In Kirill Serebrennikows „Das Verschwinden des Josef Mengele“ (seit 23.10. im Kino) spielt August Diehl den Lagerarzt von Auschwitz über den Verlauf von Jahrzehnten, vom jungen Aufsteiger im NS-Regime bis zum todgeweihten Greis. Auch hier zeigt sich die besondere Gabe des deutschen Schauspielers, seinen Figuren Abgründe mitzugeben, die nie gänzlich nach außen dringen, und sie gerade dadurch faszinierend zu machen. Das hat ihn international zum gefeierten Kinodarsteller gemacht, der bei Quentin Tarantino ebenso gut aufgehoben ist wie bei Terrence Malick, und stets den Menschen hinter Archetypen und Klischees findet. Eine Würdigung.
Sein Auftritt lässt den Raum verstummen. Die Nadel kratzt noch auf der Schallplatte, als Sturmbannführer Hellstrom, seinen Bierstiefel noch in der Hand, zum Tisch der antifaschistischen Verschwörer schreitet. Es ist die zentrale Szene des Films, für die Quentin Tarantino August Diehl auf die „Inglourious Basterds“ loslässt und dem brillanten Gestapo-Monster, das er spielt, die Kontrolle gibt. Wo seine Augenbrauen sarkastisch springen, lässt der Film die Satire zu, erlaubt einen Umweg zum „Wer bin ich?“-Spiel, in dem Hellstrom die Regeln diktiert, als einziger Spaß hat und mitnichten das Ensemble der Verschwörer vom Tisch entlässt. Er gönnt sich seine Ausschweifungen, seinen so scharfsinnigen wie niederträchtigen Monolog zu „King Kong“. Die finale Konfrontation steht für ihn längst fest.
Als sie kommt, lässt Diehl einen winzigen Blick auf das Innenleben des so rätselhaften wie unnachgiebigen Gestapo-Offiziers zu, öffnet einen winzigen Spalt, durch den für einen kurzen Moment etwas Menschliches durchbricht: Angst. Angst vor dem Schmerz, der ihn erwartet, wie der neben ihm sitzende Stiglitz (Til Schweiger) verdeutlicht, als er ihm seine Pistole direkt in den Unterleib drückt. Für einen Moment ist das Gestapo-Ungeheuer ein fühlendes Wesen, das am Leben oder zumindest an seinen Hoden hängt. Bereits im nächsten Satz hat Hellstrom die Fassung und den Spott wiedergefunden, verhöhnt den jungen Vater hinter ihm und den englischen Major vor ihm, bevor sie alle den Tod finden.
Im Kino ein Nomade
Diehls Auftritt in „Inglourious Basterds“ ist der Höhepunkt des Films und zu diesem Zeitpunkt wohl auch ein Höhepunkt seiner Karriere – nur aber eben nicht der alleinige. Zeitgleich zu den Dreharbeiten mit Tarantino probt der gebürtige Berliner mit Theaterlegende Peter Zadek. Auf der Bühne hat er bereits mit allen Großen gearbeitet: Luc Bondy, Klaus Michael Grüber, Andrea Breth et cetera. Im Kino sieht es kaum anders aus: Terrence Malick, Robert Zemeckis, Raoul Peck, Michael Glawogger, Volker Schlöndorff etc., etc. Hier ist August Diehl, anders als im Theater, wo er lange an der „Burg“ in Wien spielte, ein Nomade: er dreht überall, in verschiedenen Sprachen, spricht deutsch, englisch, französisch, russisch – wahlweise mit leichtem, kaum hörbarem oder breitem Akzent. Gewissermaßen spiegelt das das Umherschweifen seine Kindheit. Als Sohn des Schauspielers Hans Diehl und einer Kostümbildnerin muss er viel umherreisen. Ein Refugium findet die Familie später in der Auvergne, weit draußen in der Wildnis, wo sie ein Haus besitzt, das Diehl, wie er in Interviews sagt, auch heute noch gerne besucht.
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Diehl lebt seit Jahren in Berlin. Künstlerisch aber bleibt er ein Getriebener, der, wie es scheint, alles spielen muss, eben auch, weil er alles spielen kann. Die schönste Umschreibung dazu stammt von ihm selbst: „Es ist wie eine Reise, von der fremde Leute sich später Urlaubsbilder anschauen und sie langweilig finden können“, sagt er in einem Interview mit „kultur.west“. Die gleiche Reise wiederholen möchte Diehl offenkundig nicht, oder vielleicht eher: das gleiche vorfinden möchte er nicht. Der Gestapo-Offizier Hellstrom etwa, den er bei Tarantino gibt, ist nur einer von dreien, die er bisher verkörperte. Für Volker Schlöndorffs „Der neunte Tag“ (2004) spielte er bereits zuvor den jungen Gestapo-Mann Gebhart, dessen Aufgabe es ist, den Willen des von Ulrich Matthes gespielten Abbé Henri Kremer zu brechen. Nur ist dieser Gebhart eben kein Lebemann-Schurke, der ohne Zögern sich und alle um sich herum in die Hölle hinabzerrt, sondern jemand, der sich gerne als Geistlicher betrachten möchte, der sich selbst, wenn er den Judas zu Ulrich Matthes’ Christus-Figur spielt, eine theologische Rationalisierung zurechtbastelt, um das eigene Gewissen verstummen zu lassen.
Hollywood-Legende Robert Zemeckis besetzt ihn in „Allied“ erneut als Gestapo-Offizier, der die Résistance, in diesem Fall von Marion Cotillard und Brad Pitt verkörpert, enttarnen will. Auch hier verlässt sich Diehl nicht auf das, was er bereits in Perfektion bei „Inglourious Basterds“ ablieferte. Stattdessen gibt er den kalten, geradezu beiläufig bedrohlichen Paragraphenreiter in SS-Ausgeh-Uniform, dem jegliches Charisma jenseits der eigenen Bedrohlichkeit abgeht; der die unangenehme Stille beim Party-Smalltalk mit einem eiskalten „Heil Hitler“ tötet, bevor er sich in Richtung der eigenen Pflichten aus dem Film verabschiedet. Diehl hat keine Schablone, findet den Menschen, der hinter den Archetypen, hinter den Uniformen, hinter den Klischees verborgen liegt.
Faszination im Verbergen
Die Faszination, die Diehls Spiel aus diesen Figuren holt, liegt dabei nicht in der Offenbarung, sondern im Verbergen. Bereits in seinem Kinodebüt „23 - Nichts ist so wie es scheint“ (1998), unterlegt Diehl seine Figur, den Hacker Karl Koch, mit einer Melancholie, die sich zunächst nicht zeigen will. Karl lernt die Freiheit, wenn er sich für eine Mutprobe in der Bahn einen Joint anzündet, bevor er laut „Die Gedanken sind frei“ anstimmt. Und doch ist er nie gelöst, kann seine bürgerlichen Wurzeln, so sehr er sie verachtet, nie durchtrennen. Das Erbe des Vaters wirft Karl zum Fenster hinaus, er kann aber nie die Scham vergessen, die er empfand, als der Vater ihn kurz vor dessen Ableben als „linken Verräter“ bezeichnete und öffentlich ohrfeigte. Diehl findet das Leben seiner Figur in dieser Scham, die stets unterdrückt bleibt. Sebastian verliert sich tiefer in Verschwörungstheorien, während er mit einem Hack nach dem anderen Industriegeheimnisse an die Sowjetunion weitergibt, alles im Glauben, eine Widerstandsbewegung gegen die Illuminaten (oder vielleicht doch das großbürgerliche Erbe des Vaters) loszutreten.
Viele von Diehls Figuren rennen, verzweifelt wie dieser Karl, gegen eine Realität an, um sukzessive an ihr zu zerbrechen. Als Günther Scheller ist Diehl ein weiteres Mal ein junger Mann, der wahnhaft an einer Idee hängt. In „Was nützt die Liebe in Gedanken“ (2004) ist die Liebe diese Idee und Scheller der ihr verschriebene, aus der Zeit gefallene junge Werther. Zusammen mit dem Dichter Paul Krantz (Daniel Brühl) schließt er einen Selbstmordpakt, der als Steglitzer Schülertragödie in die Geschichte der Weimarer Republik einging. Überhebliche, fragile und dumme Jungen sind die beiden, wenn sie mit dem Revolver und der Liebe spielen, bis beide mit aller Gewalt zusammenkommen. Diehls Scheller begehrt den Geliebten der Schwester Hilde (Anna Maria Mühe), teilt sich seinen Kuss mit ihm, verliert ihn aber wieder und wieder an die Schwester, bis er sich das Leben nimmt, an dem er bis zum letzten Moment mit so pathetischer Kraft hängt.
Der einzige Weg aus dem Wahn führt direkt durch ihn hindurch. Eine der reinsten und schönsten Formen eines solchen Wahnsinns gibt Diehl in „Der Räuber Hotzenplotz“ (2022), wo er als böser Zauberer Petrosilius Zwackelmann so genüsslich wie manisch an Kulissen knabbert, wie es ihm selten erlaubt wird. Überhaupt ist die Komödie das einzige Filmgenre, das in Diehls Filmografie nur am Rande vorkommt. In Michael Lokschins Roman-Verfilmung „Der Meister und Margarita“ (2024) gibt Diehl Herrn Woland, Michail Bulgakows Version des Mephisto, der sichtlich Freude daran hat, das lange nicht besuchte Moskau ins Chaos zu stürzen. Als Teufel im Körper eines gefährlichen Dandys drängt er sich zwischen die Parteioffiziellen, lässt sie enthaupten, thront über den Bürgern der Sowjetunion und lümmelt auf den Canapés der Kulturelite rum, während seine eigentlichen Motive hinter der „Faust“-Zeile „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ verborgen bleiben.
Ein Rest Rätsel bleibt
Ein Enigma begleitet und belebt seine Figuren. Auch dort, wo Diehl es nicht an die Oberfläche lässt. In Michael Glawoggers „Slumming“ (2006) spielt er den Yuppie Sebastian, einen quasi-allegorischen Charakter, der im Leben nichts vorhat, einem Mephisto nicht ganz unähnlich, nur ein paar Domino-Steine anstoßen möchte, um zu beobachten, ob noch etwas mit ihnen umfällt. Als spätpubertierender Yuppie ist Diehl auch eben deswegen so spannend, weil er das Enigma auch dort weiter behauptet, wo der Film um ihn herum es längst aufgelöst hat. Sebastian ist eine gänzlich leere Figur. Die Fassade eines Lebemanns, der täglich andere Frauen trifft. Denn eigentlich will er nichts von ihnen, außer das eventuelle Foto, das er macht, wenn er heimlich seine Handykamera zwischen ihre Beine richtet. Falls es dort nichts Interessantes zu sehen gibt, denkt er sich das nächste Spiel aus, jenseits jeder Moral, jenseits jeden Reifeprozesses und überhaupt jenseits von allem, was nicht die eigene Eitelkeit zu füttern vermag. Warum? Weil er’s kann?
Es bleibt ein unerklärlicher Rest in Diehls Figuren. Etwas versucht aus ihnen nach außen zu dringen, um in den kleinen Momenten, die im Kino die Welt bedeuten, tatsächlich einmal durchzubrechen. In „Die Fälscher“ (2007) ist er der unnachgiebigste der KZ-Häftlinge, die sich um den von Karl Markovics gespielten jüdischen Meisterfälscher Sally Sorowitsch scharen. Wo Sally sich der Realität des Lagers beugt, die Privilegien annimmt, die die SS ihm und seinen Mitarbeitern gewährt, nimmt Diehls Figur Burger nicht einmal das Jackett an, das allen Fälschern anstatt der Häftlingsbekleidung ausgeteilt wird. Burger will den Aufstand, nicht weil er sich Hoffnung auf Erfolg macht, sondern weil er ein Zeichen setzen will. Er scheint sein Menschsein gänzlich zum Märtyrer-Tod hin auszuhärten, wäre da nicht der eine Moment, in dem Burger eine Druckpresse sieht. Burger fällt schluchzend in sich zusammen, das Lagerwesen bricht zusammen, erinnert sich an das Menschsein, fühlt wieder etwas.
Bei Kirill Serebrennikow in „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist es das Menschliche, das Monströse und die Mittelmäßigkeit des Josef Mengele, die Diehl spielt – zu Zeiten des „Dritten Reichs“, zu Zeiten des Exils. Als junger Aufsteiger und als dahinsiechender Choleriker zeigt Diehl seine erstaunliche Fähigkeit, das Innenleben seiner Figuren gegen den eigenen Körper anbranden zu lassen, bis es aus ihnen herausbricht.
Geist und Körper
Seine wohl größte Rolle zeigt das auf bitterste und berührendste Weise. Terrence Malicks „Ein verborgenes Leben“ basiert auf dem Schicksal des Landwirts Franz Jägerstätter, der 1943 als Kriegsdienstverweigerer wegen sogenannter „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet wurde. Trotz der historischen Unausweichlichkeit des Schicksals und der moralischen Unerschütterlichkeit des Protagonisten führen die bildlichen und motivischen Bewegungen des Films eben nicht direkt auf einen Moment der Erlösung hin. Sie strömen, der Freiheit des Bewusstseins und einer Freiheit des Glaubens folgend, in Richtung von etwas, das den Menschen übersteigt. August Diehl und Valerie Pachner gehen als Franz und Fani Jägerstätter gänzlich in dieser schwebenden Bewegung auf, finden zwischen sich das unerschütterliche Zentrum, eine zunächst auf Berührung und später, im Briefwechsel zwischen beiden, von Worten getragene Liebe, aber auch die an ihr nagende Geschichte. Für Jägerstätter existiert kein Zweifel an dieser Liebe, kein Zweifel an seinem Glauben, an seiner moralischen Überzeugung. Sein Körper aber muss die Entschlossenheit des Geistes mühsam erlernen, während er die Berührungen seiner Frau, die Umarmungen seiner Kinder verlernt. Diehl geht diesen Weg mit ihm – wird unerschütterlich, bleibt unergründlich.