Rückkehr nach Aztlan

Drama | Mexiko 1990 | ca. 90 Minuten

Regie: Juan Mora Catlett

Leiden und Sterben eines aztekischen Bauern im 15. Jahrhundert, der sich der Erdgöttin Coatlicue nähert und den Regen geschenkt bekommt, damit aber die Mächte und die Mächtigen herausfordert. Eine stilisierte geistesgeschichtliche Rekonstruktion aztekischen Lebensgefühls vor dem Eintreffen der Spanier, die in einem faszinierenden Geflecht von symbolischen Bildern und Klängen überlieferte Mythen neu erzählt. (O.m.engl.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
IN NECUEPALIZILI IN AZTLAN - RETORNO A AZTLAN
Produktionsland
Mexiko
Produktionsjahr
1990
Produktionsfirma
Catlett/Volcán/Sociedad Cooperativa de Produccion/Cinematografica 'José Revueltas'/Dirección de Actividades Cinematográficas de la Universidad Nacional Aut. u.a
Regie
Juan Mora Catlett
Buch
Juan Mora Catlett
Kamera
Toni Kuhn
Musik
Antonio Zepeda
Schnitt
Jorge Vargas
Darsteller
Rodrigo Puebla · Rafael Cortes · Amado Sumaya · Socorro Avelar · Soledad Ruiz
Länge
ca. 90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama

Diskussion
Das heutige Mexiko erwuchs aus dem Zusammenprall zweier Kulturen: der Alt-Mexikos und der hispanischen. "Wir sind nunmal keine Azteken, wir sind auch keine Spanier." So der Mexikaner Catlett, der mit seinem ersten Spielfilm an die präkolumbischen Wurzeln seines Landes erinnert. "Rückkehr nach Aztlan" ist kein monumentaler verklärender Historien-film, sondern eine überzeugende, stilisierte geistesgeschichtliche Rekonstruktion aztekischen Lebensgefühls vor dem Eintreffen der Spanier. Der Rückblick im Horizont heutigen Bewußtseins ist zugleich eine Auseinandersetzung mit den Herrschaftsstrukturen des Imperiums der Mexica (Azteken), die auch auf das heutige Mexiko ausgelegt werden kann.

Catletts Identitätssuche verknüpft die (historischen) Ereignisse der Gesandtschaft Moteuczoma I. (1440-1471) nach Aztlan, dem (mythischen) Ursprungsort der Mexica, und die Hungersnöte der Jahre 1449 bis 1454 mit dem aztekischen Schöpfungsmythos. Während nach der "His toria de las Indas de Nueva Espana" (1570-1588) des Diego de Duran die Expedition ausgesandt wurde, um Coatlicue, die Mutter ihres gewalttätigen Stammesgottes Huitzilopochtli, der sie von Aztlan an den Texcoco-See führte, zu ehren und ihr von den machtvollen Taten des Sohnes zu berichten, ist es der Auftrag der Emissäre im Film, die Erdgöttin Coatlicue, "die mit dem Schlangenrock", um die Beendigung der Dürre zu bitten. Nicht nur die Geschenke für Coatlicue pressen die Herrschenden den Bauern ab, auch werden diese als Opfergaben an die Götter eingefangen.

Ollin, ein Bauer, macht sich gleichfalls auf den Weg nach Aztlan, um der Göttin ein von der Gesandtschaft verlorenes Geschenk zu bringen. Eine Passion erwartet ihn. Am Ende der Reise ist Ollin, der sich der Göttin reinen Herzens nähert und dem der Regen geschenkt wird, ein von den Mächten und Mächtigen zu Tode Geschundener. Er, der gemeine Mann muß sterben, weil er das religiöse Wissensmonopol der Eliten durchbrach.

Der tote Ollin gleicht in seinem Äußeren dem Gotte Nanauatzin aus dem Schöpfungsbericht. Mit der Figur des Ollin verknüpft Catlett die Gesandtschaft mit dem Schöpfungsmythos. In ihrer filmischen Neuerzählung, die den Gesandtschaftsteil einklammert, nimmt Ollin den Platz des aussätzigen Nanauatzin ein. Ollin/Nanauatzin stirbt den für die Entstehung der jetzigen Welt unabdingbaren freiwilligen Opfertod. "Die fünfte Sonne ist jene, in der die Menschen heute leben. Sie wird Olintonatiuh genannt, die ,Sonne der Bewegung'; ihr Zeichen ist 4-ollin. ,Vier -Bewegung', denn sie bewegt sich und setzte sich m Marsch. Wie die Alten berichten, wird es in dieser Zeit schreckliche Erdbeben und große Hungersnöte geben, die ihr Ende herbeiführen werden." (Anales de Cuauhitlan; original aztekisch) Für Catlett ist es das Volk, das alles in Bewegung (= ollin) hält: die unendlich vielen namenlosen Ollins, die bluten müssen für die Mächtigen. Der Leiden aber seien genug!

Leben und Religion der Mexica waren angstbesetzt. Die faszinierende Tonspur - auf prähispanischen Instrumenten gespielte Musik und von diesen als Musik erzeugte Geräusche des Windes, des Regens etc. - erfaßt und vermittelt das kosmische Unheilsbewußtsein des Azteken. Im Mythos verspricht Huitzilopochtli, der seinem Volk ein mächtiges Reich eroberte, seiner in Aztlan zurückgebliebenen Mutter, zu ihr zurückzukehren, wenn ein fremdes Volk seine Mexica vernichtet haben wird. Im Film prophezeit Coatlicue den Untergang der Mexica als Strafgericht: weil die Mächtigen das Volk tyrannisierten sei Atzlan, der paradiesische Ort ewiger Jugend, für immer verloren. Die Führer des Volkes, allen voran Tlacaelel, der das "priesterliche" Amt des cihuacoatl, der "weiblichen Schlange" innehat (1430-1474), behalten das ihnen Offenbarte für sich, damit die Krieger nicht den Mut verlieren. An diesen wie an anderen Verschiebungen wird deutlich, daß Catlett nicht überlieferte Mythen rekonstruiert, sondern sie bezogen auf die historische Wirklichkeit des Azteken-Reiches neu erzählt.

Ausgehend von der Unzufriedenheit über die formalistische Erstarrung der aztekischen Religion mit ihren vielen magischen Opferkulten entstand eine religiöse Erneuerungsbewegung, die bei den Tlamantinimen ihre dichterische Form fand. Sie glauben an Ipalnemoa, dem "Lebensspender", "der hinter der Welt des Leidens und der Vergänglichkeit ruht und zu welchem der Heilssuchende mittels ,Blumen und Gesang', mittels der Poesie als einer Form göttlicher Inspiration und Erleuchtung menschlicher Seele, Zugang finden kann" (R. Nebel, Altmexikanische Religion und christliche Heilsbotschaft). Die Tlmantinime zitiert der Film an einer zentralen Stelle. Als die Gesandten Moteuczomas I. ein Dorf brandschatzen, drückt sich in ihnen Klagen und Hoffnungen der Gequälten aus. Schwierigkeiten bereiten dem mit der Welt der Mexica nicht Vertrauten auf der Ebene oberhalb der Grundkonzeption des Films nicht nur die manigfaltigen Hinweise auf die Mythen, sondern auch die Einordnung der zitierten Symbolträger. Diese haben mehrfache Bedeutungen. Coatlicue z. B. ist lebensspendende Erdgöttin und Todesgöttin zugleich; das Kaninchen, Symbol der Fruchtbarkeit, stellt die Gottheit der Trunkenheit und der Wollust dar und ist zudem kosmologischer Bedeutungsträger; die Schlange symbolisiert sowohl vegitative Elementarkräfte als auch den Nachthimmel, die Finsternis und das Böse; der Adler steht nicht nur für den Sonnengott, das Licht, das Gute, sondern repräsentiert zugleich Tezcatlipoca, den Gott des nächtlichen Himmels. Adler und Jaguar (Zeichen des Bösen und der Finsternis) sind Abzeichen und Selbstbezeichnung aztekischer Offiziere.

Catlett und seinem Kameramann Toni Kuhn gelingen Bilder, die haften bleiben: das ausgedörrte, staubige Land; das gewaltige Mexico-Tenochtitlan und das verlorene Aztlan symbolisch auf eine Pyramide reduziert; die menschlichen Körper als erkundete Landschaften und Symbolträger. Den Gefahren eines Großfilms steuert Catlett auch durch Stilisierung entgegen. Die Schauspieler bewegen sich beinah choreografisch; nie sind mehr als ca. 40 Schauspieler im Bild, die Kameraperspektiven bringen "Monumentalität" hervor. Gesprochen wird in Nahuatl, von dem das Aztekische eine Untergruppe bildet. Gedreht wurde allerdings in Spanisch. Diese Nachsynchronisierung selbst ist von symbolischer Bedeutung hinsichtlich des Verhältnisses des heutigen Mexikos zu seinen präkolumbischen Wurzeln. "Rückkehr nach Aztlan" ist ein exzellenter und wichtiger Film, nicht nur in bezug auf das Quinto Centenario.
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