Szene aus „Harvest“ (© MUBI Deutschland GmbH/Jaclyn Martinez)

Experimente zum Menschsein - Athina Rachel Tsangari

Mit ihrem zwischen Historienfilm und wunderlichem Folk-Horror changierenden Film „Harvest“ betritt die griechische Filmemacherin Athina Rachel Tsangari Neuland, bleibt aber ihren zentralen Themen treu.

Aktualisiert am
05.06.2025 - 13:32:57
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Die 1966 in Athen geborene Filmemacherin Athina Rachel Tsangari gehört neben Yorgos Lanthimos in den späten 2000er- und den 2010er-Jahren mit Werken wie „Attenberg“ und „Chevalier“ zu den Speerspitzen der „Greek Weird Wave“. Mit ihrem jüngsten Film „Harvest“ (ab 22. Mai im Kino) wagt sie Neues, bleibt sich aber zugleich selbst treu: Ihre Arbeiten gleichen Experimentieranordnungen für menschliche Reifungs- und Lernprozesse.


Walter taumelt durch die Landschaft der schottischen Highlands, bestaunt, erfühlt und erschmeckt sie. Er wälzt sich im Gras, beißt beherzt in die vermooste Rinde eines Asts, bahnt sich mit beiden Armen einen Weg durch das dichte Weizenfeld und klettert auf einen Baum. Hoch oben bohrt er seinen Finger in ein Astloch und lässt seine Zunge in die Öffnung hineingleiten, bevor er sich auf allen Vieren einem Gewässer nähert und wie ein junges Entlein herumplantscht.

Man könnte den hochgewachsenen Mann, der einem in der Anfangssequenz von Athina Rachel Tsangaris Film „Harvest“ (2024) im Erkundungsrausch begegnet, für ein wildes Kind halten – oder für ein Wesen, das dem Tier nähersteht als dem Menschen. Dabei kommt Walter Thirsk (Caleb Landry Jones), anders als die Dorfkinder, deren Köpfe bei einem Ritual kräftig auf die Grenzsteine geschlagen werden, damit sie wissen, wo sie „hingehören“, aus der Stadt. Seine vermeintliche Naturhaftigkeit ist nichts Ursprüngliches, im Gegenteil. Er ist gerade dabei, zu lernen. So wie die in Liebe, Sex und menschlicher Nähe ungeübte Marina (Ariane Labed) in der ersten Szene von „Attenberg“ (2010). Wie eine Nacktschnecke fühle sich die Zunge der anderen an, meint die junge Frau bei einer Kussübung, die mehr an das Geschnäbel zweier Gänse erinnert als an eine Liebeshandlung unter Menschen.


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Experimentieranordnungen für menschliche Reifungs- und Lernprozesse

Stilistisch könnten die zwei Filme der griechischen Regisseurin Athina Rachel Tsangari kaum weiter voneinander entfernt sein. Die statischen Einstellungen in „Attenberg“ entsprechen der forschend-beobachtenden Perspektive der Hauptfigur, für die der erste Sex ein Experiment am menschlichen Körper ist, welches sie mit distanzierter Neugierde durchführt. Fließend, weich und taktil sind dagegen die grobkörnigen, auf 16mm-Material gedrehten Bilder im englischsprachigen Debüt „Harvest“, die Kamera von Sean Price Williams ist aus der Hand geführt und sucht die Nähe zu Oberflächen und der Materialität von Mensch, Tier und Ding. So unterschiedlich Ästhetik, Genre, Zeit und Setting auch sind – ein nahezu entvölkerter griechischer Küstenort mitten in der Schuldenkrise beziehungsweise ein kleines, namenloses Dorf im Mittelalter, das „zwei Tage mit dem Postpferd und drei Tage mit dem Wagen von allem entfernt ist, was einer Marktstadt ähnelt“ –, so tritt doch das Verbindende (nicht nur dieser beiden Filme) deutlich hervor.

"Harvest" (© MUBI Deutschland GmbH/Jaclyn Martinez)
"Harvest" (© MUBI Deutschland GmbH/Jaclyn Martinez)

Athina Rachel Tsangaris Arbeiten gleichen Experimentieranordnungen für menschliche Reifungs- und Lernprozesse. Dabei gehen sie ihrerseits in die Lehre, etwa wenn sie sich in verschiedenen Genres wie Komödie, Slapstick oder Folk-Horror/Western erproben. In den ersten Filmen, die noch eindeutig feministisch perspektiviert sind, stehen weibliche Körper unter Beobachtung, die sich unpassend und merkwürdig verhalten. Während Marina beginnt, den Komplex von Intimität und Körperlichkeit auf eigene Weise zu erforschen, haben in „The Capsule“ (2012), einer Auftragsarbeit der DesteFashionCollection, sieben Wesen absurde Disziplinierungsrituale zu durchlaufen, die auf die Konstruktion von Weiblichkeit verweisen.


Nähe zum Animalischen

Charakteristisch für Tsangaris Figuren ist ihre Nähe zum Animalischen, ein Wesenszug, den die Regisseurin in ein eigenes linguistisches System aus stilisierten, oftmals auch surrealen Bewegungen und Gesten übersetzt. Marina, die unter dem Einfluss des britischen Tierfilmers und Naturforschers Sir David Attenborough (deswegen der Titel „Attenberg“) steht, tritt mit dem Nachahmen von Tierlauten ins Vorsprachliche ein, sie wirkt aber auch in anderen Situationen anders-als-menschlich. Etwa wenn sie ihre Schulterknochen wie kleine Flügel anspannt oder beim „Silly Walk“ mit ihrer Mentorin Bella die Pose eines pinkelnden Hundes in ihr Bewegungsrepertoire einschleust.

"Attenberg" (© Rapid Eye Movies)
"Attenberg" (© Rapid Eye Movies)

Auch die Frage nach Zugehörigkeit und Fremdheit, die in „Harvest“ auf drastische Weise zum Ausdruck kommt, zieht sich durch Tsangaris Werk. Bereits in ihrem achtminütigen Kurzfilm „Fit“ (1994) wird sie in einer Serie surrealer Situationen des Nicht-Passens (von Socken und Fuß beziehungsweise Zunge und Mund) verhandelt. „Trans-terrestrisch“ nennt sich die mit einem Schaukelstuhl von Stadt zu Stadt und Hotelzimmer zu Hotelzimmer ziehende Protagonistin Petra Going (Lizzie Curry Martinez) im Spielfilmdebüt „The Slow Business of Going“ (2000). Das im Film zitierte „Migrant Manifesto“ der Künstlergruppe M.I.T.E. (Manifesto for an International Transcultural Entity) wird zum Bewegungsprinzip der Figur. Petra Going sammelt Erfahrungen, die in einer Datenbank abgelegt werden, sie lernt stellvertretend für andere.


Die Filmemacherin als „Recording Machine“

Im Rahmen einer Masterclass bei der Diagonale in Graz, die Tsangari in diesem Jahr eine Werkschau ausrichtete, bezeichnete sich die Regisseurin als „Recording Machine“. Sie stellte dabei nicht nur ihre Cinephilie heraus (Filmerfahrungen seien wie Hefe, aus denen ein neuer Film entsteht), sondern auch das Autobiografische/Autofiktionale ihrer Filme, wobei sie den Begriff ziemlich weit auslegt: „Ich durchforste verschiedene Teile meines Lebens und der Welt um mich herum und füge sie zusammen.“ Die Super-8-Aufnahmen, die in „The Slow Business of Going“ zwischen den Hotelbildern montiert sind, stammen aus Tsangaris persönlichem Archiv und sind über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden.

Athina Rachel Tsangari beim BFI London Film Festival im Oktober 2024 (© IMAGO / Capital Pictures)
Athina Rachel Tsangari beim BFI London Film Festival im Oktober 2024 (© IMAGO / Capital Pictures)

Die künstlerischen Wurzeln Tsangaris liegen in der Performancekunst – und in den USA. Zu Beginn der 1990er-Jahre studierte sie Performance an der Tisch School of Arts in New York, bevor sie ein Regiestudium nach Austin, Texas, führte, wo „Fit“ und „The Slow Business of Going“ entstanden – wie „Attenberg“ performative Arbeiten mit choreographischem Sinn. In Austin nahm auch ihre enge Freundschaft mit Richard Linklater ihren Anfang, der sie in seinem Film „Slacker“ (1990) als „Cousine aus Griechenland“ besetzte; aus ihrer Mitarbeit an „Before Midnight“ (2013) entstand drei Jahre später das zugewandte Making-of „After Before“. Was sie an Erfahrungen aus dem Linklater-Kosmos mitnahm, war allerdings weniger Formales als die Zusammenarbeit mit Laiendarsteller:innen und das Verständnis vom Filmemachen als ein gemeinschaftlicher Prozess, der über die produktionstechnisch bedingte Arbeitsteilung hinausgeht.


Von Brecht bis Monty Python

Als ihre wichtigsten Einflüsse nennt Tsangari Samuel Beckett, Bertolt Brecht, Luis Buñuel, Pina Bausch, Buster Keaton und Monty Python. Ihr Ansatz, eine observatorische, quasi-naturwissenschaftliche Perspektive mit Surrealismus zu kombinieren, brachte sie in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts in Verbindung mit der sogenannten „Greek Weird Wave“ – wie die meisten „Schulen“ ein Hilfskonzept, um höchst unterschiedliche Ansätze auf eine markttaugliche nationalkinematografische Formel zu bringen. Mit Yorgos Lanthimos, dessen Film „Dogtooth“ neben „Attenberg“ am Beginn dieser Bewegung steht, verbindet Tsangari eine Reihe gemeinsamer Projekte. Die von ihr gegründete Filmproduktion „Haos Films“ produzierte Lanthimos experimentellen Kurzfilm „Kinetta“ (2005), „Dogtooth“ (2009) und „Alpen“ (2011), Lanthimos wiederum fungierte als Produzent von „Attenberg“.

Für „Chevalier“ (2015) arbeitete die Regisseurin erstmals mit Lanthimos’ Stammdrehbuchautor Efthimis Filippou zusammen. Wie die Hotelzimmer in „Slow Business of Going“, die Geisterstadt in „Attenberg“ und die insulare Dorfgemeinschaft in „Harvest“ ist auch die Luxusjacht in der Ägäis, auf der sich sechs Männer bei einem so absurden wie lächerlichen Spiel messen – wer ist „der Beste in allem“? –, ein begrenzter Raum, in dem sich menschliche Beziehungen wie in einer Laborsituation beobachten lassen. 

"Chevalier" (© Rapid Eye Movies)
"Chevalier" (© Rapid Eye Movies)

Anders als in den Arbeiten von Lanthimos, die auf Eskalation und Verstörung zielen, versickert in „Chevalier“ der Wettbewerb in Schlafhaltung, Regalaufbau und dem Polieren von Silber in unterspannte Leere. Obgleich leichter und ohne den ätzenden Zynismus ihres Mitstreiters schien sich Tsangari mit „Chevalier“ in eine Sackgasse kalkulierter Weirdness manövriert zu haben.


Neuland: „Harvest“

Mit einem Folk-Horror-Film hatte bei ihr wohl niemand gerechnet. Tsangari arbeitet in „Harvest“ an der Fortsetzung der Fragen, die ihre Praxis seit jeher begleiten, und betritt zugleich Neuland. Während die Bildsprache der früheren Arbeiten wie ein Abbild der Austeritätspolitik anmutete – matte Farben, karge Settings, nichts wollte gefallen –, überwältigt „Harvest“ mit Aufnahmen in satten Primärfarben, ausgefeilten Lichtstimmungen und extremer Haptik. Als Gesellschaftsparabel über die zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus und Xenophobie umgibt den Film etwas Vages, Unbestimmtes. So steht mit Walter eine Figur im Zentrum, die sich an der Schwelle von innen und außen verortet und den Ereignissen eher passiv gegenübersteht. Auch die Bedrohung geht von außen wie innen aus: Sie ist in der Moderne, die in die mittelalterliche Bauerngemeinde einbricht, ebenso zu finden wie in den Dorfbewohnern selbst, die „jedem misstrauisch gegenüberstehen, der nicht mit heimischer Erde unter den Fingernägeln geboren ist“. Der nächste Film von Athina Rachel Tsangari wird sich erneut in einem geschlossenen Raum abspielen: in einem Raumschiff in den Weiten des Alls.

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