Christian Petzold und sein neuer Film „Miroirs No. 3“ werden in Cannes gefeiert. Auf der Suche nach größerer erzählerischer Einfachheit versetzt der deutsche Regisseur vier Menschen in ein abgeschiedenes Haus in Brandenburg und schildert ihre wachsende Vertrautheit als Prozess der gegenseitigen seelischen Wunderheilung. Wie dieser Film brechen auch andere der in Cannes gezeigten Werke die Chronologie auf, gehen dabei aber weit exzessiver vor.
Christian Petzold wird in Cannes als wahrer Cineast gefeiert. Bei der Premiere von „Miroirs No. 3“ (Sektion „La Quinzaine des réalisateurs“) in der im Théâtre Croisette brandete schon vor Beginn seines kontemplativen Dramas begeisterter Applaus auf, der ihm als Filmemacher persönlich galt. Eine solche Huldigung ist wohl nur in Frankreich möglich, und das Festival an der Côte d’Azur dafür der beste Ort – auch für das stille, konzentrierte Werk, mit dem Petzold seine Suche nach erzählerischer Einfachheit entschieden vorwärtstreibt.
Die Musikstudentin Laura (Paula Beer) überlebt auf
dem Land in Brandenburg einen Autounfall, bei dem ihr Begleiter stirbt. Eine
ältere Frau, Betty (Barbara Auer), kümmert sich um sie und nimmt sie in
ihrem nahegelegenen Haus auf. Während Laura sich die ersten Tage im Bett vergräbt,
umgibt Betty sie mit mütterlicher Fürsorge. Stellt Kaffee und Essen hin, legt
neue Kleider zurecht und lässt ein paar Tage später auch das alte Klavier
wieder stimmen. Aus der ersten Hilfe wird unaufdringlich mehr, wobei es gar
nicht eines Versprechers von Betty gebraucht hätte, um die Zusammenhänge zu erahnen;
statt Lauras Namen rutscht ihr kurz einmal „Yelena“ über die Lippen.
Mehr aus Cannes:
- Filmfestival Cannes 2025: Echte Kinokunst. Der Auftakt u.a. mit Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“
- Filmfestival Cannes 2025: Bruchlinien sichtbar machen. Notizen zu Filmen von Fatih Akin, Dominik Moll und Ari Aster
- Filmfestival Cannes 2025: Eine Vorschau auf das Programm
Der verborgene Schmerz
Ganz offensichtlich haben sich hier die Wege zweier Frauen gekreuzt, die sich guttun, weil sie gegenseitig seelische Wunden lindern. Zu den beiden gesellen sich noch Bettys Mann (Matthias Brandt) und Sohn (Enno Trebs), die einige Minuten entfernt in der von ihnen betriebenen Autowerkstatt wohnen. Von einem Plot lässt sich kaum sprechen; aus den von Hans Fromm mit großer Sensibilität fotografierten Momentaufnahmen erwächst ein Mosaik über vorsichtig auftauende Gefühle, während draußen die heißen Tage sacht in den Altweibersommer übergehen. Doch während Betty und ihr Mann zunehmend befreiter wirken, kommt der Sohn mit dem Arrangement weniger klar. Bis es schließlich aus ihm herausbricht, dass sich seine Schwester das Leben genommen hat und Laura im Begriff sei, an deren Stelle zu treten.
Der rätselhafte Titel lehnt sich an die gleichnamige Klaviersonate von Maurice Ravel an, die Laura bei ihrer Abschlussprüfung vorspielt; das Motiv der Spiegelung oder wechselseitigen Übertragung, das der Komposition den Namen gibt, hat Petzold schon in früheren Filmen anklingen lassen; hier drängt es sich allerdings weniger auf als etwa in „Phoenix“ oder „Gespenster“, da die Dialoge keinen großen Überbau intendieren. Vielmehr wird alles Bild, mit sich allmählich aufhellenden Gesichtern und einem zarten Lächeln, das im Finale eine Öffnung auf die Zukunft hin andeutet.
Im Wettbewerb stößt man derzeit immer wieder auf Filme, in denen die Chronologie so aufgebrochen ist, dass sich die Szenen weniger als Vor- oder Rückblicke deuten lassen, sondern eher als erweiterte Gegenwart. In der exzessiven Erkundung einer postnatalen Depression nutzt die schottische Regisseurin Lynne Ramsay in „Die, My Love“ mit wilder Entschlossenheit solche irritierenden Momente, um die seelischen Zustände der Protagonistin anzudeuten. Grace (Jennifer Lawrence) ist mit ihrem Freund (Robert Pattinson) von New York in den Mittleren Westen gezogen. Im Haus eines toten Onkels fallen die beiden mit animalischer Lust übereinander her, wobei der übersteuerte Soundtrack nicht nur Musik, sondern auch die Geräusche das umliegenden Waldes für eine extreme Tonspur nutzt, bis die Bäume in einer Feuerbrunst entflammen. Doch diese Energie versiegt, als ein Baby zur Welt kommt und Grace in die Rolle der Mutter gedrängt wird, deren Begehren gänzlich ins Leere läuft. Denn Jack sucht das Weite und schafft sich lieber einen Hund an, als Grace beizustehen.
Wenn die Kontrolle abhandenkommt
Von erzählerischer Kontinuität kann in diesem enthemmten, oft fast stakkatoartigen Film kaum die Rede sein. Wenn die verzweifelte Mutter ihren abwesenden Mann anruft, der in einem Diner gerade einen Burger verschlingt, blitzen kurze Sexszenen mit der Kellnerin auf. In einer anderen Szene spricht Grace ihrerseits einen mysteriösen Mann an, der auf einem Motorrad ihr Anwesen umkreist; doch im nächsten Augenblick ist er wie vom Erdboden verschwunden, ohne dass der Film dies aber eindeutig als Einbildung etikettieren würde. „Die, My Love“ stürzt sich vielmehr mit brachialer Wucht in das Erleben einer Frau, die mit ihrer Situation nicht klarkommt und in extreme Zustände abgleitet, in wüste Gewalt-, Angst- und Sexfantasien, die in verstörende Handlungen münden. Einmal schließt sich Grace im Klo ein, zerschlägt das Interieur und kratzt mit den Fingern die Tapete von der Wand.
Der wilde, exzessive Trip ist jedoch kein Selbstzweck,
sondern stellt sich mit außergewöhnlichen stilistischen Mitteln in den Dienst
seelischer Zustände, die mit klinischem Vokabular wie dem einer postnatalen
Depression eher verstellt als sichtbar gemacht werden.
Auch das japanische Drama „Renoir“ von Chie Hayakawa nutzt die Erzähltechnik einer ziemlich losen Verknüpfung von Szenen, um von einer Leerstelle zu erzählen. Im Sommer 1987 erkrankt der Vater der elfjährigen Fuki (Yui Suzuki) an Krebs. Die überforderte Mutter plant vorsorglich schon die Beerdigung. Für die aufgeweckte Schülerin aber provoziert der Zusammenbruch des Vaters einen emotionalen Ausnahmezustand, der zwischen Ignorieren und Hoffen alle Angst beiseiteschiebt. Allein oder zusammen mit einer Freundin lässt sie sich durch Tokio treiben, schreibt fantasievolle Aufsätze, etwa über das Dasein als Waisenkind, malt oder erkundet die Geheimnisse der Erwachsenenwelt. Realität und Fantasie gehen manchmal unvermittelt ineinander über. So testet Fuki ihre Fähigkeiten als Hypnotiseurin oder spielt mit einer Dating-App; sie besucht aber auch ihren Vater im Krankenhaus, bringt ihn auf andere Gedanken oder begleitet ihn zum Pferderennen.
Die Inszenierung lässt sich viel Zeit für ihre fragmentarische Sammlung von Momenten und Erlebnissen. Insgesamt schlägt diese zwar einen Bogen von der Erkrankung bis zum Tod und in die Zeit danach. Aber an vielen Punkten sind die Fragmente eben doch a-chronologisch und eher einer poetischen Logik folgend angeordnet. Das unterstreicht eine kindliche Unbeschwertheit, die angesichts der existenziellen Bedrohung und vieler ungestillter Bedürfnisse (wie der Sehnsucht nach mütterlicher Nähe und Geborgenheit) in ein Zwischenreich wechselt, das sich zwischen Unschuld und jugendlicher Ernsthaftigkeit der Überforderung des Augenblicks entzieht.
Zwischen Himmel und Hölle
Einer der Filme in Cannes, die lange nachwirken und kontroverse Deutungen erfahren, ist das Road Movie „Sirât“ von Óliver Laxe, das in Marokko spielt und von der Suche eines Vaters (Sergi López) nach seiner Tochter handelt, die vor einem knappen halben Jahr verschwunden ist. Zusammen mit seinem Sohn Esteban (Bruno Núñez) taucht Luis bei einem abgelegenen Rave im Süden des Landes auf. Doch niemand scheint die junge Frau auf den Fotos zu kennen. Als plötzlich Militär das Treiben beendet, weil der Ausnahmezustand erklärt worden ist, schließen sich Vater und Sohn einer Gruppe Aussteiger an, die Richtung Tschad entkommen. Dort soll ein weiterer Rave stattfinden. Der Trip durch die Wüste und das Atlasgebirge birgt allerdings große Gefahren. Anfangs lässt sich manches durch Improvisation und Wagemut lösen, doch die Herausforderungen nehmen zu, und das Glück ist nicht immer auf der Seite der Reisenden.
Mit großer Kunstfertigkeit verbindet Laxe mächtige CinemaScope-Bilder von Sanddünen und schroffen Gebirgsformationen mit der basslastigen Techno-Musik und der Zeitlosigkeit des Raves, was als untergründiger Rhythmus den ganzen Film durchzieht. Die in die Jahre gekommenen Raver sind ähnlich wie ihre Camper und Unimogs ausgemergelte, von Sonne, Drogen und einem Vagabundenleben gezeichnete Gestalten. Nur im Stampfen und Rollen des ohrenbetäubenden Sounds scheinen sie in mystische Sphären zu driften.
Doch schon zu Beginn des Films enthüllt ein Insert die Bedeutung des Titels, der eine Brücke zwischen Himmel und Hölle meint, schmal wie ein Haar und scharf wie eine Schwertklinge. Paradies und Verdammnis sind damit als Eckpfeiler einer Tour ins Ungewisse aufgerufen, die mit ihren grandiosen Bildern und hypnotischen Montagen den Atem raubt. Bis die Fahrzeuge auf einem steilen Weg im Atlas zum Liegen kommen.
Unabhängig davon, wie man den Umgang des Films mit seinen dramatischen Zuspitzungen deutet oder wertet, schreibt sich „Sirât“ als singuläres Werk dem Gedächtnis ein, das neue Wege beschreitet und sich durch seine visuelle und auditive Gestaltung durchaus als Preisträger anbietet.