Der gewöhnliche Faschismus

Dokumentarfilm | UdSSR 1965 | 133 (ARD 123) Minuten

Regie: Michail Romm

Dokumentarfilm-Klassiker, in dem Michail Romm die überlieferten Bilder des Dritten Reichs hinterfragt. Aus rund zwei Millionen Metern Material des Reichsfilmarchivs, aus Wochenschauen und Fotos einzelner Soldaten filtert er Momente, die belegen, wie sehr das nationalsozialistische Deutschland auf Massensuggestion, Auslöschung des Denkens und der Vernunft sowie auf unbedingten Gehorsam gegenüber dem "Führer" setzte. In beeindruckenden Montagen zeigt er die Verwandlung der zivilen Menge in eine uniformierte Gesellschaft. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
OBYKNOWENNYJ FASCHISM
Produktionsland
UdSSR
Produktionsjahr
1965
Produktionsfirma
Mosfilm
Regie
Michail Romm
Buch
Michail Romm · Maja Turowskaja · Juri Chanjutin
Kamera
German Lawrow
Musik
Alemdar Karamanow
Schnitt
Michail Romm · Valentina Kulagina
Länge
133 (ARD 123) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Längst gehört Michail Romms „Der gewöhnliche Faschismus“ zu den Klassikern des internationalen Dokumentarfilms. Der 1901 geborene Regisseur, der bis dahin vor allem Spielfilme gedreht hatte, wollte diese Arbeit als sehr persönlichen Essay verstanden wissen. Deshalb stellt er sich am Anfang selbst den Zuschauern im Bild vor und lädt mit seinem emotionalen, mitunter pathetischen, dann wieder sarkastischen Kommentar zum Nachdenken ein. In 16 Kapiteln wirft Romm einen Blick hinter die überlieferten Bilder des „Dritten Reichs“, befragt und deutet sie: Aus rund zwei Millionen Metern Material des Reichsfilmarchivs, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee erbeutet worden waren, aus Wochenschauen und Fotos einzelner Soldaten filtert er diejenigen Momente, die belegen, wie sehr das nationalsozialistische Deutschland auf Massensuggestion, Auslöschung des Denkens und der Vernunft sowie auf unbedingten Gehorsam gegenüber dem „Führer“ setzte. In beeindruckenden Montagen zeigt er die Verwandlung der zivilen Menge in eine uniformierte Gesellschaft oder von Fackelzügen in Militärparaden, kontrastiert Urlauber der NS-Ferienorganisation „Kraft durch Freude“ mit ausgemergelten Bewohnern des Warschauer Ghettos, dokumentiert Aufnahmen, in denen sich Wehrmachtssoldaten stolz lächelnd neben Gehenkten, Gefolterten, Gepeinigten fotografieren ließen. Eine Fotomontage aus Auschwitz zeigt das Haus des Lagerkommandanten. Seine Frau. Seine Freunde. Seine Erholung. Seine Arbeit, wobei die letzte Kommentarsentenz durch Bilder von Leichenbergen begleitet wird. Zu den wesentlichen Stilprinzipien des Films gehört das Herausheben einzelner Gesichter. Satirische Kontraste ergeben sich beispielsweise dadurch, dass Romm die laut Nazipropaganda „unedlen“ Schädel von Einstein, Puschkin, Tolstoi oder Marx gegen die vermeintlich „edlen“ der Nazigrößen Bormann, Röhm und Streicher schneidet: Letztere wirken, und so soll es ja auch sein, wie Anführer einer Räuberbande. Geradezu zärtlich blendet Romm die Gesichter einiger Widerstandskämpfer ein, darunter Sophie Scholl. Marlene Dietrich ist eine eigene kleine Sequenz gewidmet: „Alles nahm seinen gewohnten Lauf, nur: Marlene Dietrich kehrte aus politischen Gründen nicht nach Deutschland zurück.“ Stark geriet auch eine Montage von Häftlingsfotos aus den Auschwitz-Akten: „Wir haben einige von ihnen ausgewählt“, sagt Romm im Kommentar, „damit Sie ihnen in die Augen blicken können. Sie sind schon lange nicht mehr am Leben, aber ihre Augen leben noch. Ihre Augen schauen uns noch immer an.“ Allerdings wies schon die zeitgenössische Kritik darauf hin, dass der Regisseur hier seinem Credo, überlieferte Bilder zu befragen, nicht genügend gerecht wird und stattdessen auf emotionale Überrumpelung des Zuschauers setzt. Wilhelm Roth gab zu bedenken: „Die Kamera holt mit einem schnellen Zoom die Augen heran. Was liegt in diesen Augen? Anklage, Trauer, Angst, Verzweiflung, oder im Moment des Fotografiertwerdens auch die Schreckreaktion auf das Blitzlicht.“ Welche Bedeutung „Der gewöhnliche Faschismus“ über eine Beschäftigung mit dem „Dritten Reich“ hinaus auch für eine Aufarbeitung der eigenen totalitären Verstrickungen in der Sowjetunion gehabt haben mag, lässt sich heute nur noch schwer nachvollziehen. Verbale Verweise auf Parallelen beider totalitärer Systeme gibt es im Film nicht und konnte es 1964/65 wohl auch nicht geben. Sowjetische Zuschauer mögen durch die Bilder aus Deutschland allerdings durchaus zu Assoziationen mit der Stalin-Ära eingeladen worden sein: Paraden, Monumentalkunst, eine Militarisierung der Gesellschaft, die Ausschaltung politischer Gegner wurde hier wie da praktiziert. Und wenn Romm eine Szene mit Mussolini einblendet, in der die rechte Seite des Bildes kaschiert ist, weil dort eine inzwischen unliebsame Person zu sehen war, lassen sich leicht auch Parallelen zu Stalins politischen Retuschen finden.
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