Das Leben der Bohème

Melodram | Frankreich/Finnland/Schweden/Deutschland 1991 | 103 Minuten

Regie: Aki Kaurismäki

Drei Möchtegern-Künstler, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, lernen ihre jeweilige große Liebe kennen und versuchen, sie sich über alle Hindernisse hinweg zu bewahren. Eine lakonisch erzählte, hervorragend fotografierte und von Melancholie durchtränkte Meditation über Kameradschaft und die Macht der Liebe im Überlebenskampf gegen Entfremdung und Kälte. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA VIE DE BOHEME | BOHEMIELÄMÄÄ
Produktionsland
Frankreich/Finnland/Schweden/Deutschland
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Sputnik Oy/Pyramide/Films A 2/Swedish Film Institute/Pandora
Regie
Aki Kaurismäki
Buch
Aki Kaurismäki
Kamera
Timo Salminen
Musik
Peter Iljitsch Tschaikowski
Schnitt
Veikko Aaltonen
Darsteller
Matti Pellonpää (Rodolfo) · Evelyne Didi (Mimi) · André Wilms (Marcel) · Kari Väänänen (Schaunard) · Christine Murillo (Musette)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Melodram | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Eines schönen Morgens in Paris: Marcel Marx ist wie immer blank und wird von seinem Vermieter vor die Tür gesetzt. Im Verlauf dieses Tages lernt er Rodolfo und Schaunard kennen. Die haben auch kein Geld. Man bleibt zusammen. Irgendwann hat mal einer Geld, das dann geteilt und ausgegeben wird. Wenn kein Geld da ist, wird welches besorgt. Die drei sind Künstler; Marcel schreibt, Schaunard komponiert und Rodolfo malt. Künstler sind (laut Legende) immer auch Lebenskünstler. Wenn also wieder kein Geld da ist, wird einer kreativ tätig und findet einen Dummen, der ihre Kunst kaufen will.

Und dann gibt es da noch die Frauen; die werden nicht geteilt. Eigentlich geht es darum, daß Männer Frauen lieben und Frauen Männer lieben und daß das kompliziert ist. Für die drei Freunde ist der Umgang mit Frauen viel schwerer als mit Männern und potentiellen Kunden. Der Verlust einer Arbeitsstelle oder von Geld läßt sich verkraften, aber schwerer der einer Frau. Für eine Frau nimmt man sogar Lohnarbeit in einer Fabrik an. Und wäre das nicht alles so fürchterlich wahr, dann könnte man sich ganz hervorragend darüber amüsieren.

Mit seiner finnischen "Proletarier-Trilogie" (fd 26 850/27 774/28 531) und deren kosmopolitischer Erweiterung "I Hired a Contract Killer" (fd 28 801) sowie dem zwischengeschoben Supplement-Band "Hamlet Goes Business" (fd 28 050) sagte Kaurismäki eigentlich alles, was man zur Realität der 80er sagen konnte: "The working class has no father land." Aber so hatte sich Karl Marx das nicht vorgestellt. Die einzige Rettung ist die Liebe - aber nur ganz weit weg von da, wo man gerade ist (wenn überhaupt), und für die Reichen und Mächtigen der Welt sowieso nicht, die kennen keine Liebe, haben also keinen Rückzugsraum und rotten sich selbst gegenseitig aus.

"Das Leben der Boheme" handelt von der Liebe und davon, wie man im Kapitalismus überlebt: indem man die Reichen schamlos ausnutzt. Vor allen Dingen überlebt man durch Kameradschaft. Betrachtet man den Ursprung des Wortes "Kamerad", so wird man feststellen, daß ein Kamerad jemand ist, an den man sich anlehnen kann, der einem in der Not hilft. Marcel, Rodolfo und Schaunard sind Kameraden, sie schützen sich gegenseitig vor den Unbillen der Welt, das macht sie in einem gewissen Sinn unverwundbar.

Nachdem die Gefahren des alltäglichen Lebens gebannt sind, sich die Helden keine wirklichen Sorgen mehr um ihr Auskommen machen müssen, kann Kaurismäki zum eigentlichen Kern vordringen: der Liebe. "Low key lighting" ist nicht nur das Licht des film noir, es prägt auch das Aussehen einiger der schönsten Liebesfilme: "Kinder des Olymp" und "Hafen im Nebel" sind nur zwei Beispiele.

Timo Salminens Kamera gestaltet die Vororte von Paris zu einer Welt für sich; obwohl offensichtlich schäbig und heruntergekommen - das sie durchflutende Sonnenlicht läßt den Schmutz teils vergessen, teils überdeckt es ihn mit dem gnädigen Mantel des Schattens. In diesem klassischen Ambiente erzählt Kaurismäkinun seine einfache kleine Geschichte - eigentlich sind es nur ein paar Momentaufnahmen. Im Laufe der Zeit schält sich die Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und Mimi als roter Faden heraus. Ihre Liebe steht nie in Frage: selbst wenn sie sich trennen, weil Mimi nicht für das Boheme-Leben geschaffen ist, lieben sie sich immer noch. Es sind also wieder die äußeren Umstände, die die Menschen entzweien. Aber als Mimi stirbt, beweist Rodolfo ihr seine Liebe dadurch, daß er sich über alle Hindernisse hinwegsetzt, um ihr zu helfen, und Marcel und Schaunard beweisen ihre Kameradschaft, indem sie ihm helfen. Liebe kann alle Schranken überwinden, anscheinend aber nur im Angesicht der schlimmsten Extreme. Das überzieht den ganzen Film mit einer unendlichen Melancholie: Am Ende verschwindet Rodolfo im Schatten.

Mit Rodolfo und Schaunard treibt Kaurismäki eines seiner Lieblingsthemen auf die Spitze: Fremde. In "I Hired a Contract Killer" ist die Hauptperson ein Franzose in London, dargestellt von einem Franzosen. Rodolfo ist ein illegal eingereister Albanier in Paris. Schaunard ist Ire; beide werden von Finnen dargestellt. Warum die beiden im Exil leben, wird nicht gesagt; es ist auch nicht wichtig. Fremder als die beiden kann man kaum noch sein, vielleicht ist es aber erst dieser Umstand, der Kameradschaft und Liebe möglich macht.

Befremdlich ist vor allem das Französisch von Rodolfo und Schaunard. Natürlich sprechen sie die Sprache ihrer Wahlheimat - aber wie. Diese Wendungen, diese teilweise nutzlose Komplexität der Satzstrukturen, und dann immer wieder ganz eigentümliche Verkürzungen - alles mit einem knallharten finnischen Akzent. Das wirkt äußerst seltsam neben all den Franzosen, doch es hat eine eigene Poesie, die vielleicht so nur in dem sehr sanften Klang des Französischen möglich ist. Selbst die Franzosen sprechen ab und zu ihre Sprache recht befremdlich: Jean Pierre Léauds ratternde Diktion hat mit seiner Muttersprache nur noch wenig gemein, macht ihn hektisch und distanziert ihn von seiner Umgebung. Das Französisch von Rodolfo und Schaunard ist vielleicht deshalb so schön, weil es so ruhig ist. Vollendet wird das Spiel mit der Fremde in der Musikauswahl; am Ende singt Toshitaka Shinohara auf Japanisch - aber verstehen braucht man ihn nicht, die Melodie und der traurige Klang seiner Stimme sagen alles.
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