1. Wer Michael Glawoggers Filme verstehen will, muß Abschied nehmen von einer Sichtweise, die zwischen Dokumentar-, Spiel- und Experimentalfilm unterscheidet, sowie von der Idee, daß das Bewegungsbild mehr ist als ein Einzelbild, dem Bilder vorangehen und dem Bilder folgen. Filme können auf einer anderen als der rein materiellen Ebene nie wahr sein, nur wahrhaftig, indem sie Gedankengänge, Herzsprünge nachzeichnen. Dennoch: Es ist erstaunlich, wie viele Menschen an der Idee vom Dokumentarfilm als Sprachrohr der Wahrheit, vom dokumentarischen Bild als dem Hort der Wirklichkeit festhalten. Dabei wird im Augenblick der Aufnahme zunächst einmal Wirklichkeit in Rohmaterial transformiert – ein Stück Zelluloid mit „etwas darauf“ ist das Ergebnis. Dem Zelluloid ist es dabei gleichgültig, ob man zur Herstellung dieser Bildfolge einen großen Aufwand getrieben hat oder die Kamera einfach irgendwo hin- und dann anstellt; so wie es ihm auch gleichgültig ist, ob jemand vor der Kamera sein Leben ausbreitet oder einfach nur gut lügt: Es ist nicht der Obmann, nur der Bedeutungsträger. Die endgültige Bedeutung entsteht woanders und/oder zu einem anderen Zeitpunkt.2. Der Dokumentarfilm unterschied sich zunächst vom Spielfilm durch seinen inszenatorischen Impetus: Er zeigte einem die Dinge, wie sie sind oder waren (Flaherty, der einem Inuit das Speerfischen beibringen mußte). Daß dies zumeist mit einem vergleichsweise gewaltigen Aufwand an Regiearbeit verbunden war, störte niemanden: Es verstand sich von selbst, daß man die Realität schaffen und ihr eine Ordnung geben mußte. Das änderte sich, der Theorie zur Folge, mit Direct Cinema und cinéma vérité: Nun wollte man nicht mehr inszenieren, nur noch registrieren. Dennoch blieb der Akt des Formens und der Sinnproduktion – das Aufnehmen, Schneiden, Vertonen –, derselbe, egal, wie die Bilder entstanden.Die wichtigste Entwicklung seit den späten 50er Jahren bestand in der beständig steigenden Zahl an produzierten Bewegungsbildern. Waren sich die Menschen früher noch sicher, daß es einen Unterschied zwischen ihnen und den Menschenabbildern gab – und daß die bewegten wie bewegenden Silberschatten auf der Leinwand etwas Besonderes waren –, so wurde man zunehmend mehr von Bildern umgeben, die schließlich so viele waren, daß sie eine eigene Realität bildeten. Kann der einzig mögliche Widerstand dagegen nicht allein darin liegen, die Differenz zwischen dem Leben und seinem Abbild zu betonen und die Bilder wieder zu etwas Wahrhaftig-Besonderem zu machen? Sich daran zu erinnern, daß es ein Hier und ein Anderswo gibt? Davon handelt ganz explizit Michael Glawoggers Kino-Debüt „Krieg in Wien“ (1989, realisiert in Co-Regie mit Ulrich Seidl und erweiterter Co-Autorenschaft mit Andrea Wagner und Ortrud Bauer).3. Michael Glawogger wurde am 3.12.1959 in Graz geboren. Er ist bis
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