Selbstbewusst erhebt das Filmfest München vor der 42. Ausgabe (27.6.-6.7.2025) den Anspruch, „Plattform Nr. 1 für das deutsche Filmschaffen“ zu sein. Es präsentiert eine ungewöhnlich hohe Zahl an experimentell angelegten und skurrilen deutschen Premieren. Ehrgeiz verrät auch die wachsende Zahl internationaler Weltpremieren. Ansonsten setzt das Programm aus 164 Filmen auf Bewährtes und zeigt deutsche und andere Highlights von A-Festivals wie Cannes, Venedig und San Sebastián.
Ein exklusiver Auftritt vor einem Publikum, das aus einem einzigen Zuschauer besteht: Ist das die ultimative Demütigung eines Künstlers oder Ausdruck maximaler Verehrung? In der britischen Komödie „The Ballad of Wallis Island“ kann sich der Folkmusiker Herb McGwyer nicht ganz sicher sein, was er von dem Ansinnen des reichen, aber sozial unbeholfenen Fans Charles Heath halten soll, der ihn – und seine frühere Partnerin – für ein Privatkonzert auf eine abgeschiedene Insel gelockt hat. In jedem Fall sind die Künstler auf das Geld angewiesen, sodass das exzentrische Angebot zumindest erwogen sein will.
Mit der beim Sundance Filmfestival uraufgeführten Komödie eröffnet am 28. Juni das 42. Filmfest München, was man durchaus als programmatisch verstehen kann. Mit seiner sympathischen Botschaft von Menschen, die aus ihren jeweiligen Schneckenhäusern herausgeholt werden, um sich auf womöglich prägende Erfahrungen einzulassen, kann „The Ballad of Wallis Island“ als Metapher für das Wunschbild stehen, das das Kino gerne von sich selbst verbreitet. Zudem berührt es das Selbstverständnis eines Festivals, das Filmschaffende ehren und normalerweise viel Publikum anlocken will. Nachdem München 2024 eine deutliche Steigerung der Zuschauerzahlen vermelden konnte, kann das Festival selbstbewusst in seine 42. Ausgabe (27.6.-6.7.2025) gehen. Zumal die auf sechs Jahre angelegte Vertragsverlängerung des Leitungsteams Christoph Gröner und Julia Weigl auch diesbezüglich eine stabile Grundlage für die Festivalplanung geschaffen hat.
Fokus aufs deutsche Filmschaffen
Waren die letzten Jahre von stetigen Fluktuationen bei der Zahl der Sektionen gekennzeichnet, kommt 2025 zwar mal wieder ein neuer Preis („Für das beste queere Langformat“), aber kein neuer Wettbewerb dazu. Gröner und Weigl setzen auf Kontinuität, wenn auch zum Teil mit offensivem Selbstbewusstsein: So tritt das Filmfest mit dem Anspruch an, die „Plattform Nr. 1 für das deutsche Filmschaffen“ zu sein. Das mag hoch gegriffen sein, doch in der mit 16 Filmen bestückten Reihe „Neues deutsches Kino“ fällt auf, dass experimentelle und inhaltlich skurrile Stoffe gegenüber geradlinigen Erzählungen in der Mehrheit zu sein scheinen. Wobei das Erzählkino durchaus mit vielversprechenden Werken vertreten ist, etwa mit „Sechswochenamt“ über persönliche und behördliche Auseinandersetzungen nach einem Todesfall während der Corona-Pandemie oder mit „Karla“, in dem ein 12-jähriges Mädchen in den 1960er-Jahren vor Gericht seine Eltern wegen sexuellen Missbrauchs anklagt.
Unkonventionelle visuelle Ansätze voraussetzen kann man beim jüngsten Streich von Nikias Chryssos, der mit „Rave On“ über die Identitätskrise eines DJs im Programm vertreten ist, aber auch beim Spielfilmdebüt der Schriftstellerin Jovana Reisinger. Ihr Film „Unterwegs im Namen der Kaiserin“ handelt von einem Wettstreit dreier Aspiranten, wer am besten als Reinkarnation der österreichischen Kaiserin Elisabeth (Sisi) in Frage kommt. Auch weitere Debütfilme versprechen alles andere als Allerweltsstoffe: In „Zweigstelle“ geraten Verstorbene im Jenseits in eine bürokratische Zwischenwelt, in „Danke für Nichts“ rebellieren Mitglieder einer betreuten WG gegen Vorschriften. Hinzu kommen Dokumentarfilme über eigensinnige Lebenskünstler: „The Klimperclown“ über Allround-Talent Helge Schneider, „Ausgsting“ über Wolfgang „Gangerl“ Clemens, der mit 80 Jahren auf ein halbes Leben als Aussteiger zurückblicken kann.
Aber auch etablierte deutsche Filmemacher stellen ihre neuen Werke in München vor. In „#SchwarzeSchafe“ kehren Oliver Rihs, sein Autorenteam und ein Teil des damaligen Ensembles zu der Episodenform von „Schwarze Schafe“ (2006) zurück und versprechen mit einem Clan-Chef als Klimaschützer, einer Genderpuppen-Erfinderin und weiteren abseitigen Charaktere erneut provokante bis grenzwertige Geschichten. Ebenfalls eine Fortsetzung, wenn auch deutlich weniger exzessiv angelegt, ist „Das Glück der Tüchtigen“ von Franz Müller. Wo sich in „Die Liebe der Kinder“ (2007) die jugendliche Mira (Katharina Derr) in ihren neuen Stiefbruder verliebte, zeigt der neue Film die nunmehr über 30-Jährige, die ihr Leben als verheiratete Mutter und Supermarktleiterin zu meistern versucht. Neue Wege in extremer Reduktion beschreitet derweil Dietrich Brüggemann: „Home Entertainment“ weist sich anhand eines Paares und seines mühsamen Unterfangens, zuhause gemeinsam einen Film anzuschauen, als Satire auf digitale Übersättigung aus.
Die Highlights der A-Festivals
Die größten deutschen Schmuckstücke im Programm bilden allerdings die Übernahmen aus Cannes: Der mit dem Preis der Jury geehrte „In die Sonne schauen“ erlebt in München seine Deutschlandpremiere, Christian Petzolds „Miroirs No. 3“ läuft als Abschlussfilm. Mit insgesamt 19 Filmen prägt Cannes ohnehin das Münchner Festival. Mit „Sentimental Value“ und „Sirât“ laufen zwei weitere Cannes-Preisträger, aber auch „Nur für einen Tag“, Richard Linklaters „Nouvelle Vague“ und Cédric Klapischs Historiendrama „Die Farben der Zeit“. Im Falle des „Slow Cinema“-Regisseurs Lav Diaz hat sich München sowohl seinen neuesten Film „Magalhães“ wie auch sein vorletztes Werk „Phantosmia“ gesichert. Andere Filmemacher von Weltrang sind Mike Leigh und François Ozon, deren in München gezeigte Werke „Hard Truths“ respektive „Wenn der Herbst naht“ bereits 2024 in San Sebastián liefen, das für die Auswahl von München ebenso eine Rolle spielt wie Venedig, Sundance oder auch Toronto. So ist von dem kanadischen Festival der letztjährige Publikumspreis-Gewinner „The Life of Chuck“ vertreten.
Allein mit dem Nachspielen von A-Festival-Highlights will es das Filmfest aber nicht bewenden lassen. Der vor einigen Jahren getroffene Beschluss, auch internationalen Filmen in München zu Weltpremieren zu verhelfen, wird von Jahr zu Jahr mit mehr Nachdruck verfolgt. 2025 gibt es bereits zehn solcher Premierenfilme, darunter die Max-Frisch-Adaption „Stiller“, mit „The Exposure“ eine freie Bearbeitung von Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ durch den Schweizer Thomas Imbach sowie mit „Zweitland“ und „Comandante Fritz“ weitere historische Sujets, die mal dramatisch, mal komödiantisch daherkommen. Im Dokumentarfilm „Germaine Acogny – Die Essenz des Tanzes“ wird die „Mutter des afrikanischen zeitgenössischen Tanzes“ gewürdigt, „The Last Spy“ von Katharina Otto-Bernstein porträtiert den Weinhändler Peter Sichel (1923-2025), der als Holocaust-Überlebender in der Nachkriegszeit für die CIA arbeitete. Die Hälfte der Weltpremieren läuft in der „CineCoPro“-Sektion, womit das Filmfest dieser noch jungen Reihe in ihrem dritten Jahr weitere Aufmerksamkeit verschaffen will.
CineRebels & CineKindl
Neben all dem Sperrigen, für das insbesondere der ebenfalls noch recht frische „CineRebels“-Wettbewerb steht, umfasst München aber auch wieder Beiträge mit extremer Publikumsaffinität. Unter den Fernsehpremieren sticht „Oktoberfest 1905“ hervor, die Fortsetzung der Miniserie „Oktoberfest 1900“ mit weiteren Konkurrenzkämpfen zwischen Brauereien um die Vormacht auf dem Volksfest. Unter den Serien-Premieren finden sich zudem eine deutsche Variante zu der israelischen Jugend-Sucht-Serie „Euphoria“ unter dem Titel „Euphorie“; Aufmerksamkeit dürfte auch „Miss Sophie – Same Procedure As Every Year“ wecken, die sich an eine „Vorgeschichte“ zum Silvester-Klassiker „Dinner for One“ wagt.
Ein Selbstläufer ist in der „CineKindl“-Auswahl der Einblick in die zweite Staffel von „Neue Geschichten vom Pumuckl“, aber auch der Animationsfilm „Tafiti - Ab durch die Wüste“ nach der bereits mehr als 20 Bände umfassenden Kinderbuch-Reihe über die Freundschaft zwischen einem Erdmännchen und einem Pinselohrschwein dürfte bei den jüngsten Besuchern des Filmfests auf Interesse stoßen. Daneben finden sich auch ungewöhnliche Kinder- und Jugendfilme, etwa „Hola Frida“ als farbenfrohe Annäherung an die Malerin Frida Kahlo. Mit „Das Sommerbuch“ läuft eine Adaption des Jugendromans von Tove Jansson, in der Glenn Close in die Rolle der unkonventionellen Oma schlüpft, die ihrer Enkelin auf einer finnischen Insel unverhoffte Einsichten über das Leben vermittelt.
Der Großteil der vielen Preisverleihungen konzentriert sich auf das Abschlusswochenende, einige Auszeichnungen werden aber schon früher vergeben. Dazu gehören die Ehrungen des schwedischen Darstellers Stellan Skarsgård und der US-Schauspielerin Gillian Anderson für ihr Lebenswerk am 29. Juni beziehungsweise 1. Juli, oder auch die Verleihung des Fritz-Gerlich-Preises am 2. Juli. Dieser erinnert an den von den Nazis ermordeten Publizisten, indem ein Film aus dem Festivalprogramm ausgezeichnet wird, der „in couragierter Weise ein Thema aufgreift, das publizistischen Niederschlag erfahren hat“. Nominiert sind in diesem Jahr der Dokumentarfilm „Born to Fake“ von Erec Brehmer und Benjamin Rost über den Selfmade-Journalisten Michael Born, der in den 1990er-Jahren über 20 Beiträge für das Privatfernsehen fälschte, bevor er entlarvt wurde, sowie die beiden Spielfilme „Brides“ und „Oxana“. Das britische Drama „Brides“ handelt von zwei Teenagerinnen, die nach Syrien reisen wollen, um Kämpfer des Islamischen Staats zu heiraten, „Oxana“ porträtiert die ukrainische Malerin und „Femen“-Aktivistin Oksana Schatschko.