Die Weissagung (1991)

- | VR China/Deutschland/Großbritannien 1991 | 120 Minuten

Regie: Chen Kaige

Ein alter, blinder Musiker zieht von Ort zu Ort, um den Menschen seine Lieder vorzutragen. Laut einer Weissagung soll er das Augenlicht erhalten, wenn die tausendste Saite seines Instrumentes reißt. Sein ebenfalls blinder Schüler glaubt dagegen nicht an ein fernes Glück, sondern an Selbstbestimmung und individuelle Erfüllung. Eine grandios fotografierte filmische Meditation voller fremdartiger Symbole, die durch ihre ebenso poetischen wie zärtlichen Szenen fasziniert. Zugleich ein Kommentar zur politischen Situation Chinas, der als Vision des Friedens weit über dessen Grenzen hinauszielt. (Fernsehtitel: "Die Weissagung des Meisters".) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BIAN ZOU BIAN CHANG | LIFE ON A STRING
Produktionsland
VR China/Deutschland/Großbritannien
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Beijing Filmstudio/China Film Coproduction Corporation/Serene/Pandora
Regie
Chen Kaige
Buch
Chen Kaige
Kamera
Gu Changwei
Musik
Qu Xiaosong
Schnitt
Pei Xiaonan
Darsteller
Liu Zhongyuan (Der Heilige (blinder Sänger)) · Huang Lei (Shitou, Schüler) · Xu Qing (Lanxiu, Dorfmädchen) · Zhang Zhengyuan (Wirt) · Ma Ling (Wirtin)
Länge
120 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.

Diskussion
Es war, und es ist - wird es auch sein? Ein alter Meister der Sanxian, einem dreisaitigen Musikinstrument, und sein Schüler ziehen durch die Welt. Sie sind blind. Wo immer sie hinziehen, geben die Menschen ihnen Nahrung für ihre Musik, weil sie die Ausgeglichenheit, Wärme und Güte des alten Mannes lieben. Seine Größe beruht auf einer Weissagung: wenn die tausendste Saite reißt, wird sich im Inneren des Resonanzkörpers seiner Sanxian ein Fach öffnen, in dem sich ein Rezept befindet, das ihn sehend macht. Der alte Meister hat Hoffnung; sein Schüler Shitou aber ist überzeugt, daß er niemals wird sehen können. Er hat andere Perspektiven, lebt mit seiner Blindheit. Auf ihrer Wanderschaft kommen sie in ein Dorf, das von den verfeindeten Clans Li und Sun regiert wird. Dort lernt Shitou das Sun-Mädchen Lanxiu kennen; sie verlieben sich ineinander. Dann kommt der Tag, an dem die tausendste Saite reißt. Der alte Mann geht in eine Stadt, um das Rezept zu holen; in der Apotheke sagt man ihm, daß das Blatt, auf dem das Rezept stehen soll, leer ist. Der Meister ist verbittert, fühlt sich um sein Leben betrogen. Doch er kann glücklich sein, weil er sein Leben lang hoffen durfte. Plötzlich glaubt er, daß er die Weissagung falsch verstanden hat und 1.200 Saiten reißen müßten. Derweil wurde Shitou von Mitgliedern des Sun-Clans zusammengeschlagen. Sie betrachteten es als eine Entehrung des Clans, daß ein Blinder mit Lanxiu glücklich wird. Lanxiu wählt den Freitod, der Meister stirbt, Shitou bleibt allein zurück. Er wird nicht die Nachfolge seines Meisters antreten, sondern einen neuen Weg gehen.

Eigentlich kann man sich dem Film nur nähern, ihn aber nie wirklich fassen. Am Ende ist alles nur ein Umschreiben dessen, was man nicht sagen, dafür aber sehen, hören und fühlen kann. Dabei klingt alles ganz einfach: "Ihr seid nicht blind./ihr seid nicht taub,/ihr seid noch jung,/ sehen könnt ihr, reden und singen/könnt ihr/ Eines Tages wird die ganze Welt/singen :/Dann ist Schluß mit Traurigkeit./Schluß mit Tränen./ Wir werden unsere Stimmen/erheben/ und voll Freude singen." Aber es sind nicht die Worte, es ist die Art, wie sie gesungen werden - und wie das Singen dieser Worte gefilmt ist. Chens Filme waren für westliche Zuschauer noch nie leicht verständlich, und auch "Die Weissagung" ist ohne Vorwissen in der gesamten Symbolik nicht zu entschlüsseln. So taucht als zentrales Motiv immer wieder eine Schlange auf, die um einen Spiegel kriecht, wobei nicht unbedingt klar wird, ob dieses Bild auf der "realen" Ebene existiert oder ein Traumbild ist. Zumindest scheint der Spiegel in dem Haus zu stehen, in dem der Meister und sein Schüler eine Zeitlang wohnen. Spiegel können in der chinesischen Traumdeutung sowohl Glück (heller Spiegel) als auch Unglück (dunkler Spiegel) bedeuten. Ein Mann, der einen Spiegel findet, findet auch bald eine Frau. Ein zerbrochener Spiegel bedeutet Trennung. Wenn ein Mann von einer Schlange träumt, wird er eine neue Frau kennenlernen. Außerdem kann der Traum von einer Schlange Glück im allgemeinen bringen. Schlangen leben gerne in der Nähe von Flüssen, Schlangengötter sind im Zusammenhang mit Flüssen bedeutsam. Ein Fluß, anscheinend der Huangho (= Gelbe Fluß), ist Teil der Landschaft des Films. In einer Szene watet der Meister im Fluß, das Wasser funkelt golden, scheint durchsichtig. Ein Glückssymbol: der Sage nach ist der Huangho nur alle 1000 Jahre für einen Tag durchsichtig.

Gegen Ende taucht das Symbol eines Schmetterlings auf, in Form eines Drachens, den sich Lanxiu vom Meister wünscht. Der Schmetterling ist häufig das Symbol für einen verliebten Mann, kann aber auch die wildesten erotischen Konnotationen haben; die Seele einer verstorbenen Frau erscheint ihrem Mann in Form eines Schmetterlings. Allein an diesem Symbol kann man sehen, wie sich die Bedeutung eines einzelnen Gegenstandes im Verlauf der Filmhandlung verändert. Auch in den Träumen kann je nach Person - ein Symbol jeweils andere Bedeutung annehmen; auch regional können sich Symbole verändern oder erweitern. Die Welt bleibt indes immer gleich. Es gibt unveränderliche Stationen: der Nudelladen am Fluß, das Dorf, das Haus - Stationen als Teil einer Landschaft ohne konkrete Verankerung. So könnte man nicht sagen, wie das Haus im Verhältnis zum Dorf liegt, es liegt nur außerhalb davon. Es ist die Landschaft eines Blinden, wofür auch die schlichte, flächige Farbgebung spricht: der Meister und Shitou scheinen mit bestimmten Gegenständen und Orten bestimmte (Grund-)Farben zu assoziieren. Die Imagination bestimmt das Aussehen der Natur: wenn der Meister im Fluß watet, dann ist es seine Vorstellung, daß der Fluß durchsichtig ist. Bildet er sich dieses Glückssymbol ein, weil er glücklich ist? Die Szene der Weissagung ist stilistisch abgesetzt, ausgeleuchtet in tiefem Blau vor einem stilisierten Hintergrund. Hat sich der Meister auch die Weissagung nur erträumt? Der stilisierte Ort taucht mehrmals auf, der Meister begegnet dort auch dem Gott des Todes. Ist alles eine Art Traumwelt des Meisters?

Vieles geschieht für den Zuschauer unsichtbar, in den Lücken zwischen den Bildfeldern. Man sieht, wie Shitou verprügelt wird - ein äußerst nachdrückliches physisches Erlebnis -, aber Lanxius Tod nicht: er ist emotional wie körperlich zu abstrakt. Vollends wird die Welt durch den Besitzer des Nudelladens zur realitätsfernen Traumlandschaft: durch den Gott des Todes. Er ist konkreter Teil dieser Welt, aber auch zeitlos, wie seine Frau. Sein Geschäft - ein Kulminationspunkt für die verschiedensten Zeitsymbole - steht über dem Fluß auf einem Überhang, der Diener ruft bei jedem Neuankömmling: "Reisende kommen, Reisende gehen". Hier vollzieht sich die Wandlung des Meisters: im Gespräch mit dem Totengott erkennt er, daß der leere Zettel etwas Ähnliches wie ein Koan ist und er glücklich sein wird.

Der Film ist durchaus politisch, wenn auch nicht so explizit wie frühere Filme Chen Kaiges. Der Meister scheint die verfeindeten Clans mit seinen Liedern befrieden zu können, aber immer nur für den Augenblick, was wohl aus einem augenblicklichen Bedürfnis nach Harmonie resultiert, die wiederum der Kunst entspringt. Die Kunst schließlich entspringt der Welt: die Musik scheint aus der Erde zu kommen und zum Himmel aufzusteigen, der Meister steht als Vermittler dazwischen. So ist eine der vorherrschenden Kamerabewegungen der Schwenk von unten nach oben, und oft sieht man die Charaktere auf der Horizontlinie stehen, Himmel und Erde verbindend. Es ist das Glück, das dem Meister die Kraft gibt, auch andere glücklich machen kann: Kunst also als ein Träger des Glücks. Sein Schüler Shitou dagegen ist Skeptiker und weiß, daß man Gewalt nicht nur mit einem augenblicklichen Glücksgefühl abwehren kann. Zunächst versucht er noch unbewußt - das System durch seine Liebe zu Lanxiu zu unterlaufen, muß aber erfahren, daß dies nicht möglich ist. Daraus folgt die radikale Verweigerung, der Schritt zum gewaltsamen Umsturz ist die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten.

Chen Kaige scheint zu trauern: Er weiß, daß der Weg des alten Mannes nicht der seines Volkes sein wird, und daß die Zukunft Männern wie Shitou gehört. Aber mit seinem Herzen ist er bei dem alten Meister, und dessen letztes Lied ist die Botschaft an alle: Es ist seine Hoffnung.
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