Drama | Deutschland 1992 | 87 Minuten

Regie: Helke Misselwitz

In einem ostdeutschen Dorf ist das soziale Leben nach der Wiedervereinigung zum Erliegen gekommen. Eine junge Frau und Mutter zweier Kinder ringt nach dem Selbstmord des Mannes um Lebensmut, doch ihre Liebe zu einem dunkelhäutigen Fremden führt zur Katastrophe. Erzählerisch holprig und im Einsatz symbolischer Verweise allzu aufdringlich, vermittelt der hervorragend fotografierte und gespielte Erstlingsfilm dennoch eindrucksvoll ein weitgehend klischeefreies Bild einer von Arbeitslosigkeit, Ausländerhaß und Perspektivlosigkeit geprägten Region. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Thomas Wilkening Filmgesellschaft/DEFA/ZDF
Regie
Helke Misselwitz
Buch
Helke Misselwitz
Kamera
Thomas Plenert
Musik
Poems for Laila · Georges Bizet · Giuseppe Verdi
Schnitt
Gudrun Steinbrück
Darsteller
Claudia Geisler (Johanna) · Günter Lamprecht (Johannas Vater) · Eva-Maria Hagen (Elsa) · Nino Sandow (der Fremde) · Tatjana Besson (Lisa)
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Vom Himmel "schneit" es schneeweiße Federn, doch das poesievolle Bild, das eine idyllische Märchenwelt vorgaukelt, trügt: "unten" auf der Erde rupfen Frauen in einer Großküche eines ehemaligen DDR-Betriebes die geschlachteten Gänse, und irgendwie drängt sich der Vergleich auf, daß auch den Arbeiterinnen selbst das Fell über die Ohren gezogen wird. Da die Betriebsküche auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Lage nach der Wiedervereinigung schließen muß, landet Johanna, Mutter zweier Kinder, auf der Straße - dort, wo bereits seit geraumer Zeit ihr frustrierter, stets betrunkener Ehemann ist, ein Bauer, der seine Rinder nicht mehr verkaufen kann, weil niemand da ist, der sie ihm abnimmt. So herrscht denn in dem Provinznest Herzsprung, irgendwo im Norden der einstigen DDR, tiefe Depression, Gebäude und Natur verfallen, verkommen zum Spiegel einer verwüsteten (Seelen-)Landschaft. Als gar Johannas Mann im Kuhstall ein Massaker unter den Tieren anrichtet und sich anschließend selbst tötet, ist der Tiefpunkt erreicht: Johanna watet wortwörtlich durch einen Schlamm aus Blut, Landschaft und Menschen sind ausgeweidet bis auf die Knochen.

Was Heike Misselwitz in ihrer ersten Spielfilmarbeit an Bildern und Grundstimmungen einfängt, ist in der Tat ein deprimierendes Endspiel-Szenario, das erschütternderweise direkt vor der eigenen Tür angesiedelt ist. Um so faszinierender, daß sie sich nicht in larmoyanter Wehleidigkeit verzettelt, vielmehr kleine "Inseln" ausmacht, auf denen "trotz allem" so etwas wie Überleben - zumindest im privaten Bereich - möglich scheint. Das erinnert an ihre besten Dokumentarfilme, etwa an "Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?" (1989), in dem Heike Misselwitz auf vergleichbare Weise eine einfühlsame Annäherung an die privaten "Innenansichten" eines Ost-Berliner Kohlenbetriebes gelang. Ähnlich überzeugend inszeniert sie nun Stärke und Zusammenhalt der Menschen: allein das Gesicht Johannas drückt eine unzerstörbare, dem Leben offen zugewandte Kraft aus, die man aus den äußeren Umständen heraus kaum noch zu erklären vermag; und ihr Vater, nach seiner Pensionierung vereinsamt und melancholischen Träumereien nachhängend, findet gar den Mut zu einem Neuanfang mit Elsa, einer ehemaligen Arbeitskollegin Johannas. Elsa wiederum hat längst nicht mehr daran geglaubt, daß man als Mittfünfzigerin Liebe und (privates) Lebensglück genießen kann - jetzt aber, in den Armen von Johannas Vater, fühlt sie sich von Tag zu Tag jünger werdend. Das sind erste zarte Hoffnungstriebe eines Neuanfangs von Menschen nach dem totalen Nullpunkt, nach dem Schock eines unerwartet heftigen politischen wie menschlichen Kahlschlags. Doch Heike Misselwitz zeigt, daß den Menschen kaum Zeit gelassen wird, um zu sich zurückzufinden und um sich in ihren Lebensansprüchen und Glückssuchen neu zu orientieren. Johanna steht da wohl nur als ein Beispiel für viele im Land. Von einer Freundin, die in den Süden Europas auswandert, übernimmt sie einen Friseursalon. Als ein dunkelhäutiger Fremder durch Herzsprung zieht und sie sich in ihn verliebt, ist ihr gemeinsames Glück schnell bedroht. Der Fremde findet Arbeit, was die Mißgunst der übrigen weckt, und er ist eben ein "Neger" - was den Fremdenhaß frustrierter Jugendlicher schürt, die sich in einer "Wehrsportgruppe" organisiert haben und "Ordnungshüter" spielen. Johanna selbst spürt die Bedrohung kaum, sind doch die Jugendlichen ihre ehemaligen Klassenkameraden, die in ihren Augen noch nichts an Sympathie eingebüßt haben. Dazu gehört auch, daß sie einen von ihnen, Soljanka, der sie verehrt, neckt, ohne zu spüren, daß sie mit dem Feuer spielt. Schließlich kommt es zur Katastrophe, die zwar keiner wollte, an deren Vorbereitung aber viele beteiligt waren. Wieder treiben um Johanna die weißen Federn; von ihrem Tod am Rande der Autobahn nimmt aber keiner der vorbeirauschenden Autofahrer Kenntnis.

"Herzsprung" ist ein seltenes Beispiel dafür, daß es im (gesamt-)deutschen Film doch noch möglich sein kann, politische und gesellschaftliche Aktualität einzufangen, ohne ihr nachzuhinken; daß der Film durch die rechtsradikalen Übergriffe auf Ausländer in Deutschland noch an Brisanz gewonnen hat, ist dabei vielleicht weniger ein Zufall als Teil einer deprimierenden Voraussehbarkeit schon lange schwelender Tendenzen. Vor allem ist es der hervorragenden Kameraarbeit zu verdanken, daß sich die angesprochenen Stimmungen zu einer äußerst dichten Bestandsaufnahme zusammensetzen, wobei die nicht minder hervorragenden Schauspieler (vor allem die in der Tat mit intensiver "Schönheit" spielende Eva-Maria Hagen) wichtige Akzente in der Beschreibung der menschlichen Befindlichkeiten setzen. Ansonsten inszeniert Heike Misselwitz natürlich (noch) mit allen Schwächen eines Spielfilmerstlings: der erzählerische Rhythmus wirkt seltsam unausgewogen, manchmal auch betulich, die Überbetonung symbolischer Verweise - stets die Farbe Rot als Sinnbild für "Herz, Schmerz und Liebe", stets präsent in Autos, Kleidern, Schuhen und Haaren - ist eher nervend als einleuchtend. Und dennoch berührt der Film, vielleicht gerade weil er keine papierene Ursachenforschung in Sachen Ausländerhaß und Rechtsradikalismus betreibt, dafür aber Einfühlungsvermögen und Verständnisbereitschaft zeigt - und, bei allen Schwächen, den Willen zu einer eigenständigen dramaturgischen Verdichtung.
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