Buchcover "Suzanne Pathé - Erinnerungen einer Filmpionierin" (© Schüren Verlag)

Filmliteratur: „Suzanne Pathé – Erinnerungen einer Filmpionierin“

Die Memoiren der Pathé-Nichte Suzanne zeichnen aus weiblicher Sicht die Anfänge der Weltfirma in Berlin und ihr eigenes Schicksal nach.

Aktualisiert am
20.06.2025 - 17:10:30
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Mit 13 Jahren kam die Nichte der Pathé-Brüder Charles und Émile Pathé mit ihren Eltern nach Berlin und übernahm im Sommer 1905 als Jugendliche die dortige Filiale des aufstrebenden Medienunternehmens. Die kommentierte Ausgabe ihrer Memoiren zeigt die Sicht eines Teenagers auf den Alltag in Paris und Berlin und zeichnet aus einer weiblichen Perspektive die Frühzeit des Kinos nach. Das sorgfältig edierte Werk enthüllt ein unbekanntes Kapitel der Weltfirma Pathé.

 

Am Anfang standen die Vorführungen des legendären Lumière’schen Cinématographe im Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris. Wenig später gründeten Charles Pathé und seine drei Brüdern Jacques, Émile und Théophile 1896 das Unternehmen Pathé Frères. Dank eines mit dem Phonographen im Jahrmarktgeschäft erworbenen Vermögens etablierte sich die Firma bis zur Jahrhundertwende als international bedeutendste Filmausstattungs- und Produktionsgesellschaft. Es war die Realisierung einer Vision, ganz ähnlich wie die ebenfalls aus bescheidenen Verhältnissen entstandene Compagnie von Léon Gaumont. Und durchaus vergleichbar mit dem Siegeszug ausgewanderter osteuropäischer Juden, die in den USA ein Imperium errichteten, das sich später Hollywood nennen sollte.

 

Eine Französin in Berlin

Die aus einer Bauern- und Metzgerfamilie stammenden Pathé-Brüder überwanden ihre Armut dank ungeheuren Fleißes und Geschäftssinns. „Schon als sie noch klein waren, mussten die vier Pathé-Söhne in der Küche im feuchten und dunklen Untergeschoss unter dem Hinterzimmer der Metzgerei bei der Herstellung von Würsten und Pasteten helfen. Für den Ältesten, meinen Onkel Jacques, war das Leben besonders hart. Schon als Jugendlicher arbeitete er vierzehn Stunden am Tag“, erinnert sich Suzanne Pathé, die Tochter von Théophile Pathé. Dass dieses Los seinerzeit an der Tagesordnung war, kann man auch in Charles Dickens’ Klassiker „Harte Zeiten“ nachlesen, der die sozialen Fragen der ersten industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts in England beschreibt.

Suzanne Pathé (1890-1982) kam im Herbst 1903 nach Berlin, wo ihr Vater, den sie als autoritär und großzügig charakterisiert, auf eigene Rechnung eine Zweigstelle der Pathé Frères eröffnete. Dem proletarischen Leben in Paris entkommen, übernahm sie zwei Jahre später als Teenager die Leitung der Berliner Filiale, da ihre Eltern zum Aufbau eines Filmstudios nach Paris zurückkehrten.

Suzanne Pathé
Suzanne Pathé (Schüren Verlag)

 

Die von Frank Kessler und Sabine Lenk herausgegebenen Memoiren der jugendlichen Geschäftsfrau Suzanne Pathé erzählen von der Goldgräberstimmung im Filmgewerbe kurz vor dem Umbruch in Herstellung und Vermarktung sowie der Veränderung des Publikums. Die in der Fondation Jérôme Seydoux-Pathé verwahrten Aufzeichnungen wurden für die Übersetzung gekürzt, mit Ergänzungen aus dem Typoskript und Korrekturen versehen. Suzanne Pathés Erinnerungen reflektieren auch die Spuren der Ehe mit dem jüdischen Unternehmer und Politiker Arthur Grünspan. Ebenso konstituierend war die gemeinsame Flucht im Jahr 1934 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich und in die USA.

Im Deutschen Reich konnte sich die „breite Bevölkerung“ um 1900 – im Gegensatz zu Frankreich – die Vergnügungen des Kinematographen noch nicht leisten. Théophile Pathé stieß deshalb in Berlin auf große Anlaufschwierigkeiten und musste neue Attraktionen akquirieren. Der Zuwachs auf Jahrmärkten verlief langsam; es fehlten Vorführapparate, technisches Equipment und Filme. Erst als Oskar Messter, der Berliner Fabrikant, große Stückzahlen der Projektoren lieferte, festigten interessantere und hochwertigere Sujets die Vorherrschaft der Pathès. Das Kinogeschäft in Paris wie in Berlin kannte jedoch keine Geschäftsmoral und keine Behörden- oder Marktaufsicht; es herrschte „skrupelloser Konkurrenzkampf“. Filmkopien wurden ohne Erlaubnis dupliziert; wirtschaftliche, technische oder inhaltliche Sabotage war an der Tagesordnung.

 

Aufschwung durch die Mittelklasse

Zehn Jahre nach der Einführung des Kinematographen stagnierte das Geschäft auf niedrigem Niveau. Erst die größere Bandbreite des Publikums in den Großstädten und die Varieté-Theater sorgten für eine überproportionale Steigerung. Nach 1905 eröffneten in der Reichshauptstadt ansprechendere Lichtspielhäuser mit bequemen Sitzen, die gutbetuchte Zuschauer der „Mittelklasse“ anlockten. Die exklusive Vertretung der Georges-Méliès-Firma Star Film bot Pathé zudem die Chance zur Diversifizierung. Aufgrund von Streitigkeiten im Pariser Mutterhaus versuchte sich Théophile Pathé als Fabrikant. Für sein einfaches „Filmstudio“ in Paris bezog er Rohfilm von Lumière und setzte seine anfangs enttäuschenden Erzeugnisse mit Mühe in Berlin ab, während die Kolorierung von Méliès-Filmen und Suzanne Pathés Begabung als Filmerklärerin dort für Erfolg sorgten.

„Die Lebenserinnerungen Suzanne Pathés sind ein bemerkenswertes Dokument, das die Frühzeit der Kinematographie aus ungewohnter Perspektive schildert. Zudem legen sie Zeugnis ab von den Lebensumständen einer Familie, die allen Widrigkeiten und Rückschlägen zum Trotz versuchte, sich hochzuarbeiten und dabei beim Aufbau der Filmindustrie in Deutschland und Frankreich Pionierarbeit leistete“, resümieren die Herausgeber im Vorwort. Ihr Buch bietet einen subjektiven, weiblichen Blick auf die Frühgeschichte der (europäischen) Kinematografie – jenseits nüchterner Verkaufszahlen und endloser Konkurrenzkämpfe ums kurzfristige Überleben.

Die Publikation vermittelt auch eine interessante Perspektive auf die Lebens- und Arbeitssituation von jungen, unverheirateten Frauen. Stellenweise lesen sich die Erinnerungen als traumatische Erfahrung einer Jugendlichen, die Harmonie und Missachtung innerhalb der Großfamilie miteinander in Einklang zu bringen versucht. Da ihre Onkel Charles und Émile den Vater „als unfähigen, hilfsbedürftigen armen Schlucker“ bezeichneten, ist es die unverkennbare Absicht von Suzanne Pathé, eine eigene Bewertung der Firmengeschichte vorzunehmen. Théophiles Schicksal, das vom Deutschland-Repräsentanten bis zum Verleiher, Produzenten und Regisseur reicht, ist heute selbst Insidern so gut wie unbekannt.

 

Staunenswerter Blick in die Frühgeschichte

Deshalb recherchierte und dokumentierte Sabine Lenk die Genealogie von Théophile Pathés Compagnie des Cinématographes als Ergänzung zur Einschätzung der Tochter. Trotz schwieriger Quellenlage und einigen Überschneidungen mit den Erinnerungen entwirft sie das Mosaik einer transnationalen Filmgeschichte und zeichnet die Organisationsstruktur einer innovativen Geschäftsidee und deren Wirtschaftlichkeit nach. So entsteht eine staunenswerte Momentaufnahme der frühen Stummfilmära bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Es sind spannende Blicke in das Innenleben einer Stand-up-Industrie ohne Sicherheitsnetz. Das Rad des technischen Fortschritts, neuer Publikumsansprüche sowie der Ausdifferenzierung komplexer Geschäftspraktiken drehte sich ohne Unterlass.

Das sorgfältige edierte, über 500 Seiten dicke Buch besticht durch eine ansprechende, gut lesbare Übersetzung. Druckqualität und aussagekräftige Abbildungen komplettieren diesen Eindruck. Die beiden seit Jahrzehnten als Experten ausgewiesenen Herausgeber liefern außerdem einen fundierten Anmerkungsapparat, der sich wie eine eigenständige filmhistorische Studie liest. Ohne vielfältige Unterstützung hätte ein solches Werk aber nicht entstehen können. Verdient gemacht haben sich: der Arthur Melbourne Cooper Fonds, das Amsterdamer EYE Filmmuseum und der Publikationsfonds des Zentrums für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Philipps-Universität Marburg, gefördert als Forschungsprojekt „Screen History. Rekonstruktion der Medienverbindung von Projektionskunst und Kinematographie (1880-1930)“ von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

 

Literaturhinweis

Suzanne Pathé – Erinnerungen einer Filmpionierin. Eine Jugend in Paris und Berlin um 1900“. Hrsg. von Frank Kessler und Sabine Lenk. Schüren Verlag. Marburg 2025. 504 S., mit schwarz-weißen Abb. 38 Euro. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.

 

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