Eine Stadt der Traurigkeit

Drama | Taiwan 1989 | 158 Minuten

Regie: Hou Hsiao-hsien

Die Söhne einer taiwanesischen Großfamilie, eine junge Krankenschwester, die den taubstummen jüngsten Sohn liebt, sowie ihr Bruder werden zwischen 1945 und 1949 in die Unruhen und Wirrnisse im Land verwickelt, als Taiwan zum Spielball im Machtkampf zwischen Nationalchinesen und Kommunisten wird und unter Korruption und wirtschaftlicher Ausblutung leidet. Ein ebenso behutsam wie souverän entwickelter, facettenreicher "Heimatfilm", der weniger daran interessiert ist, die historischen Zusammenhänge zu rekonstruieren, als auf einfühlsame Weise deren Auswirkungen auf die Menschen und ihre Empfindungen bis in die Gegenwart darzustellen. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
BEIQING CHENGSHI
Produktionsland
Taiwan
Produktionsjahr
1989
Produktionsfirma
3-H Film/Era International
Regie
Hou Hsiao-hsien
Buch
Wu Nien-Jen · Chu Tien-Wen
Kamera
Chen Hwa-En
Musik
Naoki Tachikawa · Chang Hong-Yi
Schnitt
Liao Ching-Sung
Darsteller
Chen Sown-Yun (Wen-heung) · Tony Leung (Wen-ching) · Hsju Shu-Fen (Hinomi) · Wu Yi-Fang (Hinoei) · Kao Jai (Wenleung)
Länge
158 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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Diskussion
Die Stadt, von der im Titel die Rede ist, ist ein Ort an der Küste Taiwans, weit entfernt von der Hauptstadt Taipeh. Sie ist insofern konkret, als daß es dort Häuser und Straßen, ein Vergnügungsviertel, ein Bergwerks-Krankenhaus und natürlich auch Menschen gibt, die dort leben und arbeiten; aber die Stadt ist zugleich auch eine Fiktion, ein Symbol für den Zustand des ganzen Landes, das um Identität und Würde, inneren und äußeren Frieden ringt. Und die Traurigkeit, von der die Rede ist, ist eine tiefe kollektive Empfindung angesichts der Zerrissenheit des Landes, hervorgerufen durch die politischen Machtkämpfe und Intrigen, die zwischen 1945 und 1949 vom chinesischen Mutterland auf die Insel übergreifen, die Menschen prägen und ihre sozialen wie familiären Strukturen zerstören. Der Film beginnt am 15. August 1945. Aus einem Radio in einem abgedunkelten Zimmer vernimmt man die Kapitulationserklärung des japanischen Kaisers: Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehen auch 50 Jahre japanische Kolonialherrschaft auf Taiwan zu Ende, die Insel fällt zurück an China. Zur gleichen Zeit, im selben Zimmer kommt ein Kind zur Welt, dem die Eltern einen Namen geben, der sowohl "Licht" als auch "Hoffnung" bedeutet, und die große Familie begeht ein großes Fest, hat sie doch doppelten Anlaß zur Feier: privates und politisches Glück. "Bringe uns Segen und großen Gewinn", beten sie vor dem Hausaltar, doch was die fünf kommenden Jahre bringen, ist das genaue Gegenteil. Das Kind spielt in der weiteren Handlung keine Rolle; aber immer wieder hört man es weinen - eine intuitive und instinktive Reaktion auf die Ereignisse in der "Stadt der Traurigkeit".

Im Mittelpunkt stehen Mitglieder einer Großfamilie, die unter der japanischen Besetzung zu einem gewissen Wohlstand gekommen ist und auch jetzt noch ein sorgenfreies Leben führen könnte. Der alte Lin hat vier Söhne, von denen einer im Krieg auf den Philippinen verschollen ist; ein anderer, Wenleung, ist psychisch schwer gestört aus dem Krieg zurückgekehrt. Im Rahmen der Ereignisse bleibt er eher konturlos, katalysiert aber als seelisch angeschlagener, schwacher und verführbarer junger Mann, der sich in die verbrecherischen Pläne der aus Shanghai gekommenen Festlandchinesen einspannen läßt, die Repressionen gegen seine Verwandten. Als psychischer Krüppel fristet er schließlich sein Dasein im elterlichen Haus, wo er - vielsagenderweise - die Opfergaben vom Hausaltar ißt. Sein ältester Bruder, der Geschäftsmann Wen-heung, dessen Konkubine zu Beginn des Films das Kind zur Welt brachte, ist der standesstolze Repräsentant der (mittelständischen) Familie. Je mehr er unter ihrem wirtschaftlichen Niedergang, vor allem des von ihm geleiteten Lokals "Klein-Shanghai" leidet, um so heftiger reagiert er. Am Ende wird er von den Shanghaier Kriminellen, denen er ein Obdach bot, niedergeschossen. Wen-ching schließlich, der jüngste der Brüder, ist seit seiner Kindheit taub und stumm, aber selbst das bewahrt ihn nicht vor den politischen Verwicklungen. Er arbeitet als Fotograf und ist eng befreundet mit dem Lehrer Hinoei, dessen Schwester Hinomi, die im Krankenhaus arbeitet, er liebt. Hinoei und Hinomi sind junge Vertreter einer intellektuellen Oberschicht, die in ihrer Kindheit durch die japanische Kultur geschult und sensibilisiert wurden. Jetzt engagieren sich Hinoei und Wen-ching für die Unabhängigkeit und Würde Taiwans. Nach den blutigen Ereignissen vom 27. Februar 1947 muß Hinoei mit Gleichgesinnten in die Berge flüchten. Wen-ching wird inhaftiert und erst in größter Todesangst freigelassen. Er heiratet Hinomi. Irgendwann im Jahr 1949 erreicht das Paar die Nachricht, daß Hinoei erschossen worden sei. Mit ihrem gemeinsamen Kind fotografiert sich die kleine Familie ein letztes Mal, bevor auch Wen-ching erneut abgeführt wird. Im Haus der Großfamilie bleiben Frauen, Kinder, Alte und Verrückte zurück. Eine schlechte Voraussetzung für eine bessere Zukunft.

Wenn es nicht ein mit westlichen Vorstellungen besetzter Begriff wäre, könnte man "Eine Stadt der Traurigkeit" als einen dramatischen "Heimatfilm" bezeichnen, nur hat Hou Hsiao-hsien, der wohl bedeutendste taiwanesische Filmemacher, ganz gewiß keinen Film für ein westliches Publikum realisiert. Aber sein episch ausuferndes Werk wirkt auch für hiesige Augen und Ohren um so erkenntnisreicher, als Hou keinen Geschichtsunterricht im schulischen Sinne erteilt, sondern etwas über die atmosphärische "Beschaffenheit" seines Volkes, dessen Empfindungen und Bedürfnisse, Träume, Ängste und Leiden vermittelt. Bis weit in die 80er Jahre waren die schrecklichen Ereignisse der unmittelbaren Nachkriegsjahre, als Taiwan zwischen nationalchinesischen und kommunistischen Ideologien, zwischen Korruption, Inflation und wirtschaftlicher Krise, zwischen Haß und Mißtrauen, Resignation und Rebellion hin- und hergerissen wurde, ein Tabu-Thema. Erst nach Aufhebung des Kriegsrechts 1987 setzte ein allmähliches, heute noch mühsames Verstehen jener Ereignisse ein, die viele tausend Menschen das Leben kosteten. Einer der jungen Befreiungskämpfer fragt im Film einmal: "Wann werden wir endlich eine Zukunft haben?" Eine Frage, die auch Hou Hsiao-hsien 1989 wieder stellt. Vieles von dem, was er erzählt, bleibt hierzulande zwangsläufig nur schwer zu verstehen oder nachzuvollziehen. Historische Eckdaten liefert nur ein Rollvorspann; Hou selbst geht es viel mehr um die psychische Beschaffenheit im Lande, die er in verschiedenen "Atmosphären" auffächert, ohne dabei je expressiven Ausstattungspomp oder gar aufwendig-naturalistisches Kulissen-Kino zu bieten. Die Schauplätze bleiben überschaubar: das Haus der Familie, die Eingangshalle zum Krankenhaus, die wiederum mit einem Gang im Gefängnis korrespondiert, der Spieltisch in Wen-heungs Kaschemme und immer wieder Bilder der atemberaubenden, zeitlosen Schönheit der taiwanesischen Küstenlandschaft und Wälder. Die Kamera bleibt überwiegend statisch, beobachtet von außen, ohne je mehr als halbnah an die Gesichter heranzugehen. Wenn es zu handfesten Auseinandersetzungen kommt, fährt sie abrupt zurück, so daß sich die Bewegungen in der Weite der Einstellung auflösen und nur die Geräusche übrigbleiben. Bemerkenswerterweise schafft dies weniger Distanz als daß es aufwühlt und emotionalisiert, gerade weil die Individualität des einzelnen in Korrespondenz zum gesamten sozialen Geflecht gesetzt wird.

Noch eindrucksvoller vermittelt sich der permanente Wechsel von Distanz und Nähe in der (Liebes-)Beziehung von Hinomi und Wenching, die durch seine Behinderung zwangsläufig über das Schreiben von kurzen Notizen in aller Stille kommunizieren müssen, selbst wenn sie sich unmittelbar gegenübersitzen. Der Film blendet diese Notizen als "Zwischentitel" ein und nutzt sie dramaturgisch virtuos zur Raffung wie zur prononcierten Dehnung von Ereignissen, vor allem aber auch zur Poetisierung und zärtlichen Überhöhung des Liebesglücks in einer Zeit der äußeren Verwirrung. Schließlich zerfließen die zeitlichen Erzählebenen vollends: Wen-chings schriftliche Berichte nehmen inszenierte Gestalt an und lösen dabei das Raum-Zeit-Kontinuum der Handlung vollends auf. Und das ist es, worauf Hou Hsiao-hsien hinaussteuert: Hier und Jetzt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerfließen zur untrennbaren Einheit. Der Blick auf die historischen Ereignisse ist nie ausschließlich ein Blick zurück, sondern stets auch (aktuelle) Reflexion über das Erzählte. Mit welcher Raffinesse dies geschieht, verdeutlicht auch die auf den ersten Blick überraschende Off-Kommentierung der Ereignisse durch einige Tagebuch-Aufzeichnungen Hinomis, die die Ungleichzeitigkeit von Bild und Wort andeuten. Gleichzeitig ist dieser "weibliche Kommentar" ein bemerkenswerter Versuch, der "offiziellen" patriarchalischen Struktur der chinesischen Gesellschaft und ihrer Geschichtsschreibung eine "emanzipatorische", andere Sichtweise gegenüberzustellen. Ähnlich wie die Kameraarbeit, verweist also auch der stete perspektivische Wechsel in der Kommentierung auf das besondere Erzählkontinuum des Films.

"Eine Stadt der Traurigkeit" verbindet alle disparaten inhaltlichen wie formalen Elemente, Spannungen und Widersprüchlichkeiten zu einem vollkommen ausgeglichenen Kunstwerk von unverstellter Klarheit und vollkommener Poesie. Gewiß, man muß eine heute im Kino kaum noch übliche Geduld aufwenden, um sich diesem Film zu nahem, und ebenso muß man die Leerstellen akzeptieren, die bei dem Versuch, ihn zu verstehen, zwangsläufig auftreten. Die Trauer und Melancholie, die Hou Hsiao-hsiens Film prägen, liegen "zwischen" dem Sichtbaren und sind dennoch stets präsent. Sie sind entscheidender Teil des Verstehens und Begreifens von Historie, die nicht nur aus Jahreszahlen, Schlachtdaten und den Namen politischer Führer besteht, sondern aus Menschen, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen. Insofern ist "Eine Stadt der Traurigkeit" auch eine filmische Meditation im taoistischen Sinne, geht es doch um die Suche nach dem Frieden und der Harmonie mit der Welt.
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