portiers bis zur Trompetenöffnung gleitet.

Akribische Planung beim Dreh von Fritz Langs „M“ (1931) (© Horst von Harbou, Quelle: Filmmuseum Berlin – Stiftung Deutsche Kinemathek)
Akribische Planung bei Langs „M“ (© Horst von Harbou/Filmmuseum Berlin – Stift. Dt. Kinemathek)


Virtuosität und Effekthascherei

Die Choreographie der mobilen Kamera pendelt für Kurator Kinzer zwischen „Virtuosität und Effekthascherei“. Und sie hat in der Tat etwas „Musikalisches und Tänzerisches“, denn Karl Freund lässt sie in E.A. Duponts Eifersuchtsdrama „Varieté (1925) verführerisch mit dem Trapez schwingen. Da ist der Weg zur französischen Nouvelle Vague und zu ihrem Mitbegründer Jean-Luc Godard nicht mehr weit. Bot ihm doch die kleine, innovative Handkamera beim Dreh auf den Champs-Élysées zu „Außer Atem“ kurze Drehzeiten, ökonomisches Arbeiten im kleinen Team. „Film, das ist die Wahrheit 24-mal pro Sekunde, und jeder Schnitt ist eine Lüge“, proklamierte er folgerichtig.

Die entfesselte Kamera vermittelt die Ahnung von einer neuen Zeit, ohne dass man sie sofort in allen Dimensionen versteht, sondern zunächst nur unterbewusst, wie ein Bauchgefühl rezipiert. Sie weitet und verengt den filmischen Raum, ja, schärft unsere Sinne und involviert den Zuschauer als Komplizen in die Handlung, öffnet das Fenster zu einer anderen Welt. Die Faszination des Lichts, die Schattenwirkungen in Raum und Zeit, sie befreien den Menschen wie das Verständnis von Kunst schlagartig von scheinbar unveränderbaren gesellschaftlichen wie sozialen Rahmenbedingungen.

Vorläufer für die Ablösung des traditionell abgefilmten Theaterbildes finden sich selbst in den frühen Jahren der Kinematographie. Ohne Variation der Einstellungsgrößen und Handlungsorte experimentierte man mit Fahrtaufnahmen oder Überblendungen. Dokumentarische Impressionen von einer Gondelfahrt auf dem Canal Grande in Venedig von 1898, Auto- und Busfahrten durch die Berliner Friedrichstraße oder beliebte Eisenbahnfahrten muten heute fast schon wieder modern an. Wenig später zelebrierte das Spielfilmgenre die filmtechnische Revolution mit aufwendigen Monumentalfilmen wie „Cabiria“ (1914) des Italieners Giovanni Pastrone, D.W. Griffiths „Intoleranz (1916) oder „Napoléon“ (1927) von Abel Gance.

In einer Einstellung gedreht: „Victoria“ (2015) (© DFF-Bildarchiv/Missing Link Films)
In einer Einstellung gedreht: „Victoria“ (2015) (© DFF-Bildarchiv/Missing Link Films)


Begeisterung für lange Einstellungen

Beispiele für eine filmdramaturgisch anspruchsvoll umgesetzte Regie- und Kameraarbeit liefert auch Alfred Hitchcocks Thriller „Cocktail für eine Leiche“, in dem es dem Technikfreak 1948 erstmalig gelang, das Figurenensemble mit seiner Handlung ohne Schnitt, ohne Unterbrechung zu konfigurieren. Fortgesetzt wurde diese Begeisterung für lange Einstellungen ein Jahr später im farbigen Historienfilm „Sklavin des Herzens“. Orson Welles gebührt das Verdienst, in seinem Klassiker „Citizen Kane 1941 außer der ungeschnittenen Sequenzeinstellung auch die Bedeutung der Tiefenschärfe, der ambivalenten Gestaltung des Bildvorder- und Bildhintergrunds vervollkommnet zu haben. Seine beeindruckende Interpretation der inneren Montage inspirierte viele Regisseure weltweit. 1958, in der Exposition von „Im Zeichen des Bösen“, inszenierte Welles eine spektakuläre dreiminütige Plansequenz: Von der Platzierung der Autobombe im Kofferraum über den Panoramablick auf ein frischvermähltes Paar an der mexikanischen Grenze führt die Kamerafahrt zurück auf das explodierende Fahrzeug.

Konsequenterweise ruft die Frankfurter Schau viele Kinoerinnerungen wieder ins Gedächtnis: „Beruf: Reporter (1975) von Michelangelo Antonioni etwa, Stanley Kubricks Einsatz der um den Körper geschnallten Steadicam in „Shining“ (1980), der jahrelang indizierte Horrorfilm „Tanz der Teufel“ (1981) oder Michael Ballhaus’ furiose Klubszene aus Martin Scorseses Mafiafilm „Goodfellas“ (1990). Nicht zu vergessen: Brian De Palmas variationsreiche Plansequenzen („Spiel auf Zeit“, 1998), die Schnitte nahezu unsichtbar versteckten. Ironisch-elegant kommentiert Robert Altmans bissige Hollywood-Satire „The Player von 1992 Realität und Mythos der langen Einstellung, indem er während einer achtminütigen Sequenz zwei Filmstudioangestellte über das Thema und über „Im Zeichen des Bösen“ sprechen lässt.

Auch der Unterwelt-Thriller „Limbo“ beschreitet in der Kameraarbeit ehrgeizige Wege (© Nordpolaris)
Auch der Unterwelt-Thriller „Limbo“ beschreitet in der Kameraarbeit ehrgeizige Wege (© Nordpolaris)

Als förmlich besessen von der Authentizität der langen, ungeschnittenen Einstellung und der konsequenten Ablehnung der Montage galt der (heute weitgehend vergessene) ungarische Regisseur Miklós Jancsó. Eine ähnliche Strategie propagierte der große russische Mystiker Andrej Tarkowski, der in langsam entstehenden Bildkompositionen das Phänomen der verschwindenden, der verlorenen, der versiegelten Zeit einfangen will. Stellvertretend für den Einsatz der entschleunigten, kontemplativen Plansequenz stellt man in Frankfurt zu Recht auch den Griechen Theo Angelopoulos vor. Traumwandlerisch verbinden ausgeklügelte Schwenks, Dolly- und Kranfahrten in seinem filmischen Kosmos unterschiedliche Zeitebenen und Handlungsorte, verweisen durch die Interdependenz und Gleichzeitigkeit historischer Ereignisse über Generationen hinweg zurück auf die Gegenwart.


Praktisch keine Grenzen mehr gesetzt

Mit der digitalen Revolution und einer fast unbegrenzten Speicherkapazität wurden künstlerische Träume von der Realisierung eines komplett ungeschnittenen (Spiel-)Films wahr. Kameramann Tilman Büttner „fotografierte“ Alexander Sokurows „Russian Ark (2002), eine Zeitreise durch die Moskauer Eremitage, im sogenannten One-Shot-Verfahren auf Festplatte, unterstützt von einem achtköpfigen Team an einem einzigen Tag! Heute sind der (Nach-)Bearbeitung am Hochleistungscomputer praktisch keine Grenzen mehr gesetzt. Jede Form von Manipulation ist möglich.


Hinweise

Deutsches Filmmuseum Frankfurt: Entfesselte Bilder. Bis 1. Februar 2026. Geöffnet: Di-So 11-18 Uhr.

Eine Filmreihe mit Filmgesprächen und Vorträgen im Kino des DFF sowie in der Caligari FilmBühne in Wiesbaden ergänzt die Ausstellung.

Im DFF-Podcast „Alles ist Film“ geht Kurator Michael Kinzer näher auf einzelne Themenbereiche der Ausstellung ein.

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