Das Sommeralbum

Kinderfilm | Deutschland 1991 | 91 Minuten

Regie: Kai Wessel

Im Sommer 1905 macht ein elfjähriges Mädchen mit seiner begüterten Familie Urlaub an der Ostseeküste Litauens. Während seine beiden Brüder ihren Traum vom Fliegen verwirklichen wollen, entdeckt es mit einem alten Fotoapparat seine Umwelt neu. In ruhigem Rhythmus und betörend schönen Landschaftsbildern erzählt der Film unaufdringlich und einfühlsam davon, wie sich Kinder auf dem Weg des Heranreifens ihre eigene Welt schaffen und sich "emanzipieren" und behaupten. - Sehenswert ab 8.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Ottokar Runze Filmprod./DNR/DOM Film
Regie
Kai Wessel
Buch
Beate Langmaack
Kamera
Achim Poulheim
Musik
Robert Schumann
Schnitt
Sabine Jagiella
Darsteller
Hanna Mattes (Josefine) · Eva Mattes (Mutter) · Wanja Mues (Zacharias) · Jan Hinrichsen (Bartholomäus) · Micha Lampert (Vater)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 8.
Genre
Kinderfilm
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Diskussion
Sommer 1905 in Litauen: Durch die betörend schöne Landschaft des schmalen Landstreifens, der das Kurische Haff von der Ostsee trennt, tuckert ein für die damalige Zeit wohl recht luxuriöses Auto. Das Verdeck ist geöffnet, und die Insassen - die begüterte Großbürger-Familie Stern auf dem Weg zu ihrem Sommerhaus am Meer - lassen sich den frischen Fahrtwind entgegenwehen. Während die standesstolze Mutter die Fahrt in Würde und Haltung genießt, kann ihre elfjährige Tochter Josefine ihre Vorfreude kaum verbergen. Zu vielversprechend ist die Aussicht auf abenteuerliche Tage mit ihren beiden älteren Brüdern Zacharias und Bartholomäus, zu verlockend die Perspektive, daß bald der Vater, ein vielbeschäftigter Fotograf, seine Arbeit in der großen weiten Welt unterbricht und zum Rest der Familie stößt. Doch schon bei der Ankunft in der idyllischen Sommerresidenz deutet sich an, daß alles anders wird als in den Jahren zuvor. Die Brüder ziehen sich von Josefine zurück und verschanzen sich im angrenzenden Schuppen, wo sie ein großes Geheimnis "ausbrüten". Bald fühlt sich Josefine zurückgesetzt: keiner - sie selbst eingeschlossen - erkennt, daß sie kein kleines Kind mehr ist und mit einer ganz neuen Ernsthaftigkeit auf die Menschen und Dinge in ihrer Umgebung reagiert. So kommt es zu manchen Enttäuschungen und Tränen, und erst als der Vater eintrifft und Josefines Not erkennt, dreht sich der Wind: er schenkt ihr seine alte Kamera, weiht sie in die Grundtechniken der Fotografie ein, und voller Enthusiasmus stürzt sich die überglückliche Josefine auf alles, was sich ablichten läßt: die Familie, die Pflanzen, das Meer, die Kinder im Dorf. Immer weiter zieht sie bei ihren Entdeckungen ihre Kreise, und am Ende - als sie endlich auch am Geheimnis der Brüder teilhaben darf - spielt sie eine ganz neue Rolle im Kreis ihrer Familie. Das große Abenteuer, in das sie sich mit ihren Brüdern stürzt und das beinahe ein böses Ende nimmt, bekommt dank

Josefines neuem Fotoalbum doch noch einen tröstlichen Abschluß mit tollen Erinnerungen an einen großartigen Sommer.

So wie Josefine am Ende während der Rückreise den staunenden Brüdern ihr "Sommeralbum" präsentiert, so blättert auch Kai Wessel seine Geschichte im Glanz eines idyllischen Film-Albums voller Erinnerungen an schöne Tage auf. Eingebettet in betörende Landschaftsbilder taucht der Film in eine längst vergangene Epoche ein, in der "alles noch besser war". Doch so platt wie sich dies anhört, ist der Film nie, im Gegenteil: sehr geschickt bedient sich Wessel des historischen Hintergrundes, um auf eher zeitlose Weise davon zu erzählen, wie sich Kinder auf dem Weg des Heranreifens ihre eigenen Welten schaffen und sich auf noch bescheidene, aber essentielle Weise "emanzipieren" und behaupten. Geradezu raffiniert ist der Einfall, dies an zwei prototypischen Formen kindlicher Geheimnisse zu tun: auf der einen Seite sind es die beiden Brüder, die inmitten einer Epoche des gesellschaftlichen Aufbruchs von den Abenteuern der noch jungen Fliegerei träumen und ihr eigenes Flugzeug nach den "Gesetzen" Otto Lilienthals konstruieren; und auf der anderen Seite ist es das aufgeweckte Mädchen Josefine, das sich seine Umwelt erobert, indem es sie in Bildern festhält und sie sich damit erklärt. Wenn am Ende das große und gar nicht ungefährliche Flugabenteuer mit einigen blauen Flecken glimpflich ausgegangen ist, dann sind es vor allem Josefines Fotos, die dokumentieren, daß es doch kein vertaner Sommer für die Kinder war. Aber es sind nicht nur Dokumente, die Josefine bereithält, denn sie greift sogar in die abgebildete Wirklichkeit ein: als Geschenk für die Brüder klebt Josefine ein Bild des selbstkonstruierten Flugzeuges auf das zweite Bild eines strahlend blauen Himmels und konstruiert durch solche Foto-Montage eine reale Utopie: Seht, auf andere Art als erwartet haben wir in diesem Sommer doch das Fliegen gelernt! So ist "Das Sommeralbum" über die faszinierende Schönheit der Bilder und den angenehm-souveränen ruhigen Erzählrhythmus hinaus ein sympathisches Plädoyer dafür, daß Kinder ihre Geheimnisse und Träume haben müssen, mit denen sie sich ihre Welt selbst erobern. Und um sich wirklich aufmerksamen und wachen Blickes der heutzutage weitaus komplizierteren Welt zu nähern - dazu gehört die unbedingte Bereitschaft der Erwachsenen, das Sehen, Entdecken und Verstehen zu akzeptieren und zu fördern.
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