Die neue Realverfilmung: "Drachenzähmen leicht gemacht" (© Universal Pictures International)

Von der Kunst, sich selbst zu zähmen

Über die Bindung junger Menschen an Fabelwesen und deren Bedeutung für die kindliche Entwicklung.

Aktualisiert am
12.06.2025 - 09:57:23
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Fantastische Wesen sind aus Kinderzimmern nicht wegzudenken. Sie bieten sich als spielerische Brücke an, um mit unbekannten oder bedrohlichen Seiten des Lebens zu experimentieren. Seit dem Animationsstoff „Drachenzähmen leicht gemacht“, der am 12. Juni als Realverfilmung neu in die Kinos kommt, gehören dazu auch feuerspeiende Drachen. Sie helfen Kindern als emotionale Projektionsflächen auf dem Weg beim Größerwerden, weil sie das verkörpern, was sich nur schwer in Worte fassen lässt: Ängste, Sehnsüchte, Mut oder Zweifel.

 

 

Der Animationsfilm „Drachenzähmen leicht gemacht“ (2010) von Chris Sanders und Dean DeBlois erzählt von dem jungen Wikinger Hicks, der in einem Dorf lebt, wo man seit Jahrhunderten Jagd auf Drachen macht. Starke Männer stellen sich gegen die Ungeheuer, die Unheil über das Land bringen. Doch dann begegnet der schmächtige Junge dem Drachen Ohnezahn, und es entwickelt sich eine unerwartete Freundschaft. Er erkennt, dass Drachen nicht die Ungetüme sind, für die sie gehalten werden. Das stürzt den zartbesaiteten Außenseiter in einem Zwiespalt zwischen den Anforderungen seines Vaters Haudrauf und seinem eigenen Gewissen. Bis er erkennt, dass Drachen und Wikinger eigentlich friedlich koexistieren könnten.

Im Grunde reicht eine einzige Szene aus, um die innige Freundschaft zwischen Kind und Kreatur vor Augen zu führen. Es ist die erste Annäherung zwischen dem schlaksigen Wikingerjungen und dem nachtschwarzen Drachen. Hicks schaut Ohnezahn an und streckt zaghaft-neugierig seine Hand aus. Der Drache schnaubt, zieht skeptisch seine Augen zusammen und knurrt verunsichert. Die Abwehrhaltung führt dazu, dass Hicks in einem furchtsamen Impuls seine Hand zurückzieht. Es ist eine Atmosphäre der Unsicherheit. Dann aber nimmt er all seinen Mut zusammen, wendet den Kopf zur Seite, schließt die Augen und streckt erneut die Hand aus. Er vertraut in diesem Moment darauf, dass ihm durch Ohnezahn keine Gefahr droht. Der Drache zeigt sich verwundert, schaut überrascht auf diese Geste des Respekts und auf die Sanftheit, die der Wikingerjunge in diesem Moment ausstrahlt. Die Hand näher sich, bis der Arm komplett ausgestreckt ist und kurz vor der Schnauze des Drachen verweilt. Es fällt kein Wort. Kein Befehl. Es ist eine stille Einladung zur Nähe. Und Ohnezahn nimmt sie an. Der Drache schließt ebenfalls die Augen und legt seine Schnauze in die Hand von Hicks. Die Verbindung ist gelungen, ganz ohne Pathos und große Gesten, als reine, ehrliche Emotion: Vertrauen, das sich zum ersten Mal hervorwagt.

Das animierte Original: "Drachenzähmen leicht gemacht" (DreamWorks Animation))
Das animierte Original: "Drachenzähmen leicht gemacht" (© DreamWorks Animation)

 

Weit mehr als Unterhaltung

Der Wikingerjunge Hicks bietet sich als wunderbarer Zugang zu dieser Fantasiewelt an, als Identifikationsfigur für Kinder. Hicks passt von Beginn an nicht ins Raster; er ist zu schmächtig, um ein echter Wikinger zu sein, und zu nachdenklich, um sich ungestüm und kriegerisch gegen die Drachen in den Kampf zu stürzen. In einer Gesellschaft, die sich über die Stärke definiert, wird er zum Außenseiter. Er beobachtet, grübelt und entdeckt, so wie sich auch Kinder die fremde Welt der Erwachsenen zu erklären versuchen, in der sie sich als Außenseiter erleben. Die Beziehung zwischen Hicks und Ohnezahn wird zum emotionalen Herzstück der ganzen Filmreihe. Was als vorsichtige Annäherung beginnt, wandelt sich zur tiefen, lebenslangen Freundschaft, die nicht nur Hicks und Ohnezahn verändert, sondern auch ihr gesamtes Umfeld.

Die Wikinger, die in bester Erwachsenen-Logik ihren Traditionen folgen und sich bislang mit der Zahl der von ihnen getöteten Drachen gebrüstet haben, beenden ihren ewigen Kampf, nachdem Hicks einem Monster in die Augen geschaut und Hass durch Empathie und Neugier ersetzt hat. Eine Geste, die wiederum das Vertrauen der Drachen weckt, die sich fortan mit den Wikingern verbünden. Nur durch die gegenseitige Akzeptanz gelingt ein Miteinander. Zuerst müssen die eigenen wilden Gefühle gezähmt werden, bevor sich auch das Gegenüber als gezähmt entpuppt.

Die Idee, dass sich zwischen einem Wikingerjungen und einem furchteinflößenden Fabelwesen eine tiefe Bindung entwickelt, klingt zunächst nach klassischer Fantasy. Nach schöner Unterhaltung, Abenteuer, Humor und vielleicht auch einer Prise Herz. Man könnte meinen, dass Kinder solche Fabelwesen wie Drachen schlicht deshalb spannend finden, weil sie fliegen oder Feuer speien können, oder weil sie etwas Besonderes sind, das sie in ihren Alltag niemals zu Gesicht bekommen werden.

Doch das wäre zu kurz gedacht. Denn es geht hier nicht nur um die Faszination für etwas Besonderes, sondern um weit mehr: um die emotionale Nähe, die zwischen Mensch und Tier entstehen kann. Ohnezahn bietet Hicks etwas, das er unter den Wikingern nicht findet: ein Gegenüber, das ihn annimmt, so wie er ist. Auch reale Tiere bieten Kindern seit jeher eine besondere emotionale Tiefe. Sie stehen für bedingungslose Zuneigung, für Vertrauen ohne Worte, für Nähe jenseits von sozialen Erwartungen. Sie sind Freunde, an denen man seine eigene Identität, sein Handeln und seine Gefühle ausleben und erproben darf, ohne beurteilt zu werden. Tiere können als emotionale Brücken dienen, indem sie helfen, die eigenen Gefühle auszudrücken und zu verstehen, während sie zugleich Gesellschaft und Unterstützung anbieten. „Elliot, das Schmunzelmonster“ (1977), „Mein Nachbar Totoro“ (1988) oder „Die Legende von Ochi“ (2025) erzählen auf ihre Weise von genau diesen fantastischen Freundschaftsbeziehungen – und wie kindlichen Protagonist:innen an ihnen wachsen.

"Mein Nachbar Totoro" (Universum)
"Mein Nachbar Totoro" von Hayao Miyazaki (© Universum)

 

Die Macht der Fantasie

Die Fabelwesen und die fantastischen Welten, in denen sie existieren, bieten für Kinder einen besonderen Zugang, den man aus Erwachsenensicht nicht immer nachvollziehen kann. Wir haben vergessen, wie sich das Spielen anfühlt, um „Hook“ (1991) von Steven Spielberg zu zitieren. Das Leben von Kindern spielt sich oftmals in der Fantasie ab, durch die sie sich vieles begreiflich machen. Mit imaginären Freund:innen und fantasievollen Spielen entdecken sie ihre Umgebung und lernen diese zu verstehen. So beschreibt es auch die Drehbuchautorin Beate Völcker in ihrem Buch „Kinderfilm“: „Die Verbindung von Realität und Fantasie kommt Kindern auf besondere Weise entgegen. In ihrem eigenen inneren Erleben haben Fantasie und Spiel eine andere, größere Bedeutung. Sie sind wesentliches Mittel und Strategie zur Aneignung der Welt und zur Problemlösung“.

Daher ist es etwas vorschnell, solche Geschichten als „reine Unterhaltung“ abzutun, wenn sie von Kindern als solche Spiele wahrgenommen werden, durch die sie auf verschiedenste Fragen Antworten erhalten. Storys wie „Drachenzähmen leicht gemacht“ erweisen sich als Erzählungen, die mit ihren abstrakten Ideen zwischen Alltag und Exzeptionellem, Realität und Fantasie vermitteln.

Wer also genauer hinschaut und unter die Oberfläche blickt, entdeckt, dass dort weit mehr verborgen liegt als Zeitvertreib und Unterhaltung. Es wird vielmehr von etwas sehr Echtem erzählt: von den leisen, manchmal schmerzhaften, aber auch wunderschönen Momenten des Erwachsenwerdens. Oder von der Bedeutung, gesehen zu werden. Gerade Kinder finden in solchen fantastischen Geschichten eine emotionale Heimat fernab der oft lauten, fordernden Realität. Wenn ein Kind einem Drachen die Hand reicht, dann reicht es sich selbst auch die Hand. Fabelwesen wie Drachen funktionieren für Kinder als Spiegel. Sie verkörpern das, was nur schwer in Worte zu fassen ist: Ängste, Sehnsüchte, Mut oder Zweifel. Sie zeigen, wie man sich mit diesen Gefühlen anfreunden kann, wie das Ungeheuer „Emotion“ nicht bekämpft werden muss, sondern mit etwas Vertrauen als Teil seiner selbst akzeptiert werden kann. Die Freundschaft zu einem Fabelwesen wie Ohnezahn steht für die Freundschaft zu sich selbst und der Akzeptanz von all dem, was dieses Selbst ausmacht – und sei es etwas Ungeheuerliches.

 

Kinder brauchen Fantasy

Das führt zu der Aussage „Kinder brauchen Märchen“ des Kinder- und Jugendpsychologen Bruno Bettelheim. Es liegt nahe, in animierten Fantasyfilmen wie „Drachenzähmen leicht gemacht“ moderne Märchengeschichten zu erkennen. Sie bieten ähnlich wie Märchen durch die Verknüpfung von fantastischen und realweltlichen Elementen eine Erzählebene an, die Bettelheim als unschätzbar wertvoll für Kinder betrachtet hat. Durch diese Geschichten würden sich Kindern ganz neue Dimensionen, Emotionen und Welten eröffnen, solche, die sie bisher noch nicht kannten, über die sie nie nachgedacht und in denen sie vielleiht auch noch nie „gespielt“ haben.

Sie bekommen dadurch die Möglichkeit, verwirrende innere Konflikte in einer Form zu erleben, die sie verstehen können. In ihrem fantasievollen Denken werden aus der bösen Hexe, dem finsteren Wald oder dem Ungeheuer Gefühle wie Angst, Einsamkeit oder Wut. Das Kind kann diesen Gefühlen im Fantastischen wahrhaftig begegnen. Es sieht sie von außen und kann bei sich selbst innere Ordnung schaffen. Das Märchen oder der Fantasyfilm zeigt Möglichkeiten auf, wie wilde, verwirrende Gedanken und Gefühle „gezähmt“ werden können. Bei Bettelheim sind diese fantastischen Orte und Wesen Werkzeuge der kindlichen Entwicklung, durch die Kindern realweltliche Strukturen spielerisch erfahrbar gemacht werden.

"Die Legende von Ochi" (Plaion Pictures)
"Die Legende von Ochi" mit Helena Zengel (© Plaion Pictures)

 

Damit bieten sie einen Ort, an dem man Angst haben und Fehler machen darf und trotzdem stark sein kann. Für Kinder ist das ein wertvoller Schutzraum. Das Beste daran aber ist, dass am Ende meistens alles gut wird. Ein Happy End. Nicht, weil alles perfekt ist, sondern weil die Hauptfigur sich selbst verändert und entwickelt hat. Mut wird belohnt, das Anderssein als Stärke wahrgenommen. All das wird durch die sichere Distanz der Fantasie erlebt. Solche Geschichten bieten Möglichkeitsräume, in denen (nicht nur) Kinder Anregungen und Strategien erfahren, um mit der Wirklichkeit umzugehen. Manchmal ist es wirklich ein Drache, ein Ungeheuer oder ein bedrohliches Gefühl, das einem dabei hilft, die wichtigsten Fragen des Lebens zu beantworten.

Umso schöner, wenn ein Film wie „Drachenzähmen leicht gemacht“ davon ohne Kitsch oder Moralkeule, aber mit einem tiefen Verständnis davon erzählt, wie feinfühlig und wandlungsfähig Kinderseelen sind. Solche Filme entwerfen ein starkes Bild davon, wie emotionale Reife entstehen kann: durch Annäherung, Empathie und Verantwortung und durch die Akzeptanz von Ängsten und Gefühlen. Wenn wir also zulassen, dass ein Kind einem Drachen begegnet, dann schenken wir dem Kind nicht nur eine Geschichte, sondern vielleicht auch die notwendigen Fähigkeiten, sich selbst zu zähmen.

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