Komödie | Frankreich 1990 | 99 Minuten

Regie: Jean-Pierre Jeunet

Ein arbeitsloser Zirkus-Artist gerät in ein düsteres Vorstadt-Haus, in dem ihm ein Fleischer nach dem Leben trachtet, damit die übrigen Hausbewohner mit Nahrung versorgt werden. Die makabre Ausgangsidee beschreibt eine marode Welt, in der alle zivilisatorischen Werte hintangestellt sind, und fächert sich in zahlreiche Episoden voller ausufernder Einfälle zwischen Surrealismus, Slapstick und Comic Strip auf; faszinierend und sehenswert ist der Film vor allem dann, wenn sich die Fabel zugunsten von Bewegungen, Tönen, Farben und Ideen in einem eigenwilligen Erzählrhythmus auflöst.
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Filmdaten

Originaltitel
DELICATESSEN
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1990
Produktionsfirma
Constellation/UGC/Hachette Première
Regie
Jean-Pierre Jeunet · Marc Caro
Buch
Jean-Pierre Jeunet · Marc Caro · Gilles Adrien
Kamera
Darius Khondji
Musik
Carlos d'Alessio
Schnitt
Hervé Schneid
Darsteller
Marie-Laure Dougnac (Julie Clapet) · Dominique Pinon (Louison) · Jean-Claude Dreyfus (Der Fleischer) · Karin Viard (Fräulein Plusse) · Ticky Holgado (Tapioca)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Genre
Komödie
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Heimkino

Die Extras beinhalten u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs.

Verleih DVD
Kinowelt (16:9, 1.85:1, DD4.0 frz.,DD2.0 dt.)
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Diskussion
Von Beginn an ist für klare Verhältnisse gesorgt: die "Delikatessen", um die sich die Bewohner eines heruntergekommenen Mietshauses m irgendeinem Banlieue reißen, sind ganz bestimmt nicht jedermanns Geschmack. Und der sadistische Fleischer, der im Erdgeschoß des Hauses sein Geschäft betreibt, wetzt sein Beil nicht so hingebungsvoll, weil es ein armes Hühnchen zu zerlegen gilt - es sei denn, man bezeichnet als solches jenen sich gehetzt versteckenden Mann, der sich am frühen Morgen mit Hilfe der Müllabfuhr aus dem Haus stehlen möchte. Doch der Mann schafft es nur bis in die Mülltonne. Dann wird der Deckel hochgerissen, und des Fleischers Beil saust nieder. Für einige Tage brauchen die Hausbewohner nicht mehr über Hunger zu klagen.

Warum die kannibalistischen Verhältnisse so sind, darüber läßt der Film freilich Spekulationen zu, weil es ihn gar nicht interessiert; nur soviel wird deutlich, daß es der Menschheit zur Zeit der erzählten Geschichte derart schlecht geht, daß sie ihre zivilisatorischen Werte weit hintan gestellt hat. Den beiden jungen Regisseuren darüber hinaus ein realitätsbezogenes Ansinnen oder gar eine "Botschaft" zu unterstellen, hieße, ihre filmische Traumwelt zwischen Surrealismus, Slapstick und Comic Strip gründlich mißzuverstehen. Allenfalls die Grundsituation der märchenhaft-makabren Geschichte nähert sich einer "Wahrhaftigkeit": wenn sich die Menschen gegenseitig fressen, dann ist die Welt vom Bösen überwuchert, der Platz für das Gute auf ein Minimum geschrumpft und jeden Tag neu zu verteidigen. Die Feststellung des "Delikatessen-Meisters" und Fleischers, daß es nicht die Zeit für Träume sei und es für diese keinen Platz gäbe, unterstreichen Jeunet & Caro genauso heftig wie sie sie kraft ihrer filmischen Poesie und Fantasie im selben Moment konterkarieren und subversiv aus den Angeln heben. Das Böse verliert da seinen konkreten Schrecken, wo es grotesk oder absurd wirkt, und wenn es gar auf die Reinheit (und Torheit) eines guten Menschen trifft, dann beißt es sich bald die Zähne aus. So ist seine Stunde bereits in dem Moment gezählt, in dem Louison aus einem Taxi steigt und auf das Haus zugeht. Der arbeits- und arglose Zirkus-Akrobat, Zauberkünstler, Musiker und Clown ist auf eine Annonce hin angereist. Doch diese ist eine Finte: ein weiterer Lockruf der hungernden Hausbewohner. Bald verliebt sich Julie, des Fleischers Tochter, in Louison und wird zu seinem Schutzengel. Und während sich so das geplante Schlachtfest verzögert, müssen andere Hausbewohner ihr Opfer bringen. Doch das Netz zieht sich immer enger um Louison, und am Ende muß das ganze Haus wortwörtlich leergespült werden, bevor die Liebenden zueinanderfinden - musizierend auf dem Dach des Hauses: Julie spielt Cello und Louison Säge.

Weit wichtiger als die Handlung selbst sind ihre zahllosen Seitentriebe: von überbordender Fantasie ersonnene Vignetten, die in ihrer Summe dem Haus und seinen Bewohnern Kuriosität und Ausstrahlung verleihen. Da sitzt im ebenso tiefen wie feuchten Keller ein Herr (gespielt von Howard Vernon), überwuchert von Fröschen und Schnecken, die er züchtet und mit den Namen griechischer Helden versieht; da will eine von scheinbar überirdischer Stimme verfolgte Ehefrau Selbstmord begehen und denkt sich zu diesem Zweck die abenteuerlichsten Techniken aus, nur um durch nicht minder verrückte Zufälle zu "scheitern"; da betreiben zwei Brüder eine kleine Werkstatt und imitieren mit stoischer Ruhe eine Art Fließbandarbeit, bei der sie kleine Dosen mit Teddybär-Stimmen herstellen; und da sind die Troglodisten, Höhlenmenschen also, die in den Abwässersystemen unter der Stadt leben und ihr (Un-)Wesen treiben: einerseits so komisch und tolpatschig wie Schneewittchens sieben Zwerge, andererseits so tapfer wie wahre Widerstandskämpfer, die den Fleischfressern den Kampf angesagt haben und zu Julies Verbündeten werden. Der eigentliche "Star" ist freilich das Haus selbst, ein Moloch nicht nur aus Zimmern und Gängen, sondern aus Rohrsystemen und Lüftungsschächten, die alles und jeden miteinander verbinden. Genußvoll taucht die Kamera in diese geheimen Gänge ein, spioniert, stellt Zusammenhänge her, verknüpft die Episoden.

Gerade in dieser Verknüpfung mag es den zahlreichen episodischen Kabinettstückchen gelegentlich an erzählerischem Fluß mangeln, ähnlich wie manches doch allzu wild erdacht und (vor allem gegen Ende) manchmal auch steifkonstruiert wirkt. Doch immer dann, wenn sich die konkrete Fabel zugunsten von Bewegungen, Tönen, Farben und Ideen auflöst, fasziniert der Film - trotz oder auch gerade wegen all seiner makabren Einfälle. Vor allem in seinen "stummen" Passagen, wenn akustische Elemente den Rhythmus der Bewegungen im Hause zu eigentümlichen Melodien verdichten, entwickelt er einen poetischen Witz, der im europäischen Kino derzeit wohl seinesgleichen sucht. Geradezu wunderbar ist in diesem Zusammenhang jene Szene, in der Louison die gebrochenen Sprungfedern in einem Bett reparieren soll und sich deren Quietschgeräusche regelrecht zu einem Lied verdichten. "Delicatessen" mag nicht mehr sein als eine jener großen Seifenblasen, die Louison im Treppenhaus für zwei Lausbuben aus einem Eimer Spülwasser zaubert; aber der Film hat auch all deren Vorzüge: schillernd und bunt schwebt er durch den Raum, fragil und zugleich von hoher Spannkraft. "Delicatessen" ist ein Erstlingsfilm voller ausgelassener Fabulierlust, von dem man sich kaum vorstellen kann, daß er derzeit hierzulande entstehen könnte.
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