Crista Alfaiate in "Grand Tour" (© MUBI)

Über die Logik des Kinos - Miguel Gomes und „Grand Tour“

Aktuell beim Streamingdienst MUBI zu entdecken: Miguel Gomes’ wunderlicher Reisefilm „Grand Tour“, für den der Regisseur in Cannes 2024 mit dem Regiepreis geehrt wurde

Aktualisiert am
07.05.2025 - 11:06:08
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Anlässlich der 78. Filmfestspiele in Cannes (13.5.-24.5.) präsentiert der Arthouse-Streamingdienst MUBI eine Filmreihe mit Highlights aus dem Festival-Jahrgang 2024. Mit dabei ist auch der Film, dessen Schöpfer mit einer „Silbernen Palme“ für die beste Regie geehrt wurde: „Grand Tour“, inszeniert von dem Portugiesen Miguel Gomes. Ein vielschichtiger Reisefilm rund um einen Briten der Kolonialzeit, der vor einer Heirat, seinen Verpflichtungen und vor sich selbst flieht und von seiner Verlobten quer durch Asien verfolgt wird.



Dort wo Licht scheint, legt sich bald ein Schatten über die Augen von Edward Abbot. Die Höhlen laufen einfach voll mit Schatten, als würde sich ein Becken mit flüssiger Schwärze füllen. Der britische Kolonialbeamte (gespielt von Gonçalo Waddington) ist auf der Flucht vor seinen Verpflichtungen, dem Stillstand, der Liebe, der Ehe, der Einsamkeit und vor allem vor sich selbst. Er steht immer im Weg, im Regen oder etwas verloren in der Gegend herum, und wer ihn beobachtet, merkt schnell, dass die Welt so wenig für ihn gemacht ist wie er für sie. Als sich am 4. Januar 1917 das Schiff seiner Verlobten Molly (Crista Alfaiate) am Horizont abzeichnet, flieht er überstürzt, mit kaum mehr als der Kleidung an seinem Körper. Zuerst nach Rangun, später wird es ihn nach Singapur, Bangkok, Saigon, Manila und Osaka verschlagen. Doch all diese Orte sind vor allem eine Tapete für seine Melancholie. Auf seiner Reise durch die Welt kommt er keinen Schritt voran.


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An der Welt vorbeitreiben

Der Titel „Grand Tour“ prangt also wie Spott über den Ereignissen des sechsten Langfilms von Miguel Gomes, der beim Filmfestival in Cannes 2024 dafür mit dem Preis für die beste Regie geehrt wurde. Der Begriff „Grand Tour“ bezeichnet die umfangreichen Bildungsreisen, die Sprösslinge des Adels und des gehobenen Bürgertums seit der Renaissance unternahmen. Bildungsreisen, bei denen die jungen Männer an der Vielfalt von Kontinentaleuropa reifen sollten. Doch Edward lernt nicht, sondern treibt an der Welt vorbei, ohne je wirklich Halt zu finden. Es ist ein Film über das Verlorensein an schönen Orten, die jeden reichhaltig beschenken könnten, würde man nur seine Hand nach ihren Schätzen ausstrecken.

Ein Film über das Verlorensein: "Grand Tour" (© MUBI)
Ein Film über das Verlorensein: "Grand Tour" (© MUBI)

Interessant ist die Struktur des Films. In der ersten Hälfte wird Edward bei seiner „Grande Fuite“ begleitet. Zuletzt liegt er auf einer Waldlichtung und wird sanft von Blättern zugedeckt. Ein Schnitt, und wir sehen erstmals Molly. Sie wird von der geisterhaften Präsenz in Edwards Leben zu einer Frau aus Fleisch und Blut, der das Leben sanfte Lachfalten in die Wagen gekratzt hat. Sie besucht oftmals dieselben Schauplätze wie Edward und trifft dort dieselben Menschen, aber unter anderen Vorzeichen. Sie ist amüsiert, sie lacht viel. Oft auch über den ewig grübelnden, in sich selbst versunkenen Edward, der sich aller Macht zum Trotz so hilflos fühlt.


Ein Regisseur der Vielstimmigkeit

Gomes ist ein Regisseur der Vielstimmigkeit und der Registerwechsel, der spielerisch mit den Mitteln des Kinos hantiert. Seine Filme fransen aus, sind voll von leichten Verschiebungen und Reperspektivierungen. So werden etwa beide Reisen von einem Chor von Voiceover-Stimmen begleitet. Diese erklingen in der Landessprache der jeweiligen Nation, also in Birmanisch, Thai, Vietnamesisch, und so weiter. Das ist, viel eher als Edward oder Molly, die Erzählinstanz des Films: die Welt als gemeinsamer Traum der Menschen. Die Protagonisten sind keine zentralen Helden, sondern zwei Wesen unter vielen. So werden aus der Geschichte Geschichten und aus der Welt Welten.

Der Film hängt nicht starr an seinen Figuren, im Gegenteil: Oft genug zeigt das Bildmaterial nur die Orte, die sie gerade besuchen. Bei ihren Grands Tours sammelten historische Persönlichkeiten wie John Milton, Arthur Schopenhauer, Hector Berlioz oder Johann Wolfgang von Goethe oftmals Impressionen, die ihr Lebenswerk entscheidend prägten. Kataloge von Begegnungen und Bildern. Auch Gomes begab sich lange vor den eigentlichen Dreharbeiten mit seinem Team auf Kavaliersreise durch Asien. Dieses Dokumentar-Material wurde mit den schwarz-weißen Spielfilmszenen zum fertigen Film kombiniert.

Artwork zu "Grand Tour" (© MUBI)
Artwork zu "Grand Tour" (© MUBI)

So ist „Grand Tour“ nicht nur ein Montagefilm, sondern auch ein Film über Montage – über die Logik des Kinos, die mit der Macht des Schnitts disparate Räume zu einem großen Ganzen zusammenfügt. Ländereien willkürlich zusammenfügen, neue Zusammenhänge schaffen – ein Akt, der den Kolonialmächten nie fremd war. Seit seiner Murnau-Variation „Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld“ von 2012 ist die Bedeutung der Stummfilmzeit für Gomes’ Kino hinlänglich bekannt.

Seine Bilder träumen davon, dass vergangene Epochen mehr sind als eine unfertige Vorstufe der Gegenwart. Er verwendet Kreisblenden, als wäre noch die Zeit von Abel Gance und Robert Wiene. Und man erkennt die Sets der in Italien gedrehten Spielfilmszenen stets als solche. Auch wenn diese Bilder oft voll mit Menschen und Bewegungen sind, ist ihre Lebendigkeit eine ganz andere als die des dokumentarischen Materials.


Eine Sinfonie der Bilder

Man kann sehen, in welche Augenblicke sich Gomes auf seiner Reise verliebt hat. Affen im Schnee, Fischerboote und Bambusernte, Opernsänger zwischen Dunkelheit und Schlaglicht, proletarische Karaoke-Sänger. Puppentheater, Trommler, immer wieder Handwerker, Künstler und Tiere. Einmal bleibt die Kamera minutenlang bei den Bewegungen eines Kreisverkehrs und schaut den Tänzen des Verkehrs zu, der sich trennt und vereint wie die Läufe eines Flusses.

Ein Film, der begreift, dass all diese Länder mehr sind als die Fremden, die sie besuchen. Er begreift seine Bilder als große Sinfonie, in der einzelne Menschen nur eine leise Melodie sind. Am Anfang des 20. Jahrhunderts spürt der kleine Kolonialbeamte längst, dass die Ordnung der Dinge bald an ihm vorbeiziehen wird. Das britische Empire steht kurz vor seinem Höhe- und damit auch Kipp-Punkt, an dem es zu zerfallen beginnt. Die Sonne geht in diesem Reich niemals unter, und reicht doch nicht bis in die Untiefen von Edwards Gesicht. Sein Blick und seine Miene bleiben verfinstert, und auch Molly wird das Lachen irgendwann vergehen. Beide suchen einander und damit eine Heilung für ihren Schmerz, aber finden nirgendwo Linderung.

Findet keine Linderung: Die Hauptfigur in "Grand Tour" (© MUBI)
Findet keine Linderung: Die Hauptfigur in "Grand Tour" (© MUBI)

Miguel Gomes erzählt vom Scheitern aller verzweifelten Suchbewegungen, von Questen als Irrfahrten. Von der Unmöglichkeit, die Welt zu erobern, und sei es nur für sich selbst. Er glaubt nicht an die Zwangsläufigkeit der Vorwärtsbewegung, an eine bestimmte Form von Fortschritt und Eroberungsdrang. Sein Film ist schön, weil er die Dinge nicht katalogisieren und verwalten will, sondern sich an die verschwenderischen Reize der Welt verliert. Seine Helden gehen verloren – irgendwann, irgendwo – und wir werden sie nicht vermissen.


Hinweis

Grand Tour“ von Miguel Gomes ist seit 18. April beim Streamingdienst MUBI verfügbar. Der Film wird im Mai flankiert von weiteren Filmen aus dem Cannes-Jahrgang 2024 flankiert, etwa „Das Mädchen mit der Nadel“, „The Substance“ oder Motel Destino“. Mehr Infos dazu gibt es hier.

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