Mit ihrem Thriller-Drama „A House of Dynamite“, in dem es um die Reaktion der USA auf einen potenziellen atomaren Angriff geht, warnt Regisseurin Kathryn Bigelow eindringlich vor den möglichen Folgen nuklearer Hochrüstung. Über 60 Jahre zuvor versuchte Stanley Kubrick mit seiner Farce „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ Ähnliches. Eine vergleichende Analyse.
Am Anfang steht ein Farbbild, das das Ende bedeuten könnte. In Kathryn Bigelows Film „A House of Dynamite“, der seit dem 24. Oktober bei Netflix angeschaut werden kann, hat zuvor eine Schrifttafel erklärt, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs die Weltmächte erkannten, dass es besser wäre, mit weniger Nuklearwaffen auszukommen. Nach einem kurzen Schwarzbild kommt der Nachsatz „Diese Ära ist nun vorbei“. Dann folgt das erwähnte Filmbild: Nach einer schweren Explosion schießt ein Feuerball gen Himmel. Auch wenn es nicht der klassische Atompilz ist, der hier aufsteigt, ist klar, was mit dem Bild gemeint ist: Die unmittelbare Folge der Anwendung einer Atomwaffe.
Ein anderer Film hatte 62 Jahre zuvor mit solchen Bildern aufgehört: In Stanley Kubricks Film „Dr. Strangelove, or How I Learn to Stop Worrying and Love the Bomb“ (Dr. Seltsam oder Wie ich lernte die Bombe zu lieben) sind mehrere Atombombenexplosionen in Schwarz-weiß zu sehen, geschnitten zu den schmelzend-schmalzigen Klängen von Vera Lynns „We’ll Meet Again“, bei denen die aufsteigenden Explosionswolken die erwähnte Pilzform annehmen. Kubrick drehte diesen Film auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, von deren Ende der Vorspann des Bigelow-Films spricht. Und tatsächlich haben beide Filme mehr gemein als nur den Bogen, der zwischen ihnen zeitlich gespannt ist.
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Die Folgen der nuklearen Hochrüstung
Beide thematisieren die Folgen einer nuklearen Hochrüstung, bei der alle Mächte, die über Atomwaffen verfügen, in ein kompliziertes System eingespannt sind. In diesem System, das aus einer umfassenden Satellitenüberwachung und einer weltweit verteilten Stationierung von Atomwaffen besteht, führt bei allen atomar bewaffneten Ländern jeder Reiz, der durch ein verdächtiges Signal wie dem vermeintlichen Start einer gegnerischen Rakete, die das eigene Land erreichen könnte, ausgelöst wird, fast automatisch zu einem Gegenschlag. Für dieses System wurden diverse Szenarien möglicher Aggressionen ausgeschrieben und in Handlungs- und Befehlsketten überführt. Das bekannteste Zeichen dafür ist die Aktentasche, die stets jemand in der Nähe des US-Präsidenten bei sich führt. In ihr stecken die Befehle für die jeweiligen Reaktionsszenarien, mit denen dann ein atomarer Gegenschlag angeordnet werden kann.
„A House of Dynamite“ erzählt eine Geschichte, wie sie sich in der Gegenwart abspielen könnte: Die Überwachungssatelliten der USA erfassen eine Interkontinentalrakete, die Atomsprengköpfe tragen könnte, nicht beim Start, sondern erst im Orbit. Woher sie kommt, wissen die Soldaten, die den Weltraum beobachten, also nicht. Sie können aber ihr Ziel errechnen: Chicago. Und sie wissen, wann sie dort einschlagen würde – in weniger als 20 Minuten –, wenn sie nicht vorher abgefangen würde. Was in dieser knappen Zeitspanne geschieht, zeigt der Film auf vielen gesellschaftlichen Ebenen der USA – von den Militäreinheiten über die Regierung und ihre Gremien bis zum Präsidenten, der am Ende über einen etwaigen Gegenschlag entscheiden muss. Um der Vielfalt dieser Ebenen gerecht zu werden, hat der Drehbuchautor Noah Oppenheim zu einem dramaturgischen Trick gegriffen. Er erzählt das, was in den 20 Minuten seit Entdecken der feindlichen Rakete geschieht, gleich drei Mal.
In kürzester Zeit von der Normalität an die Schwelle eines Atomkriegs
Im ersten Teil mit dem Titel „Inclination is Flattening“ (Bahnneigung nimmt ab) konzentriert sich der Film auf die Militär- und Regierungseinheiten, die von der Rakete erfahren, Gegenmaßnahmen ergreifen und die anderen Instanzen bis zum Präsidenten über den Vorfall informieren. Der zweite Teil handelt davon, wie die politischen und militärischen Instanzen auf die Lage reagieren und wie sie sich und das Land auf den „Worst Case“, dass Chicago von einer Atombombe getroffen würde, vorbereiten. Im dritten Teil geht es darum, wie die USA auf den Angriff reagieren sollen; mittlerweile gehen Militärs wie Politiker davon aus, dass die Rakete von Nordkorea abgeschossen wurde, auch wenn selbst die Geheimdienste dafür kein Motiv erkennen können. Aber jede atomare Gegenreaktion der USA riefe automatisch und unmittelbar auch Russland und China auf den Plan. „Nichts ergibt Sinn“, sagt der von Idris Elba gespielte US-Präsident, der mit seinem Charme und seiner sportlichen Präsenz an Barack Obama erinnert.
Alle drei Teile beginnen in einer harmlos scheinenden Normalität, in der ein Baseballspiel die Gespräche bestimmt, und in der viele Personen ihren kleinen privaten Problemen und Verheißungen nachhängen. Erst als nach wenigen Minuten der Versuch scheitert, die Rakete abzuschießen, eskaliert das immer hektischer werdende Geschehen. Selbst abgebrühte Politiker und Soldaten erfasst Panik. Viele versuchen, ihre Angehörigen zu warnen, während der Rest der Gesellschaft noch nicht einmal ahnt, was gerade vor sich geht. Und wiederum andere nehmen telefonisch in Worten, die nichts von dem sich abspielenden Drama verraten, Abschied von Eltern, Partnern und Kindern.
Alle drei Teile laufen auf den Moment zu, in dem nicht nur die Rakete und möglicherweise die Atombombe in Chicago einschlägt, sondern in dem der Präsident den Gegenschlag entscheiden muss. Da der erste Teil vieles vorab erklärt, ist er mit 39 Minuten der längste. Der zweite dauert 33 Minuten, und der dritte ist mit 29 der kürzeste, ehe ein kurzer Epilog folgt, der die Besiedelung eines autarken Atombunkers in den Bergen von Pennsylvania zeigt. Die Differenz der addierten Filmzeit von 103 Minuten zu der offiziellen Gesamtlänge von 112 erklärt sich durch den mehr als zehnminütigen (!) Abspann, den Netflix allerdings wie üblich nach zwei Minuten in ein kleineres Bildfenster verlagert.
Bis in kleinste Nebenrollen gut besetzt
Kathryn Bigelow hat oft genug bewiesen, dass sie Action auf dem höchsten Niveau inszenieren kann, ob es sich um Banküberfälle („Point Break – Gefährliche Brandung“ von 1991), Militäreinsätze („The Hurt Locker – Tödliches Kommando“ von 2008) oder bürgerkriegsähnliche Zustände („Detroit“ von 2017) handelt. Mühelos gelingt es ihr auch, notwendige Informationen über die militärischen und politischen Abläufe, die beteiligten Institutionen, die zahlreichen Fachbegriffe und vor allem die Vielzahl der Abkürzungen in die Handlung zu integrieren; mal geschieht das über Texteinblendungen auf den Bildern, mal über Monitore und Hinweisschildern in den Bildern. Zugleich besitzt die Regisseurin ein Gespür für ungewöhnliche Besetzungen, was einst nicht zuletzt Patrick Swayze als Surfer und Bankräuber in „Point Break“ bewies. In „A House of Dynamite“ sind jedenfalls selbst die kleinsten Nebenrollen gut besetzt.
Wenn man böse wäre, könnte man sagen, dass Idris Elba der Regisseurin als fast schon zu gut für die Figur des Präsidenten erschien. Das erklärte die bissige Bemerkung von dessen Sicherheitsbeamten, der ihn wie seine beiden Vorgänger des Narzissmus zeiht. Ein Urteil, das er durch den Nachsatz, der jetzige Präsident würde anders als seine Vorgänger wenigstens Zeitung lesen, eingeschränkt wird. Aber selbst das wird im Film dadurch relativiert, dass der Präsident das zentrale Sprachbild des Films – man lebe in einem Haus voller Dynamit -, das ihm ja auch den Titel verleiht und in einer leichten Variation den dritten Teil überschreibt, nicht einer Zeitung, sondern einem Podcast entnommen hat.
Im Angesicht einer sich nahenden Katastrophe
Viele der handelnden Personen werden kurz durch private Geschichten oder Alltagsszenen vorgestellt. Eine leitende Regierungsangestellte sorgt sich um ihr krankes Kind, das ihr Mann in eine überfüllte Arztpraxis bringt. Ihr Kollege ist nervös, weil er sich an diesem Tag verloben will. Ein Soldat krümelt seinen Arbeitsplatz, von dem er immerhin den Abschuss der Abfangrakete startet, mit Kartoffelchips voll. Der Sicherheitsberater telefoniert, während er noch mit dem Kaffeebecher in der Hand die Sicherheitsschleuse im Weißen Haus überwinden muss. Die Frau des Präsidenten weilt auf Safari in Afrika. Und der Verteidigungsminister versucht sein Golfspiel zu verbessern. Das alles wird nur kurz angedeutet, dient denn auch keiner Charakterisierung, sondern soll vielmehr das Leben vor der Katastrophe, die kurz nach Filmstart unaufhaltsam auf alle zurollt, als eine Normalität feiern, die zu leben lohnt.
Bigelow verschränkt grandios die vielen und gesellschaftlich unterschiedlichen Ebenen. Mühelos springt der Film nicht nur von Ort zu Ort quer durch die USA, sondern auch von der Politik zum Militär und wieder zurück. Personen, die zu Anfang nur im Hintergrund zu sehen sind, rücken später in den Vordergrund. Der Präsident beispielsweise ist erst im dritten Teil zu sehen, weil er dienstlich bei einem Sportevent weilt, ehe er hektisch an einen sicheren Ort gebracht wird. Eine Frau, die im Zivilschutz arbeitet, taucht im zweiten Teil auf, um dann Teil der Gruppe zu sein, die in den Bunker nach Pennsylvania gebracht wird. Vieles, was man zunächst im Off hört, erklärt sich erst später, wenn man im zweiten oder dritten Durchgang im Bild sieht, was zu diesen Tönen führt. Und der seit dem gescheiterten Abfangversuch laufende Countdown synchronisiert die auf viele Räume im Weißen Haus, in den Militärbasen, in den Ministerien und im Zivilschutz verteilten und von der Regie bestens choreografierten Handlungen.
Die Instablilität vermeintlich sicherer Schutzmechanismen
Jeder Teil hat seine eigene Spannung. Fragt man sich zunächst, was genau mit der Interkontinentalrakete geschehen wird, stellt sich anschließend die Frage, wie das Militär und die Regierung die Lage einschätzen, ehe es darum geht, für welchen militärischen Gegenschlag sich der Präsident entscheidet. Das Ende scheint offen zu bleiben, weil der Film nach der Ankündigung des Präsidenten, nun seine Befehle zu erteilen, ein stummes Schwarzbild anfügt.
„A House of Dynamite“ führt mit seinem dramatischen Ablauf, dem man sich emotional kaum entziehen kann, vor Augen, wie instabil die vermeintlich sicheren Schutzsysteme sind. Verblüfft erfahren Politiker, dass die Chance, eine Interkontinentalrakete abzuschießen, bei 61 Prozent liegt; es sei eben so, als wolle man mit einer Kugel eine andere treffen: „Hitting a Bullet with a Bullet“ (so ist auch der 2. Teil überschrieben). Die Militärs wiederum merken, dass sie Teil eines automatisierten Ablaufs sind, in dem es für sie kaum noch etwas zu entscheiden gibt. Und vom Geheimdienst erfährt man, dass in China das Abwehrsystem mittlerweile der KI (also der künstlichen Intelligenz) überantwortet wird, als wäre das Abwehrsystem der USA mit seinen fixen Ablaufplänen etwas anderes als Algorithmen, in denen KIs entscheiden.
Doomsday Machine 2.0
Um die nicht zu leugnenden Schwächen des Films herauszuarbeiten, hilft ein Vergleich mit dem zu Beginn erwähnten Kubrick-Film, an dessen Genauigkeit im Detail sich Bigelow deutlich orientiert hat. „Dr. Strangelove“ ist eine Farce. Aber das Lachen, das einem angesichts der in ihren Routinen und ihren Floskeln befangenen Politiker und Militärs befällt, bleibt einem im Hals stecken, wenn die Geschichte geradezu folgerichtig auf die Vernichtung der Erde zuläuft. Damit das erzählerisch funktioniert, übernimmt Kubrick die Erfindung einer literarischen Vorlage, nach der die Sowjetunion eine „Doomsday Machine“ entwickelt hat, die automatisch die Welt zerstört, sobald ihr Land atomar angegriffen wird. Diese Zukunftsmaschine der 1960er-Jahre hat sich gleichsam zu einer computerbasierten Zwangslogik weiterentwickelt – eine Soft- und keine Hartwarelösung mehr wie ehedem.
Die Perfidie der filmischen Erzählung von „Dr. Strangelove“ gipfelt darin, dass man dank der Inszenierung in der Schluss-Szene mit dem Piloten, den der wunderbare Slim Pickens spielt, mitfiebert, dass ihm im Innern des Langstreckenbombers B-52 eine notwendige Reparatur gelänge. Unbeschadet dessen, dass erst diese den Abwurf der US-Bombe auf eine sowjetische Stadt ermöglicht und somit für das Ende der Erde sorgt, so wie wir sie kennen. Dann folgen wie oben beschrieben die erwähnten und zu Musik elegant montierten Dokumentaraufnahmen der Atompilze. Zuvor war zudem die Idee, dass sich eine kleine Gruppe von Menschen in einen Bunker rettet, in einer zynischen Rede eines aus Deutschland stammenden Beraters (Peter Sellers) als eine Irrwitzidee entlarvt worden, die an den Elitarismus der Nazis erinnerte.
Das Filmende von „Dr. Strangelove“ deutet an, dass es andere Erzählformen als die des klassischen Spielfilms mit seiner auf Identifikation angelegten Erzähl- und Montageform bedarf, um der Logik des militärischen Komplexes beizukommen. Es sei denn, man beschiede sich mit der Vorstellung, dass alle irgendwie Opfer wären.
Wer hat das House of Dynamite gebaut?
In „A House of Dynamite“ kommt an keiner Stelle die Frage auf, wer eben dieses Haus baute und wer am Dynamit verdiente. Es wird auch nicht untersucht, ob und wie ein Schutzschild, der ja im Kalten Krieg mit seiner polaren Ordnung zweier Weltmächte funktionierte, in einer Zeit mit mehreren atomar bewaffneten Großmächten weiterentwickelt werden kann. Stattdessen hofft man im Film nach der Logik der Identifikation, dass es Idris Elba irgendwie gelingen könnte, gleichsam salomonisch einen Ausweg aus der katastrophalen Lage zu finden. Wie sehr ein solcher Wunsch in die Irre führt, wird einem klar, wenn man daran denkt, wer heute über den nuklearen Befehlscode der USA verfügt.