Szene aus „Sentimental Value“ (© Arte France Cinéma/Eye Eye Pic./Mer Film/Cannes 2025)

Cannes Filmfestival 2025: Geister der Vergangenheit

Notizen zum 78. Festival in Cannes, unter anderem zu den Filmen von Kirill Serebrennikov, Julia Ducournau, Joachim Trier und Joséphine Japy

Aktualisiert am
30.05.2025 - 14:11:51
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Nicht nur Gesellschaften, sondern auch jeder Einzelne schleppt seine Vergangenheit mehr oder minder bewusst mit sich herum. Beim Festival in Cannes arbeiten sich auffällig viele Filme an der Last des Gelebten ab, das die Gegenwart grundiert. In Filmen wie „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Kirill Serebrennikov ist das offenkundig; in anderen Filmen wie „Sentimental Value“ von Joachim Trier brauchen die Protagonisten viel Zeit oder Hilfe, um den Geistern der Vergangenheit auf die Spur zu kommen.


Auch achtzig Jahre nach Kriegsende, nach Entnazifizierung und der mühsamen Befreiung von der NS-Ideologie fühlt man sich unwohl, wenn auf der Leinwand die braune Suppe wieder hochkocht. In „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Kirill Serebrennikov versammeln sich im Sommer 1958 ein gutes Dutzend früherer NS-Funktionäre, die in einem herrschaftlichen Anwesen in Uruguay die Hochzeit des SS-Arztes Josef Mengele (August Diehl) mit seiner Schwägerin Magda feiern. Es braucht nicht viel Alkohol, bis die vom Krieg schwer gezeichneten Nazis widerlichste NS-Parolen über die Zukunft der arischen Rasse hinausposaunen; ihre Tiraden klingen dabei so giftig wie die ganze zerstörerische Wirklichkeit des „tausendjährigen Reichs“. Nur dem Bräutigam reicht für den Moment die Braut, die er noch während der Feier aufs Ehebett zerrt. Insgeheim ist er aber auf der Hut vor den Verfolgern, die den „Todesengel von Auschwitz“ vor Gericht bringen wollen.


Versinken in Paranoia und Selbstmitleid

In dem in kontrastreichem Schwarz-weiß gedrehten Drama erzählt Serebrennikov von den drei Jahrzehnten, in denen sich der als Kriegsverbrecher gesuchte Mengele bis zu seinem Tod 1979 in Südamerika verstecken konnte. Auf der Basis des gleichnamigen Romans von Olivier Guez zeichnet der fragmentarisch-episodische Film in groben Zügen die zweite Hälfte von Mengeles Leben nach, wie der flüchtige Mediziner Schritt für Schritt immer mehr in Paranoia und Selbstmitleid versinkt. Er wechselt die Namen – Gregor, Peter, Don Pedro – und die Aufenthaltsorte, gerät durch seine herrische Art aber mit allen Helfern über Kreuz und verliert auf Dauer auch die finanzmächtigen Unterstützer aus Deutschland. Als er 1977 von seinem Sohn Rolf (Max Bretschneider) in einem Vorort von Sao Paulo besucht wird, vegetiert Mengele als zittriger Greis vereinsamt vor sich hin. Doch wenn sein Sohn Antworten von ihm will, lodert der alte Wahn mit wilder Glut wieder in ihm auf.


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Zumindest die Antwort nach den Fakten bleibt der Film nicht schuldig. Plötzlich leuchten gelbblühende Wiesen bei einem See in der Nähe von Auschwitz auf, fast wie in „The Zone of Interest“; SS-Männer und ihre Frauen genießen die Sommerfrische; Mengele verspricht, bei der „Arbeit“ früher Schluss zu machen, ein anderer SS-Mann filmt mit einer Kamera. Semidokumentarische Super-8-Bilder halten dann Szenen an der Rampe fest, aber auch in den medizinischen Räumen, wo Mengele und andere grauenvolle Menschenversuche anstellen; sein Ruf als „Todesengel von Auschwitz“ rührt von seiner Vorliebe für Zwillinge und Kleinwüchsige her, die er ohne jede Regung tötete und im Dienst der arischen Rassenideologie ausweidete.

August Diehl in "Das Verschwinden des Josef Mengele" (© DCM/Cannes 2025)
August Diehl in "Das Verschwinden des Josef Mengele" (© DCM/Cannes 2025)

Auf die Lösung des Rätsels aber, wie man als klassisch gebildeter Mensch zu einem bestialischen Menschenschlächter werden kann, wartet Rolf und mit ihm die Welt vergeblich. Dafür aber gebührt Serebrennikov und vor allem August Diehl mit seiner bravourösen darstellerischen Leistung das Verdienst, das allmähliche „Verschwinden“ eines Menschen, der sich der Verantwortung entzieht, so eindringlich wie gespenstisch in Szene gesetzt zu haben. Was bleibt, sind die morschen Knochen von Josef Mengele, die in der Rahmenhandlung Anatomiestudenten als Anschauungsmaterial dienen.


Ein Virus, das Menschen versteinern lässt

Bei der Premiere des neuen Films der französischen Regisseurin Julia Ducournau, die 2021 mit „Titane“ die „Goldene Palme“ gewann, musste man um einen Platz im Kino kämpfen. Doch ihr raffiniert verschlungener Thriller „Alpha“ wurde den hohen Erwartungen nicht gerecht und fiel bei der Kritik durch. Dabei elektrisiert schon der bedrohliche Vorspann, der auf eine Art Erstarrung hinauswill. In Frankreich breitet sich ein Virus aus, das Menschen allmählich versteinern lässt. Die Körper verwandeln sich dabei langsam in Marmorstatuen, bis sie keine staubigen Atemwolken mehr aushusten, sondern in kaltem Glanz erstarren.

Die Mutter (Golshifteh Farahani) der Teenagerin Alpha (Mélissa Boros) hat als Ärztin ständig mit dieser Seuche zu tun, gegen die es keine Heilung gibt. Als ihre Tochter nach einer rauschenden Party mit einem blutenden Tattoo nach Hause kommt, gerät sie in Panik. Denn das Virus verbreitet sich übers Blut. Auch Alphas Klassenkameraden reagierten ähnlich und stoßen die 13-Jährige brutal aus ihren Reihen aus. Bis eine Untersuchung von Alphas Blut Klarheit ergibt, muss das Mädchen zuhause bleiben. Dort hat auch sein Onkel (Tahar Rahim) Zuflucht gefunden hat, dessen Körper durch Drogenmissbrauch schon ohne die Seuche gezeichnet ist.

"Alpha" (© Petit Film/Frakas Prod./Mandarin & Compagnie/France 3 Cinéma/Cannes 2025)
"Alpha" (© Petit Film/Frakas Prod./Mandarin & Compagnie/France 3 Cinéma/Cannes 2025)

Der visuell wie akustisch bis an den Anschlag hochgefahrene Film legt allerdings schon früh eine gegenläufige Fährte aus. Im Englischunterricht hat Alpha als Einzige eine Interpretation für das Edgar-Allan-Poe-Gedicht „A Dream Within a Dream“ parat, das mit den Zeilen „Was wir sehn in Zeit und Raum / Ist nur ein Traum in einem Traum“ endet. Doch bis man versteht, was hier Schein oder Albtraum ist, vergehen zwei lange, aufregende Stunden, in denen es um Kontrolle und Vertrauen, Schmerz, Trauer und Loslassen geht. Das besitzt vielleicht nicht die Stimmigkeit von „Titane“ oder Ducournaus Erstlingsfilm „Raw“, verstrickt aber in ein kniffeliges Rätsel, dessen zeitliche Brüche so unvermittelt auftreten, dass sich die daraus ergebenden Irritationen auf den Film als solchen übertragen.


Panikattacke bei der Premiere

In „Sentimental Value“ von Joachim Trier ist alles viel leiser und feiner gestrickt. Nach einer klaren, konzentrierten Eröffnung, in der man aus dem Off von der Geschichte eines schönen, aus Holz erbauten Hauses in Oslo und seiner Bewohner in Kenntnis gesetzt wurde, droht die Schauspielerin Nora (Renate Reinsve) bei der Premiere von Tschechows „Die Möwe“ an einer Panikattacke zu scheitern. Erst eine Ohrfeige löst die Blockade, nach der sie auf die Bühne rennt und „Hör zu!“ ins Publikum brüllt. Der, dem dies am meisten gelten würde, ihr Vater (Stellan Skarsgård), hat sich schon vor vielen Jahren davongemacht. Doch als Noras Mutter stirbt, taucht er plötzlich bei der Beerdigungsfeier im Familienhaus auf. Nicht aus Anteilnahme, sondern mit der Absicht, Nora für einen Film über ihre Großmutter zu gewinnen, die im Krieg gegen die Nazis opponierte und dafür grausam gefoltert wurde.

Dabei spielt auch Noras Ruf eine Rolle, der die Filmfinanzierung erleichtern würde. Doch Nora entzieht sich Gustavs Einflüsterungen, reagiert aber mit Eifersucht, als der eine berühmte US-Schauspielerin (Elle Fanning) an ihrer Stelle engagiert.

Tschechow, Ibsen und Ingmar Bergman stehen für dieses in klare, helle Bilder gefasste Seelendrama Pate, bei dem die inneren Narben und Verkrustungen erst mit der Zeit sichtbar werden. Nora ist einsam und lebensmüde, ihr Vater nie darüber hinweggekommen, dass seine Mutter sich das Leben nahm, während er in der Schule war. Mit dem neuen Film will er sich an diesem Suizid abarbeiten, doch auch die US-Schauspielerin hadert mit der Frage nach dem Motiv und gibt schließlich sogar auf. Im Unterschied zu Bergman aber ist Trier auf keine Tragödie aus, sondern schenkt den Figuren die Gnade, sich selbst und die anderen etwas besser zu verstehen – zumindest im Medium der Kunst, wo es nach der Abblende auf dem Set immer noch weitergeht.


Eine der schönsten Entdeckungen

Einer der schönsten und berührendsten Filme in Cannes war nur als Sondervorstellung programmiert: „Qui Brille au Combat“ von Joséphine Japy, der international als „The Wonderers“ vermarktet wird und von der (sehr begüterten) Familie Roussier aus Nizza erzählt, die zwei sehr unterschiedliche Töchter hat. Denn die Jüngere mit Namen Bertille (Sarah Pachoud) ist stark behindert und auch geistig eingeschränkt; oft wiegt sie sich stundenlang summend hin und her, kennt keine Grenzen und Hemmung, matscht mit dem Essen oder setzt sich anderen auf den Schoß. Ihre ältere Schwester Marion (Angelina Woreth), die kurz vor dem Abitur steht und erste Erfahrungen mit Jungs und jungen Männern macht, kann damit aber verständnisvoll umgehen. Und auch ihre Mutter (Mélanie Laurent) ist (meist) die Ruhe in Person; nur der Vater (Pierre-Yves Cardinal), der unter der Woche in Paris arbeitet, hat seinen Kollegen nie von Bertille erzählt.

"The Wonderers" (© Cowboys Films/Pulsar Content/Cannes 2025)
"The Wonderers" (© Cowboys Films/Pulsar Content/Cannes 2025)

Die Familie hat sich bislang entschieden dagegen gewehrt, Bertille in ein Heim abzugeben; die Dauerbelastung aber hat viele Spuren hinterlassen. Die Ehe steckt in der Sorge um das jüngste Kind fest; Bekannte und Freunde kommen mit der Situation schon länger nicht mehr klar. Und auch bei Marion stellt sich die Frage, ob sie es sich erlaubt, weniger Verantwortung für die Schwester und dafür mehr für ihr eigenes Leben zu tragen.

Das Tolle an „The Wonderers“ ist, wie leicht und unbeschwert die Regisseurin Joséphine Japy, die bislang nur als Schauspielerin hervorgetreten ist, in ihrem Regiedebüt von den Zumutungen einer außergewöhnlichen Familie erzählt. Das ist in seinen kleinen dramaturgischen Zuspitzungen vielleicht manchmal etwas sehr hingetupft, und auch der Nebenstrang um neuere genetische Untersuchungen zu Bertilles Krankheit, insbesondere mit Blick auf ihre Vererbbarkeit, wirken etwas bemüht. Aber nur selten sieht man im Kino einer Familie dabei zu, wie sie mit den Herausforderungen eines gehandicapten Kindes auf eine Weise umgeht, die das Besondere als normal ins Leben integriert. Etwa indem sich niemand schämt, wenn Bertille im Restaurant einen Bissen von einem fremden Teller schnappt.

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