Weiningers Nacht

Biopic | BR Deutschland/Österreich 1989 | 108 Minuten

Regie: Paulus Manker

Der antisemitische jüdische Philosoph Otto Weininger (1880-1903) begegnet in der Nacht vor seinem Selbstmord in alptraumhaften Erinnerungen noch einmal den Weggefährten seines kurzen Lebens. In der Hauptrolle beeindruckend gespieltes Psychogramm eines sich selbst verachtenden Juden- und Frauenhassers, dessen umstrittenes Werk "Geschlecht und Charakter" mit zum Wegbereiter des Faschismus wurde. Die stark der Bühne verhaftete Inszenierung verschenkt viel von den Möglichkeiten einer filmischen Umsetzung. Als makaber-groteske Analyse des damaligen Zeitgeistes dennoch interessant.
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Filmdaten

Originaltitel
WEININGERS NACHT
Produktionsland
BR Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
1989
Produktionsfirma
Camera-Film/Wega-Film
Regie
Paulus Manker
Buch
Paulus Manker
Kamera
Walter Kindler
Musik
Hans Georg Koch
Schnitt
Ingrid Koller · Marie Homolkova
Darsteller
Paulus Manker (Otto Weininger) · Hilde Sochor (Adelaide, seine Mutter) · Sieghardt Rupp (Leopold, sein Vater) · Andrea Eckert (Clara) · Josefin Platt (Ottos Double)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Genre
Biopic | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Nach über 400 Vorstellungen trat das 1982 in Haifa uraufgeführte Theaterstück des Israelis Joshua Sobol 1983 seinen Siegeszug um die Welt an. Nach seiner deutschen Erstaufführung in Düsseldorf (1985) spielte Paulus Manker schon bei der Inszenierung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg (1986) die Titelrolle, ehe er das Stück 1988 in Wien unter eigener Regie herausbrachte. Diese Inszenierung liegt auch seiner Verfilmung zugrunde, die 1990 ihre traurige Aktualität beim Filmfestival in Jerusalem bewies: die rechtsradikale "Agudat Israel"-Partei forderte ein Aufführungsverbot des angeblich antisemitischen Films. In Wahrheit legt der Film über den jüdischen (später zum Protestantismus übergetretenen) Philosophen Otto Weininger (1880-1903) aber den Finger auf jede offene Wunde israelischer Gegenwartspolitik, die, von Selbstzweifeln getragen, geradezu ihre "Vernichtung" provoziert. Denn auch der Frauen- und Judenhaß Weiningers entpuppt sich letztlich als Selbstverachtung, die ihn ins Sterbehaus Beethovens trieb, wo er sich in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 1903 eine Kugel in die Brust schoß. Der Film rekapituliert noch einmal diese letzte Nacht des zwischen Genie und Wahnsinn lebenden Philosophen. Da treten sie alle noch einmal auf: der von Richard Wagner begeisterte, germanophile Vater, der Otto mit ins Bordell nimmt, wo ihm eine Liebesdienerin im wahrsten Sinne des Bildes "sein" Wiener Würstchen abbeißt; die besitzergreifende Mutter mit ihrem "ödipalen" Einfluß; seine Geliebte Clara, deren Lust ihn anwidert ("Das Weib ist ganz Sexualität. Der Mann ist nur sexuell im Genitalbereich, sonst ist er Genie."); der "Verehrer" seiner Thesen August Strindberg; Sigmund Freud, der Weiningers Traktat "Geschlecht und Charakter" lieber auf seiner Couch, denn bei einem Verlag untergebracht sähe; sein Erzfeind Paul Julius Moebius, der behauptete, Weininger habe sein Buch "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" nur philosophisch "aufgemöbelt", und schließlich sein von einer Frau gespielter Doppelgänger, der Weiningers nicht eingestandener Homosexualität Figur verleiht und seineTheorie der körperlichen und seelischen Bisexualität bekräftigt ("Besteht ein Individuum aus 3/4 Mann und 1/4 Weib, so wird es von einem Partner angezogen, der sich aus 1/4 Mann und 3/4 Weib zusammensetzt."). Dieser symbolträchtige Totentanz um den Kastrationskomplex eines neurotischen Wissenschaftlers entlarvt wie kaum ein Stück den damaligen antisemitischen und frauenfeindlichen Zeitgeist, auf dessen Nährboden der Faschismus dann leichtes Spiel hatte. Nicht von ungefähr nannte Hitler später den antisemitischen Juden Weininger einen "anständigen Juden".

Nachdem Paulus Manker für seinen ersten Spielfilm "Schmutz" (1985) hochgelobt und preisgekrönt worden war, wollte er aus "Weiningers Nacht" eigentlich einen "richtigen"Film machen. Da das österreichische Fernsehen aber eine Theater-Aufzeichnung plante, nahm er die Idee in die eigenen (Regie-)Hände und realisierte in nur sieben Tagen das Projekt.Das wurde nicht nur zu einer "tour-de-force"für die Mitwirkenden, sondern nahm Manker auch jede Chance, den engen Bühnenraum zu verlassen. Ihm selbst als Hauptdarsteller hat dieser Druck offensichtlich genutzt, verleiht er der ohnehin exzessiv angelegten Rolle dadurch eine geradezu beängstigende Intensität, die aber alle anderen Personen an die Wand drückt. Die verkommen zwar nicht gerade zu bloßen"Stichwortgebem", entwickeln anderseits aber auch nicht so viel Eigenständigkeit, daß sie nachhaltig im Gedächtnis haften bleiben. Und auch die allzu "freudianische" Idee, einige Personen von demselben Schauspieler darstellen zu lassen, wirkt dramaturgisch eher holprig als erhellend fürs Geschehen. Um der Enge des Raumes zu entgehen, flüchtet sich Manker in extreme Kamerapositionen, effektvolle Schnitte und Großaufnahmen, die hauptsächlich sein verzerrtes, schwitzendes und aufgedunsenes Gesicht förmlich aus der Leinwand zu pressen scheinen. Das nimmt dem Zuschauer den Atem, zieht ihn dann für Minuten hinein in die klaustrophobische Stimmung des Films. Aber immer wieder wird man durch das theaterhafte Dozieren mancher der originalgetreu übernommenen Texte wieder aus dieser beklemmenden Stimmung herausgerissen, zurückgeworfen auf die Bühne, deren Bretter man eigentlich nicht gerne knarren hören würde.Auch wenn Manker Strauß bemüht, um dessen walzerselige Klänge kontrapunktisch zur makabren Zeitgeist-Farce einzusetzen, kann er damit den "Theaterdonner" seiner Inszenierung nicht vertreiben. Aber wenn man Manker glauben kann, ist "Weiningers Nacht" als Kino-Projekt noch nicht gestorben. Und das könnte dann wirklich spannend werden.
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