Am 3. September 1999 begann Heinrich Sabl mit der Arbeit an „Memory Hotel“. Was er nicht wusste: Er wird 25 Jahre an dem Projekt sitzen. „Memory Hotel“ ist mehr als nur ein Film. Es ist eine über mehr als zwei Jahrzehnte gelebte Utopie, eine Hommage an den analogen Stop-Motion-Film und ein Zeitzeuge des Sterbens der Kopierwerke – getrieben von Heinrich Sabls Bedürfnis, von eigenen Lebenserfahrungen und Biografien seines Umfeldes zu erzählen.
Heinrich Sabl ist eine starke Stimme im Independent-Kino. Der 1961 unweit von Görlitz geborene Regisseur wurde bekannt durch Kurzfilme wie die Mini-Hommage „100 Jahre Kino“ (1995), aber auch verstörendes Puppentheater wie „Père Übu“ (1997) und „Mère Übu“ (1998) über ein machtbesessenes und tötendes Paar. Sabls Filme sind stets für Erwachsene gedacht. So auch „Memory Hotel“ (Kinostart: 30. Oktober 2025). In dem 25 Jahre währenden Mammutprojekt geht es um die fünfjährige Sophie, die im Mai 1945 auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee ihre Eltern und ihre Erinnerung verliert. Sie wächst in einem militärischen Mikrokosmos in einem verlassenen Hotel auf, wo sich Sowjets niedergelassen haben, ein Nazi-Offizier (namens Scharf) und ein Hitlerjunge (Beckmann), der sich im Luftschutzkeller versteckt. Sophie wohnt in der Küche im Keller des Hotels und bereitet fortan das Essen für die Sowjets zu.
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Heinrich Sabl, der in einer Arbeitersiedlung in der DDR groß wurde, schrieb seine Eindrücke nieder – nie eins zu eins, aber doch biographisch inspiriert. In der Schule hörte er Sprüche wie „von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, doch ansonsten bekam er nichts von den Russen mit. Durch eine Freundin erlebte er eine ganz andere Realität. „Sie führte mich nach Jüterbog in einen Ort namens ‚altes Lager‘.“ Rechts und links der Straße waren Häuser angesiedelt, in der Nähe des Ortes war ein Militärflughafen der sowjetischen Armee. „Ich fand das so unglaublich, dass wir beide im gleichen Land groß geworden sind. Sie hat aber eine ganz andere Biografie als ich, weil sie in einer russischen Garnisonsstadt gewohnt hat.“ In „Memory Hotel“ schafft Sabl nun ein Universum von Schuld und Kriegsveteranen, Sehnsucht, Trauma und Einsamkeit.
1995 stand der erste Drehbuchentwurf unter dem Arbeitstitel „Hotel 2000“ fest. Mit einem kleinen Team von etwa zehn Menschen und 500.000 D-Mark in der Tasche begann Heinrich Sabl kurz vor der Jahrtausendwende sein filmisches Abenteuer, gefördert durch die kulturelle Filmförderung in Sachsen, die kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern, die Behörde für Kultur, Sport und Medien in Hamburg (heute MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein) und die Filmboard Berlin-Brandenburg (heute Medienboard Berlin-Brandenburg). Der Film sollte nach vier Jahren fertig sein. Doch der Regisseur hatte sich und seinem Team zu viel zugemutet.
Aufwendige Außendrehs mit mannshohem Modell
Beim ersten Außendreh im Jahr 2000 transportierte er Hotelkulisse, Kamera, Stativ und weitere Ausstattung in einem riesigen LKW, einem 7,5-Tonner Richtung Ostsee. Die Leuchtschrift des Hotels verblieb in Mecklenburg-Vorpommern, weil das Team plante, wiederzukommen. Es kam nie dazu.
Sabl verabschiedete sich ziemlich bald von dem früheren Hotel-Entwurf, in dem eine Mauer das Gebäude umgrenzte, und setzte das Hotel auf ein Plateau. Teile des alten Modells verbaute er im neuen Set. Entschied sich von einer „relativ naturalistischen Darstellung hin zu einer abstrakteren Version des Hotels. Das Plateau kann man auch mit einem Panzer, einem U-Boot vergleichen. Oder was auch immer.“ Das sei der Fantasie der Zuschauenden überlassen. Manche erinnere es sogar an eine Kirche.
Von circa 2003 bis 2011 fuhr die Crew jedes Jahr im Herbst mit neuem Hotel-Set aufs Land, um insgesamt 30 Film-Sekunden zu drehen. In einer Szene, die ganz am Anfang des Filmes steht, fahren Sophies Eltern mit der Fünfjährigen Fahrrad. Oder Sophie, schon älter, sitzt auf dem Dach des Hotels. Oder sie steht an einem Bootssteg. Ungefähr vier Jahre habe es gedauert, bis Heinrich Sabl bei dieser Szene mit dem Verlauf der Wolken zufrieden war. Gedreht wurde vor allem in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bad Freienwalde. In der Hoffnung, dass das Wetter wieder so sei wie beim letzten Dreh. Alles musste passen. Ein Geduldsspiel, das Sabl gut beherrschte.
Auf der Suche nach einem neuen Team
Als die alte Crew zerbrach, blieb er allein mit seiner Kollegin Gesine Richter zurück. Machte weiter. Auch, weil er sich den Förderern gegenüber verpflichtet fühlte. Heinrich Sabl wollte kein staatliches Geld „verbrennen“ – und so traf er sich jeden Tag mit Richter, um neue Pläne zu schmieden. Um jemanden zu suchen, der neue Kulissen und die Figuren baut. Sie fanden langfristig in Franck Michel eine neue Mitstreiterin. „Sie war zu der Zeit in Italien als Bühnenbildnerin engagiert. Immer, bevor sie zum Flughafen gegangen ist, ist sie ins Atelier, damals noch in Pankow, gekommen und hat ganz schnell was modelliert.“ Das funktionierte gut. Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2001. 2008 zog die Produktion von Pankow nach Französisch Buchholz.
Sophie, Nazi-Offizier Scharf, Beckmann und Wassili sind 30, vielleicht 40 Zentimeter groß. Eine eher ungewöhnliche Größe, so Sabl. „Die meisten Trickfilmer haben sehr kleine Figuren. Ich habe einen sinnlicheren Zugang zu den Figuren, wenn sie größer sind.“ Haptik sei ihm wichtig. Sabls Figuren sind robuster, deshalb kann man zum Beispiel Wassilis Beine mit Schrauben im Boden verankern. Was gerade bei Außendrehs von Vorteil war. Es gab nur eine Sophie, einen Nazi-Offizier Scharf, einen Wassili und einen Beckmann, bestehend aus einem Metallskelett mit Schaumstoffüberzug. Ging eine Figur kaputt oder war sie abgegriffen, musste man auf neues Material aus den USA, speziellen GM-Schaum, warten.
Durch die Finanzkrise gab es Lieferschwierigkeiten, doch Sabl drehte weiter. Nie chronologisch, weil er immer schauen musste, was gerade möglich war. „Man verliert das Zeitgefühl. Wenn was gefehlt hat, wenn jemand nicht verfügbar war, dann habe ich gewartet. Einfach gewartet.“ Wer ein anderes Engagement hatte, sagte ab oder sprang ganz ab. Es gab immer etwas zu tun, also hieß warten einfach immer: umdisponieren. Das Team konnte sich gut selbst motivieren: „Wir haben uns gesagt: Morgen oder übermorgen sind wir fertig. Wir haben es wenigstens für den Moment geglaubt. Das war ja letztendlich das Spiel: dass wir immer das Unmögliche denken mussten.“
Zwei Wochen für eine Film-Sekunde
„Memory Hotel“ ist hundert Minuten lang. Für eine Film-Sekunde benötigt man 24 Bilder. Das sind umgerechnet 6.000 Sekunden und damit also 144.000 Einzelbilder. Manchmal schaffte er 20 Sekunden an einem Tag. Als Sabl eine Explosionsszene, in der Glas zerschmettert, animierte, dauerte es zwei Wochen. Im Film ist das weniger als eine Sekunde. Besonders langwierig waren Szenen ohne Bewegung. Für den Monolog von Wassili benötigte Sabl vier oder fünf Wochen. „Ich habe mich in diesen Text hineinbegeben und mich ‚eingeschlossen‘. Ich war dann Wassili für die Zeit. Da gab es kein Telefon, keine Verabredungen – nur diesen Text, Wassili und mich.“ Irgendwann habe es sich richtig angefühlt.
Animieren war stets aufwändig. Wer zu schnell animieren wollte, machte vielleicht einen Fehler. Da konnte es sein, dass das eingesparte Tempo zu Rückschlägen führte. „Das Licht zu setzen und die Kamera richtig zu positionieren, brauchte pro Take ein oder zwei Tage. Um nicht Gefahr zu laufen, dass am nächsten Tag eines der Lämpchen durchgebrannt war, durfte man die Glühlampen am eingerichteten Set nicht ausmachen.“ Im Anschluss animierte Sabl so lange, bis er einen guten Ausstieg fand: „Wechselst du eine Lampe und verrückst sie nur einen Millimeter, dann sieht alles sofort anders aus!“ Manchmal übernachtete Sabl sogar im Atelier.
Im Wettlauf mit der Zeit
Die Kamera für „Memory Hotel“, eine tschechische Cinephon-Kamera aus den 1930er-, vielleicht auch 1940er-Jahren, hatte der Filmemacher günstig nach dem Mauerfall aus Beständen des Dresdner DEFA-Studios für Trickfilme erworben. Meist wurde die 40 Kilo schwere Kamera von einem Stativ gehalten, das um die offenen Kulissen postiert wurde. Alles analog. „Manchmal, auch wenn kein Geld für die Entwicklung da war, haben wir die Filme in den Kühlschrank gelegt, bis wir sie zum Labor bringen konnten.“ Dann musste er eventuell ein Dreivierteljahr nach einem Dreh auf das fertige Material warten und konnte erst dann entscheiden, ob etwas misslungen war oder gelungen. „Aber in der Regel konnten wir das Material nach circa zehn Drehtagen sehen.“
Mit der Digitalisierung begann für Heinrich Sabl dann ein Wettlauf mit der Zeit. Das Kopierwerk „Film und Videoprint GmbH Berlin“ war 2008 bereits insolvent, was Sabl nicht wusste: „Acht Jahre waren weg oder neun! Unser Material war verschwunden, musste zurückgeholt und der Filmproduktion wieder zugeführt werden!“, erklärt der Berliner. Damals gab es auch Bemühungen von öffentlicher Seite wie von der Filmboard (Berlin-Brandenburg), dass alle Filmemacher:innen ihr Material zurückerhalten.“ Es klappte. Am 17. September 2013 war Heinrich Sabl der letzte Kunde beim Geyer-Kopierwerk, 2015 fuhr er nach München zu Arri, um weiterzuentwickeln.
Heinrich Sabl entdeckte echte Magie
Von 2013 bis 2017 animierte Heinrich Sabl mit Unterstützung eines Beleuchters und des zweiten Kameramanns Andreas Schild. Das Negativ des Filmes war digital eingescannt, also konnte er sich digital ausprobieren – und fand Gefallen daran: „Manchmal hatte ich nur ganz kurze Takes, vielleicht fünf, sechs, sieben Bilder, das ist in Bewegungsbildern gerechnet eine Viertel-Sekunde und dann habe ich diese Bilder wie in einem Kartenspiel genommen und immer wieder neu und anders montiert, bis im Schnitt eine völlig neue Bewegung entstanden ist. Das war Magie! Echte Magie!“
Bis 2019 fanden Testvorführungen in kleinem Kreise statt. Alle Figuren waren von Sabl eingesprochen, die echten Stimmen kamen später. Musik, Geräusche und Töne waren noch nicht perfekt. „Es sind Figuren, keine Menschen. Eine fremde, kreierte Welt. Deswegen waren diese Testvorführungen dann eher ernüchternd,“ aber man habe gemerkt, dass der Film beim Publikum was auslöse. Ein weiterer Motivationsschub für Sabl.
Die Sprachaufnahmen des Filmes dauerten ungefähr drei Jahre. Die Sprecher:innen, Svenja Liesau (Sophie als Jugendliche), Dagmar Manzel (Sophie) und Milan Peschel (Beckmann) trafen auf Anton Peisakhov (Wassili), den Sabl nur zufällig entdeckte: „Anton ist unser Cellist. Er hat einmal die Band mit ras, dwa, tri (eins, zwei, drei) eingezählt. Da habe ich gewusst: Das ist die Stimme von Wassili!“
Am Ende hatte Sabl 15.000 Bildschnitte, circa 14 animierte Filmstunden aus vielleicht 3.700 Drehtagen. Und trotzdem war er nicht fertig. Denn das Drehbuch hatte Sabl so konzipiert, dass an wichtigen Stellen unverrückbar leere Seiten lagen, um auf aktuelle Geschehnisse reagieren zu können. „Ich habe fast alle Seiten beschrieben!” Die letzte leere Seite beschrieb er 2022, als der Ukraine-Krieg ausbrach. Heinrich Sabl veränderte das Ende, was ihn weitere hundert Drehtage kostete.
Der Regisseur und Animationskünstler ist allen Förderern und den TV-Sendern sowie privaten Geldgebern dankbar, die an sein Projekt geglaubt haben. Er weiß, dass die Arbeitsleistung an „Memory Hotel“ bis heute, würde er sie branchenüblich berechnen, unbezahlbar ist. Fragt man Sabl, ob er den gleichen Weg nochmal gehen würde, wenn er wüsste, was ihn erwartet, bejaht er. „Beckmann, Sophie und Wassili waren immer bei uns, saßen mit am Frühstückstisch und sind mit uns schlafen gegangen. Sie haben es vermocht, diese 25 Jahre auszufüllen – zusammen mit all denen, die Teil der solidarischen Gemeinschaft waren. Memory Hotel ist keine Einzelleistung. Dass es gelungen ist, lag an der Bereitschaft der Crew. Ich hätte das allein nie zu Stande gebracht.“