Szene aus „Im Prinzip Familie“ (© Bandenfilm/Jonas Ludwig Walter)

Ein Auffangnetz für Kinder

Ein Interview mit dem Dokumentaristen Daniel Abma über seinen Film „Im Prinzip Familie“

Veröffentlicht am
05.06.2025 - 13:32:57
Diskussion

In „Im Prinzip Familie“ begleitet Regisseur Daniel Abma eine betreute Kinderwohngruppe auf dem Land in Brandenburg. Der niederländische Regisseur setzt sich in seinen Dokumentarfilmen häufig mit sozialen Fragen auseinander, etwa mit Häftlingen im Jugendknast in „Nach Wriezen“ (2012) oder mit Transsexuellen in „Transit Havanna“ (2016). In „Im Prinzip Familie“ (jetzt im Kino) beobachtet er drei Betreuer beim Versuch, benachteiligten Kindern einen weitgehend normalen Alltag zu ermöglichen.


Wie sind Sie auf das Thema von „Im Prinzip Familie“ gekommen?

Daniel Abma: Vor dem Filmemachen habe ich Sozialarbeit und auch Grundschulpädagogik studiert. Ich habe diese Menschen, die mit Kindern arbeiten, immer sehr bewundert. Sie tragen eine große Verantwortung. Ich selbst habe dann aber einen anderen Weg eingeschlagen.

Sie haben sechs Jahre an dem Film gearbeitet. Wie ist diese Arbeit verlaufen?

Abma: Vier Jahre lang hat allein die Recherche vor dem Film gedauert. In dieser Zeit bin ich oft vor Ort gewesen. Es ging um die Beziehung zu den Menschen und darum, ein Vertrauen zu denen aufzubauen, die im Film eine Rolle spielen, also zu den Erzieherinnen und den Kindern, aber auch zu den biologischen Eltern der Kinder, dem Jugendamt, dem Vormund und den Lehrerinnen der Schule. Es geht um das ganze kinderpsychologische Netz, das ich als ein „Auffangnetz“ bezeichne und alle umfasst, die mit diesen Kindern arbeiten. Das war ein längerer Prozess, der mehrere Jahre in Anspruch genommen hat. Die erste Reaktion, die wir vom Jugendamt bekamen, war eine E-Mail: „Wir möchten an diesem Film nicht mitarbeiten!“ Mit Ausrufezeichen! Es war also ein längeres Unterfangen, in dem wir uns mit allen Beteiligten, vor allem mit dem gesamten Team, immer wieder die Frage gestellt haben: Wie können wir diesen Film machen, ohne Menschen vorzuführen und ohne, dass sie sich im Nachhinein unwohl fühlen?


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In dem Film spürt man ein sehr großes Vertrauen. Die Kinder agieren völlig natürlich. Man spürt nicht mehr, dass eine Kamera dabei ist. Wie haben Sie dieses Vertrauen hergestellt?

Abma: Es gab immer sehr viel Kontakt. Ich war ständig vor Ort, was auch bedeutet, dass ich mitgegessen und mitgefrühstückt habe. Ich bin um sechs Uhr aufgestanden, um am Frühstückstisch zu sitzen und die Kinder in die Schule zu bringen. Abends war ich ebenfalls wieder dabei, wenn sie ins Bett gingen und Gutenachtgeschichten vorgelesen bekamen. Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen – und Beziehungsaufbau; das war entscheidend. So arbeiten auch die Menschen in der Einrichtung: über Beziehungen. Das ist ganz wichtig.

Vertrauen und Beziehungsaufbau (© Bandenfilm/Jonas Ludwig Walter)
Vertrauen und Beziehungsaufbau (© Bandenfilm/Jonas Ludwig Walter)

Im Laufe der Zeit kam dann das Kamerateam hinzu. Das war nochmals neu. Wir haben medienpädagogische Workshops gegeben, damit die Kinder verstehen, was ein Mikrofon alles hört und damit sie ein Verständnis dafür entwickeln. Alle wollten natürlich durch die Kamera gucken und auch mal etwas filmen. Wenn ein Kamerateam zum Drehort kam, war immer auch die Technik mit dabei. Irgendwann war das Thema „Wieso ist jetzt eine Kamera da?“ gar nicht mehr relevant.

Spannend dabei war, dass die Kinder schnell gelernt haben. Oft hatten sie Nähe-Distanz-Probleme; was sie aber bald ziemlich gut konnten, war „Nein“ zu sagen. Das ist ein großer Schritt, denn das haben sie in ihrem Leben oft nicht geschafft. Die Kinder haben in bestimmten Situationen wirklich „Nein“ gesagt: „Ich möchte jetzt nicht gefilmt werden!“ Oder die Tür ging zu – ein deutliches Zeichen, dass dies ihr Zimmer ist, dass sie sich zurückziehen und in Ruhe gelassen werden möchten. Irgendwann ging die Tür aber auch wieder auf, und dann durften wir wieder filmen.

Das war ein sehr schönes, sehr ehrliches Arbeiten. Nur so konnte dies gelingen. Auch die Erzieher:innen haben ab und zu „Nein“ gesagt oder die Dreharbeiten nach den ersten beiden Wochen ausgewertet und uns Feedback gegeben: „Wenn ihr das und das macht, stört ihr die Betriebsabläufe. Wenn wir jemanden zum Bahnhof bringen oder abholen, können wir uns nicht damit aufhalten, dass ihr noch die Mikrofone anbringen müsst.“ Es war sehr wertvoll, dass alle sehr offen und transparent damit umgegangen sind. Auf diese Weise konnte der Film schließlich zustande kommen.

Regisseur Daniel Abma (© Jonas Ludwig Walter)
Regisseur Daniel Abma (© Jonas Ludwig Walter)

Oft gelten die Eltern als die eigentlich Verantwortlichen an der Situation der Kinder. Welche Rolle spielen sie in dem Film?

Abma: Die Geschichten der Eltern sind stark zurückgenommen, um sie nicht vorzuführen. Einer der Erzieher sagt das einmal sehr treffend: Man muss nicht böse auf die Eltern sein. Es sind die Umstände; und auch die Eltern haben eine Geschichte. Sie tun, was sie können, und geben ihr Bestes. Da darf man nicht böse sein, und wir in unserem Film schon gar nicht. Das dürften wir auch nicht so darstellen. Das wäre fatal, denn die Elternarbeit ist das Wichtigste. Nur wenn die Elternarbeit gut funktioniert, ist es möglich, dass ein Kind die Perspektive hat, aus dieser Wohngruppe wieder zurück zu seinen Eltern zu ziehen.

Das ist schön, hat aber auch etwas Trauriges, wenn die Kinder dann weggehen und zu ihren Eltern zurückkehren.

Abma: Das ist auch für viele Erzieher:innen ein großes Thema. Frau Wagner, die Protagonistin in unserem Film, sagt aber auch: „Wenn man weiß, dass das Kind aus der Wohngruppe auszieht, weil es zu jemandem kommt, bei dem es ihm gut geht, dann fällt so ein Abschied ein wenig leichter. Klar, man ist traurig, weil man so viele Jahre mit dem Kind zusammengearbeitet und -gewohnt hat, und man vermisst es. Aber wenn man weiß, dass das Kind gut landet, dann ist alles super. Schwieriger ist es für die Erzieher:innen, wenn man ahnt, dass alles auf wackeligen Beinen steht und dass es möglicherweise für das Kind besser wäre, wenn es in der Wohngruppe bliebe. Dann fällt ein Abschied sehr schwer.“

Zwischen Betreuern und Kinder entstehen enge Bindungen (© Bandenfilm/Jonas Ludwig Walter)
Zwischen Betreuern und Kinder entstehen enge Bindungen (© Bandenfilm/Jonas Ludwig Walter)

In anderen Dokumentarfilmen geht es oft um Fragen des Geldmangels oder um Kürzungen im Sozialbereich. Sie sprechen das im Film kaum an. Aber das ist doch auch ein Problem dieser Tagesstätten?

Abma: Ja, das ist ein echtes Problem. Im Film erfährt man durchaus, dass das Jugendamt aufgrund von Personalmangel ein wichtiges Hilfeplan-Gespräch abgesagt hat. Solche Dinge fließen dezent mit ein. Aber wir haben uns bewusst dafür entschieden, das nicht groß zum Thema zu machen. Wir wollen aber um den Kinostart herum viele Veranstaltungen organisieren, um mit dem Film als Inspirationsquelle auch über solche Themen zu sprechen. Denn es ist eine ungemein intensive Arbeit, die in diesen Wohngruppen geleistet wird. Auf den Schultern der Menschen, die in diesem Fachgebiet arbeiten, lastet ein großer Druck. Es gibt Schichtdienste, die 24 Stunden lang sind. Das ist eine echte Herausforderung. Wenn mehr Personal vorhanden wäre, wäre alles möglicherweise ein bisschen entspannter. Wenn jemand krank ist, muss er durch Kolleg:innen vertreten werden. Das habe ich bei den Dreharbeiten auch miterlebt, dass es öfters zu Überlastungen kam.

Wie war das während der Corona-Einschränkungen?

Abma: Während der Corona-Pandemie, als die Medien über viele systemrelevante Themen gesprochen haben, war die Kinder- und Jugendhilfe nicht wirklich ein Thema. In der Wohngruppe, die wir in unserem Film porträtieren, haben die Erzieher:innen mehrere Wochen lang alleine mit den Kindern gewohnt und ihre eigenen Familien in dieser Zeit lange nicht gesehen. Die Kolleg:innen haben eingekauft und den Einkauf vor der Tür abgestellt.

Wie schon in Ihren anderen Filmen haben Sie ein Gleichgewicht gefunden zwischen Situationskomik und aufwühlenden Gefühlen, durch die man auch als Zuschauer stark mitgenommen wird. Wie gelingt Ihnen diese Balance?

Abma: Die große Kunst beim Film ist wirklich die Montage. Jana Dugnus, die Editorin, hat eine Meisterleistung vollbracht, indem sie immer diese Balance gefunden hat. Das war ein langes Suchen, Spielen und Nachjustieren. Es war uns sehr wichtig, einen Film zu machen, der kurzweilig ist und positiv ausstrahlt; da spielt der Humor eine große Rolle. Dieser Humor ist präsent und macht diesen Ort so besonders. Wenn der Film nur schwere emotionale Szenen hätte, würde man ihn vielleicht gar nicht anschauen. Aber so ist der Film sehr kurzweilig. Es gibt definitiv triste oder emotionale Szenen, aber das wird immer wieder aufgefangen, weil etwas Unerwartetes oder Komisches passiert. Und der Kameramann Johannes Praus hat auch viele wunderschöne Naturaufnahmen eingefangen.

Und tolle Tieraufnahmen!

Abma: Ja, es gibt dort ganz viele Tiere und eine großartige Fauna. Der Hausfuchs heißt Björn und taucht im Film ein paar Mal auf. Das Tierreich ist in der Wohngruppe tatsächlich sehr präsent – und das ist wunderbar!

Planungsgespräche spielen immer wieder eine wichtige Rolle (© Bandenfilm/Johannes Praus)
Planungsgespräche spielen immer wieder eine wichtige Rolle (© Bandenfilm/Johannes Praus)

Sie haben Regie geführt und auch das Drehbuch geschrieben. Gab es wirklich ein Buch, wie das die Redakteure manchmal gerne hätten?

Abma: Nach unserer Recherche haben wir wirklich einen sehr ausführlichen Filmplan geschrieben. Das muss man tun, um Fördergelder beantragen zu können. Das ist ein Drehbuch, das Szenen, Protagonisten und Protagonistinnen beschreibt. Was könnten die Ziele der jeweiligen Menschen im Film sein? Welche Szenen stellen wir uns vor? Welche Grundstimmung hat der Film? Wie ist das Bild- und Tonkonzept? Auf der anderen Seite passiert während der Dreharbeiten und in der Montage aber ganz, ganz viel, weshalb man immer weiter an der Dramaturgie bastelt. Während des Drehs standen wir auch im engen Austausch mit der Editorin, die eine wichtige beratende Funktion hatte. In dem Sinne, dass jetzt ist das und das passiert ist; sollen wir da dranbleiben oder lieber die andere Geschichte weiterverfolgen? So haben wir im Laufe der Dreharbeiten schon entschieden, welche Kinder im Film eine größere Rolle spielen. Das bedeutete, dass wir uns auf die anderen nicht mehr so stark fokussierten. Um die 42 Drehtage sinnvoll zu nutzen, mussten wir uns auf zwei Kinder und drei Erzieher und Erzieherinnen konzentrieren.

Wenn am Ende ein neues Kind in die Wohngruppe kommt, wirkt das fast wie ein Cliffhanger. Man fragt sich unwillkürlich, ob die Geschichte noch weitergeht? Könnten Sie sich eine Fortsetzung vorstellen?

Abma: Ich denke nicht, dass wir eine Fortsetzung machen werden. Als wir den Film der Wohngruppe gezeigt haben, gab es zwei Kinder, die ein wenig enttäuscht waren, dass sie im Film nicht so oft vorkommen. Frau Wagner musste den Kindern versprechen, dass sie uns den Wunsch übermittelt, einen zweiten Teil zu drehen, in dem die beiden dann die Hauptrolle spielen. Das hat sie auch bei der Premiere gesagt. Das Publikum und wir haben herzlich gelacht, denn es ist natürlich schön, so etwas zu hören.

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