Boy meets Girl

Liebesfilm | Frankreich 1983 | 100 Minuten

Regie: Leos Carax

Ein junger Mann Anfang 20 verliebt sich in Paris in eine gleichaltrige Frau, schon bevor er ihr direkt begegnet, doch für ihre Liebe gibt es keine Zukunft. Eine mit einem Minimum an Handlung und einer überbordenden Fülle von optischen und akustischen Einfällen entwickelte "Stoffsammlung" über Liebe und Liebessehnsucht, Einsamkeit und die Unmöglichkeit des Glücks in dieser Welt. Léos Carax' in seiner rigorosen Haltung gleichermaßen irritierender und betörender Erstlingsfilm gehorcht in seiner inneren Logik ausschließlich den "Gesetzen" des Kinos und der Gefühle, die es auslöst. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
BOY MEETS GIRL
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1983
Produktionsfirma
Abilene
Regie
Leos Carax
Buch
Leos Carax
Kamera
Jean-Yves Escoffier · Pasqual Rabaud
Musik
Jacques Pinault · Jo Lemaire · David Bowie
Schnitt
Nelly Meunier · Francine Sandberg
Darsteller
Denis Lavant (Alex) · Mireille Perrier (Mireille) · Carroll Brooks (Helen) · Elie Poicard (Bernard) · Maïté Nahyr (Maité)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Liebesfilm
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Diskussion
Produziert in Schwarz-weiß

Leos Carax hat den Inhalt von "Boy meets Girl" ebenso umfassend wie knapp beschrieben: "Sie heißen Alex und Mireille, sind 1960 geboren, leben in Paris. Sie kennen sich noch nicht, er liebt sie schon, zu spät." Als Carax seinen Erstlingsfilm inszenierte, war er nicht älter als Alex und Mireille, und so wenig er in der Tat über die Handlung des Films zu sagen brauchte, so fasziniert und verblüfft sitzt man vor dem, was er überaus beredt in einem Feuerwerk von Bildern und Atmosphären einfängt - Bilder wie in einem Taumel, in dem jemand seinen mit Geschichten und Eindrücken vollgestopften Kopf, aber auch die Empfindungen in seiner Seele "entrümpelt1' und die (filmische) Nacht wie sein eigenes Unterbewußtes zum Leuchten bringt. Paris bei Nacht. Die Seine, das Glitzern der Lichter auf der Wasseroberfläche, die Kamera rast darüber, hält an, torkelt in irgendeine Geschichte hinein, die längst außerhalb des Films ihren Anfang genommen hat und auch dort enden wird: Eine Frau hat sich getrennt, flüchtet gemeinsam mit ihrer Tochter im Auto, dessen Windschutzscheibe eine Loch hat. Sie verliert einen Schal, den später Alex aufgreifen und der ihn an seine Geliebte erinnern wird, die ihn mit seinem besten und einzigen Freund betrügt. Die Nacht, der Fluß, der Schal - Objekte, Skizzen, Momentaufnahmen einer mysteriösen "Chronik", in der die Zeit eine wichtige Rolle spielt, die Zeitebenen aber aufgehoben sind: die Zukunft wird in dem Moment zur Gegenwart, in dem sie zum Gedanken wird - Mireille und Alex kennen sich noch nicht, aber er liebt sie schon -, wenn der Gedanke Gegenwart ist, ist er schon Vergangenheit. Meistens sind die Wörter den Bildern voraus, die Gedanken sind schneller als die Bilder, die man dafür findet. Manchmal aber "huschen" in Doppelbelichtungen Gesichter ins Bild, (Vor-) Ahnung und Erinnerung zugleich.

Carax entwickelt seinen Film als eigentümlich-rigorose Stoffsammlung, als ein filmisches Tagebuch, dessen "rücksichtslose" Intimität ebenso irritiert wie fesselt. Wie Alex einen Stadtplan von Paris als heimliches Tagebuch benutzt, so markiert auch Carax ganz offensichtlich Stationen, die ihn geprägt haben. Eine Eintragung von Alex markiert seine erste Lüge gegenüber seiner Geliebten am Pont-Neuf im Jahr 1981, und eine eigentümliche Zeitschleife setzt sich im Kopf des Zuschauers in Gang, die in die Zukunft führt - zu "Die Liebenden der Pont-Neuf (fd 29 648), Carax' zehn Jahre später gedrehtem Meisterwerk, in dem Alex immer noch durch die Stadt taumeln und mysteriöse Glasampullen aurbrechen und leertrinken wird. So konkret die Daten in Alex' Stadtplan-Tagebuch sind ("25.5.1983: der erste Mordversuch") und damit "Geschichte" vorgaukeln, so betörend traumhaft und weltverloren ist die filmische Erzählung selbst. "Boy meets Girl" entzieht sich einer rationalen Logik, ist logisch allenfalls nach den Gesetzen des Kinos bzw. der Gefühle, die es auslöst. Bei einer seiner nächtlichen Spaziergänge sieht Alex auf einer Brücke ein Liebespaar in Umarmung; Alex schaut zu, wie es sich küßt und sich im Kreise bewegt (offenbar von einer Drehscheibe außerhalb des Bildes angetrieben, so daß es sich dreht wie die Figuren auf einer Spieluhr). Er honoriert den "Vortrag", indem er den beiden einige Münzen zuwirft. Dann geht er weiter, das Gehör unter seinem Kopfhörer "versteckt", schließt die Augen, tappt "blind" vorwärts - hinein "in eine Überblendung": in die Füße von Mireille beim Steptanz. So kommen Alex und Mireille durch die Filmbilder zusammen, was keine Unwahrscheinlichkeit des Zufalls ist, sondern die unausweichliche Vorbestimmung eines Liebesfilms. In diesem Sinne entwickelt Carax eine melancholische Meditation über Liebe und Liebessehnsucht, über Einsamkeit und die - zumindest für Carax' Protagonisten gegebene - Unmöglichkeit der Zweisamkeit. Allein - zusammen. "Ich gehe gerne allein spazieren," sagt Mireille zu Alex bei ihrer ersten "wirklichen" Begegnung. "Ich auch", antwortet er, "dann können wir ja zusammen gehen!" Eine Utopie, ein Vorschlag, der zu nichts führt. Der Welt verloren.

"Boy meets Girl" handelt von geheimnisvollen schicksalhaften Verbindungen der Geschicke. Und dennoch auch: von Isolation, Daseinsängsten, Selbstzweifeln und nicht zuletzt vom Zweifel an der Existenz der Liebe außerhalb von Gedanken und Kinofilmen. Jeder ist einsam und hat sich zugleich abgekapselt von der Welt. Immer wieder streiten sich auf der Tonebene Liebespaare, schreien sich ihren Haß entgegen, entladen ihre Enttäuschungen in Wut und verbalen Verwundungen, die sie dem anderen zufügen. In Mireilles Zimmer scheint eine Wand zu fehlen, sie ist durch Fensterglas ersetzt. So sieht sie auf die Fassade des Hauses gegenüber, beobachtet ein Liebespaar, das wiederum in sich gefangen ist und Mireille zwar auch sehen müßte, sie aber nie wahrnimmt - erst recht nicht bei ihrem Selbstmord, der vielleicht keiner ist, eher schon ein Unfall, in den Alex auf schicksalhafte Weise verwickelt ist. Am Ende steht eine "Wiederholung" des Selbstmordes aus veränderter Kamera-Perspektive. Schafft sie Wahrheit und Eindeutigkeit? Verklärt sie, erklärt sie? Am Ende erinnert man sich aber auch an den Anfang, als eine alte Frau sagte: "Alles ist so langsam, so schwer, so traurig..." Nichts ist real in "Boy meets Girl", alles ist Gefühl im Spiegel des Kinos - und damit unter Umständen um so authentischer.
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