Biopic | Frankreich 1991 | 159 Minuten

Regie: Maurice Pialat

Die von großer Darstellungskunst und impressionistisch-subtiler Fotografie bestimmte Schilderung der letzten zwei Monate im Leben Vincent van Goghs von Ende Mai bis Ende Juli 1890 im nordfranzösischen Auvers-sur-Oise. In Verknüpfung von van Goghs Innendrama und äußerer Schicksalsform mit der wesensverwandten Zerrissenheitstragödie seines Bruders Theo wie auch im Lebensaufriß prägnanter Nebenfiguren offenbaren sich Leid und Erlösungsbedürftigkeit als Grundlagen menschlicher Existenz. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
VAN GOGH
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Erato/Studio Canal +/Films A 2/Les Films du Livradois
Regie
Maurice Pialat
Buch
Maurice Pialat
Kamera
Emmanuel Machuel · Gilles Henri · Jacques Loiseleux
Musik
Arthur Honegger
Schnitt
Yann Dedet · Nathalie Hubert
Darsteller
Jacques Dutronc (Van Gogh) · Alexandra London (Marguerite Gachet) · Gérard Séty (Gachet) · Bernard Le Coq (Theo) · Corinne Bourdon (Jo)
Länge
159 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Biopic | Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
So wie Robert Altman 1989 seinen van Gogh-Film "Vincent & Theo" (fd 28 295) gegen die Schablone der konventionellen Malerbiografie "Vincent van Gogh - Ein Leben in Leidenschaft" von Vincente Minnelli (1956, fd 5870) verstörend aufrauhte, bürstet auch Maurice Pialat seine Schilderung von Leben und Leiden van Goghs radikal gegen den Strich. Darüber täuschen auch die subtile Schönheit seines Bildimpressionismus' sowie die Genauigkeit in der Erfassung von Milieu, Atmosphäre und zeitbedingtem Lebensgefühl nicht hinweg. Vielmehr läßt er unter allem Schönen und Idyllischen Abgründe spüren und ein Magma von Verdrängtem und Tabuisiertem brodeln, das im Ausbruch um so bestürzender wirkt, weil es das Janusköpfige menschlicher Existenz entlarvt und die "Anständigkeit" der bürgerlichen Gesellschaft zum kritischen Nachdenken über die Psychopathologie des geordneten Alltagslebens freigibt.

Dazu gehört auch, daß Pialat weit schärfer noch als Altman das unwahrhaftige Edelmutsbild von Vincent van Goghs Bruder abbaut, das vor allem durch die Witwe Theos zustandegekommen ist, die - ähnlich wie Cosima Wagner und Elisabeth Förster-Nietzsche im Falle Wagner und Nietzsche - alle brieflichen Hinterlassenschaften und andere dokumentarische Zeugnisse mit "schönender" Hand so aussortierte, daß Theo zu einer Ikone brüderlicher Aufopferung wurde. Zwar läßt auch Pialat Theo das moralische Verdienst, daß er Vincent zeit seines Lebens finanziell versorgt und ihm damit überhaupt ein Malerleben ermöglicht hat. Und es gibt auch keinen Abstrich an der Tatsache, daß Theo den an Lebensangst, seelischen Disharmonien und quälenden Zwangsvorstellungen leidenden Bruder immer mit der Hoffnung auf Heilung in fürsorgliche Pflege gegeben hat - so zuletzt noch 1890, in Vincents Todesjahr, in die Obhut des befreundeten Dr. Gachet im nordfranzösischen Auvers-sur-Oise. Aber Pialat läßt Theo nicht als "geistigen Mäzen" gelten. Bei ihm magazinisiert Theo die Bilder Vincents sorgfältig eingewickelt in Schränken, statt sie als Direktor der Galerie Goupil zielstrebig in den öffentlichen Kunsthandel einzuschleusen. Und Pialat läßt Theo auch nicht an Vincents Kunst glauben, sondern vielmehr ein "anderes" und damit eher verkäufliches Malen wünschen. So ist denn nicht einmal er es, der den zehrenden Hunger Vincents nach Anerkennung lindert. Die kommt als erste und zeit seines Lebens einzige, als der Kunstkritiker Aurier im Februar 1890, fünf Monate vor Vincents Tod, sich öffentlich mit seinem Werk würdigend auseinandersetzt. Schon gar nicht gibt es für Vincent die wahrhafte Anerkennung bei seinem ärztlichen Betreuer Dr. Gachet in Auvers-sur-Oise. Pialat holt auch diesen als Kunstsammler und Mäzen apostrophierten Arzt vom Sockel. Er stellt ihn als gutmütigen und liebenswürdigen Mann dar, der ein vom wahren Kunstverständnis wie auch vom Verstehen des künstlerischen Menschen Lichtjahre entfernter kleinbürgerlich-betulicher Schwätzer ist.

In der Entglorifizierung von Theo und Dr. Gachet geht Pialat am Ende so weit, daß er die beiden in augurenhaftem Einverständnis mörderisch beschließen läßt, Vincent, nach seinem Selbstmordversuch mit einem Pistolenschuß in den Leib, ohne ernsthaften Rettungsversuch als "eine Last" sterben zu lassen. So liegt er zwei Tage lang noch als armselige Kreatur in seinem schäbigen Gasthofzimmer, ehe der Tod kommt und ihm die ersehnte "ewige Ruhe" im schmucklosen Grab auf dem Friedhof von Auvers zuteil wird, wo nur ein halbes Jahr später, im Januar 1891, auch der (unter wachsendem Schuld - und Reuegefühl?) zusammengebrochene Theo sein Grab erhält.

In der Landschaft, die van Gogh zu den letzten großen Gemälden inspirierte, schildert Pialat die letzten zwei Lebensmonate des Malers chronologisch von seiner Ankunft am 21. Mai 1890 in Auvers-sur-Oise bis zum Tod am 29. Juli 1890. Vorgeführt wird van Gogh, der (mit Cézanne und Gauguin) die steril gewordene Tradition der akademischen Ladenhüter aus der Welt räumte und die Kunst des 20. Jahrhunderts als Pionier so vorbereitete, daß fast die gesamte moderne Malerei unter seinen Einfluß geriet, hier aber nicht so sehr als ein ringender Künstler. Auch wenn deutlich wird, wie sehr dieser in ständigem Konflikt mit sich und der Gesellschaft lebende 37jährige Mann seine Ängste, Zweifel, Halluzinationen und seelischen Dunkelheiten nur in der wilden Exaltation beim Malen überwinden und sich disziplinieren kann, wird in der Hauptsache ein van Gogh in seiner "Alltäglichkeit" gezeigt. Er hat Vitalität und Charisma, trotz allem; und er hofft nach den vielen Liebesenttäuschungen, die mitschuldig an seiner geistig-seelischen Veränderung sind, bei Dr. Gachets 19jähriger Tochter Marguerite ein "reines" Glück zu finden. Denn diese klavierspielende "höhere Tochter" ergibt sich ihm in bedingungsloser Liebe. Aber Vincents Glücksgefühl zerfällt, als sie mit Hilfe Theos den Spuren seines Ausflugs in die Bordelle der Pariser Bohème nachgeht und alles dort mit ihm gemeinsam Erlebte bei der Heimkehr glänzenden Auges für das "wahre Leben" erklärt. Das ist für Vincent die Kapitulation des "Reinen" vor dem "Schmutzigen", dem er immer wieder entfliehen wollte, und was ihn nun auf den tödlich vergiftenden Gedanken kommen läßt, daß bei ihm ja doch alles "immer nur bei einer Nutte endet". In dieser Pariser Bordell-Nacht mit ihrem orgiastischen Can-Can-Rausch gibt auch Theo in willigem Vergessen von Ehe, Frau und Kind alle bürgerlichen Formen preis und offenbart sich als ein ebenso wildes Extrem menschlicher Zerrissenheit wie Vincent es ist - auch er nur ein "Exot" im Bürgerlichen.

Pialat erzählt das alles mit minuziösen Einzelheiten, Verzweigungen und Ausmalungen in einem episch langsam hinströmenden Fluß, wobei man an Thomas Manns Wort denken muß, daß "Länge immer eine ästhetische Gefahr ist". Aber weil es nichts Überflüssiges gibt, erlahmt der Zuschauer nicht in der Konzentration und Ausdauer, die ihm abverlangt wird. Wenn das Erregende sich bei diesen Dimensionen hält, ist das auch der phänomenalen Gogh-Verkörperung durch Jacques Dutronc zuzuschreiben. Er bewegt sich mit einer Sicherheit im "Stoff des Films, die höchste Menschenbildnerei ergibt. Bemerkenswert ist auch die Füllung mit prägnanten Umgebungsfiguren. Auch für sie gibt es keine "psychologischen" Erörterungen; sie werden plastisch charakterisiert nur durch ihr Tun, Reden und Schweigen. Und wie in Vincent, Theo, Marguerite, Theos Frau und Dr. Gachet - der nach Vincents Gefühl "offensichtlich genauso ernst leidet wie ich" - zeigt sich auch in den noch so kleinsten Schicksalsaufrissen der Nebenfiguren, daß allen Menschseins Wurzel leidvolle Erlösungsbedürftigkeit ist.
Kommentar verfassen

Kommentieren