Ein Herbstnachmittag

Drama | Japan 1962 | 115 Minuten

Regie: Yasujirô Ozu

Ein mit seinen beiden erwachsenen Kindern lebender Witwer erkennt Anfang der 1960er-Jahre plötzlich, wie sehr er seine Tochter an sich bindet und ihr dadurch unbewusst eine eigene Familie verwehrt. Der letzte Spielfilm von Yasujiro Ozu beschreibt eine radikal veränderte „moderne“ Gesellschaft, in der das Leben nicht mehr nach traditionellen, sondern individuellen Vorstellungen organisiert wird. Mit großer Ruhe und zärtlichem Einfühlungsvermögen werden die mit den Zeitläuften verbundenen existentiellen Konflikte beschrieben. Der Gegensatz der Generationen, der Bedeutungswandel von Familie und Elternhaus, das Problem des Alterns und der damit drohenden Einsamkeit werden allerdings nicht fatalistisch ertragen, sondern mit einem gewissen Amüsement zur Kenntnis genommen. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
SANMA NO AJI
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
1962
Produktionsfirma
Shochiku (Ofuna)
Regie
Yasujirô Ozu
Buch
Yasujirô Ozu · Kôgo Noda
Kamera
Yûshun Atsuta
Musik
Kojun Saitô
Schnitt
Yoshiyasu Hamamura
Darsteller
Chishû Ryû (Shuhei Hirayama) · Shima Iwashita (Michiko Hirayama) · Shinichiro Mikami (Kazuo Hirayama) · Keiji Sada (Koichi) · Teruo Yoshida (Miura)
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Melancholisches Drama um einen verwitweten Mann, der Anfang der 1960er-Jahre vor der Frage steht, ob er seine Tochter, die ihm den Haushalt führt, nicht endlich verheiraten soll.

Diskussion

Das Lied solle sie spielen, sagt Yoshitarō (Daisuke Kato) zu der Frau hinter der Theke. Sie weiß sofort, was gemeint ist. „Das Lied“ wird offensichtlich öfter gewünscht. Gleich darauf erklingt in der Bar ein Militärmarsch. Der Mann hebt seine Hand zum militärischen Gruß an die Stirn und beginnt, an der Theke auf und ab zu marschieren. Auch ein anderer Gast, Shūhei (Chishū Ryū), hebt die Hand an die Stirn. Die beiden Männer haben einst im Pazifikkrieg gemeinsam auf einem Kriegsschiff gedient, Shūhei als Kapitän, Yoshitarō als einfacher Soldat.

Allzu martialisch wirkt die feuchtfröhliche Reminiszenz an die Schlachtfeldvergangenheit allerdings nicht. Yoshitarō ist ein rundlicher, leutseliger Typ, während Chishū Ryū, der Lieblingsschauspieler von Yasujiro Ozu, ein schmaler, zerbrechlich anmutender Mann, besonders fragil wirkt. „Gut, dass wir den Krieg verloren haben“, meint Shūhei, als das Lied zu Ende ist. Yoshitarō, der gerade noch enthusiastisch auf einem imaginären Kriegsschiff marschiert ist, zögert kurz, stimmt dann aber zu: „Stimmt. Die Militaristen können uns nicht mehr auf die Nerven gehen.“

Nostalgie & nüchterne Kritik

Nostalgie und nüchterne Kritik stehen in „Ein Herbstnachmittag“ nebeneinander, geraten jedoch nicht miteinander in Konflikt. Die Erinnerung an die Kameradschaft als Teil der japanischen Militärmaschinerie und das Urteil über die totalitäre Politik, der diese Maschinerie diente, werden nicht aufeinander bezogen. Das ist das Schöne an der Demokratie, die sich in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte und zu derem frühen Chronisten Ozu in seinem Nachkriegswerk wird: dass die neue Zeit es den Menschen erlaubt, nicht alles im Leben unter denselben Nenner zu zwingen.

Die Kehrseite dieser Freiheit, ein Leben nach eigenen, oft in sich widersprüchlichen Wünschen und Vorstellungen, ist die Vereinzelung. Einst marschierte man tagaus, tagein gemeinsam auf dem Deck des Kriegsschiffes, heute höchstens noch alle paar Wochen einmal nach Feierabend, in diesem Fall dank einer bloßen Zufallsbegegnung im Suff.

Zerbrochen ist jedoch nicht nur die faschistische Kriegsgemeinschaft; auch die Familie, das zentrale Thema fast aller Ozu-Filme, gibt immer weniger Halt. Es ist ein eigenartiger Zufall, dass sich im letzten Film von Yasujiro Ozu so wenig „echte“ Familienszenen finden wie in kaum einem seiner anderen. Der Film, und vermutlich auch seine Hauptfigur Shūhei, halten sich lieber in Kneipen als zuhause auf, bei Besäufnissen und Lästereien im Freundeskreis. Vielleicht zieht Shūhei sogar das Büro vor, wo er mit seinen Kollegen und Sekretärinnen einen vergleichsweise unbeschwerten Umgang pflegt.

Der Bruch der Familientradition

In den eigenen vier Wänden sieht er sich dagegen mit einem Problem konfrontiert, dem er nicht lange mehr ausweichen kann. Seitdem seine Frau gestorben ist, führt seine Tochter Michiko (Shima Iwashita) ihm und seinem jüngsten Sohn Kazuo den Haushalt; allerdings ist Michiko längst im heiratsfähigen Alter, und es läge an Shūhei, ihr einen Bräutigam zu suchen. Das allerdings würde bedeuten, dass er im Alter allein leben muss.

Es ist der Anblick eines anderen Mannes, der Shūhei die Dringlichkeit seiner Lage vor Augen führt. Eines Bekannten, der einst vor demselben Problem wie er jetzt stand, und der sich damals entschied, seine Tochter bei sich zu behalten. Heute hasst er sich dafür, während die ledig gebliebene Tochter Tränen der Frustration vergießt. Damit ist für Shūhei die Entscheidung gefallen: lieber gar keine Familie als eine solche.

Wie sich in der Folge eine Familie dem Druck der Umstände beugt und der traditionelle Vorrang des Patriarchats dem Willen zur Selbstbestimmung einer neuen Generation weicht, zeigt einmal mehr, dass sich unter der vermeintlichen Seelenruhe der Ozu-Filme die gnadenlosen Zahnräder der Veränderung drehen. Die in starren, wiederkehrenden Einstellungen sich entfaltenden Geschichten erzählen gerade nicht von der ewigen Wiederkehr der Generationen. Vielmehr vollziehen sie, in unterschiedlichen Variationen und Härtegraden, den Bruch nach, den die Moderne für die traditionelle japanische Sozialstruktur bedeutet. Wie die rotierenden Werbetafeln, die in „Ein Herbstnachmittag“ gelegentlich im Hintergrund zu sehen sind, dreht sich die Welt in den Filmen von Ozu nur in eine Richtung. Die Zeit geht vorwärts, und die Menschen gehen mit, ob sie wollen oder nicht.

Die Liebe zu Golfschlägern

Ein Fatalist ist Ozu deshalb noch lange nicht. Wenn die traditionelle Familie zerbricht, muss man das nicht betrauern; es ist doch viel angenehmer, amüsiert ihre Scherben zu betrachten. Da ist zum Beispiel der Freund Shūheis, der nach dem Tod seiner Gattin eine junge Frau im Alter seiner Tochter geheiratet hat. Die Trinkkumpanen gönnen ihm den zweiten Frühling, machen sich aber auch über die Belastungen lustig, die die neue Ehe für seine Potenz bedeuten könnte.

Shūheis ältester Sohn Kōichi wiederum ist zwar verheiratet, mit Akiko, aber die beiden haben keine Kinder. Sondern stattdessen einen Sack mit Golfschlägern, um die sich ein ziemlich komischer Ehestreit entspinnt, nachdem Kōichi sie gegen Akikos Willen ins Haus bringt. Kōichi ist von diesen Dingern geradezu besessen; zärtlich streichelt er das Sportgerät, preist bei jeder Gelegenheit dessen Qualitäten und übt Schläge auf den heimischen Sofakissen. Ob die Schläger für die Kinder einstehen, die das Paar nicht hat, oder für eine andere Frau, die zu Akiko in Konkurrenz treten könnte? So viel Zuwendung wie diese Golfschläger erhält in „Ein Herbstnachmittag“ jedenfalls kaum ein Mensch.

Und was wird aus Shūhei? Die Besitzerin einer Bar, die er gelegentlich frequentiert, sieht seiner verstorbenen Frau ähnlich. Ein bisschen, zumindest ihre untere Gesichtshälfte, aus einem bestimmten Winkel. Ein Hauch von Vertrautheit, von familiärer Intimität. Das muss reichen.

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