Drama | Kanada/Frankreich 1991 | 107 Minuten

Regie: Jean-Claude Lauzon

Erinnerungen des kanadischen Regisseurs Jean-Claude Lauzon an seine Kindheit in einem Armenviertel, als er vor der erdrückenden Enge der Familie ins Schreiben und den Traum von einem anderen Leben flüchtete. Die Erinnerungsarbeit setzt einen rauschhaften Strom von Bildern frei, unkontrolliert, aber von verstörender Schönheit. Eine schonungslose filmische Selbsttherapie, die auch Monstrositäten und Schockmomente birgt.
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Filmdaten

Originaltitel
LEOLO
Produktionsland
Kanada/Frankreich
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Les Productions du Verseau/Flach Film/Le Studio Canal+/National Film Board of Canada
Regie
Jean-Claude Lauzon
Buch
Jean-Claude Lauzon
Kamera
Guy Dufaux
Musik
Richard Grégoire
Schnitt
Michel Arcand
Darsteller
Maxime Collin (Leolo) · Ginette Reno (Mutter) · Julien Guiomar (Großvater) · Yves Montmarquette (Fernand) · Pierre Bourgault (Dompteur der Worte)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Genre
Drama
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Diskussion
Zweimal hat der Großvater versucht, Leolo umzubringen. Das eine Mal war so: Die Kinder toben vor der Haustür im kleinen Wasserbecken. Es ist Sommer, auch Opa sitzt in der Sonne. Das Wasser spritzt, die Mutter mahnt, aber das Wasser spritzt immer weiter. Opa wird naß, er wird ungeduldig, wütend, bis ihm der Kragen platzt, und er den Jungen, Leolo, ins Becken drückt. Erst die Mutter kann ihn zurückreißen.

Das Gedächtnis ist ein tiefer Teich, trübe an der Oberfläche und trügerisch ruhig, bis die Bilder nach oben drängen, die Momente von früher, unerwartet, ungewollt auch, ohne Zusammenhang, aber oft in erschreckender Schärfe. Der Mensch gefangen in seiner Erinnerung. "Ich weiß nur, da war nichts bewußt und überlegt", sagt Jean-Claude Lauzon. Lauzon erinnert sich an seine Kindheit, die Jahre in einer beengten Wohnung in Mile End, dem Armenviertel im Osten von Montreal, erdrückt vom Elend und vom bösartigen Chaos der Familie. Der Junge hat nur Flucht im Sinn. Er erfindet sein Leben neu. "Parce que moi je reve moi je ne le suis pas." Er heißt Leolo und kommt aus Sizilien, und er liebt Bianca, das schöne Mädchen von gegenüber. Er bringt, was er sieht und erlebt, zu Papier, versucht die Rätsel um ihn herum in fiebrigen Fantasien in den Griff zu kriegen. Nach und nach tauchen sie auf aus dem trüben Teich: der Vater, der meint, Krankheiten beuge man am besten mit Abführtabletten vor, und die Wirkung der wöchentlichen Ration peinlich genau überwacht; der größere Bruder, der Leolo im Hafenbecken nach Schrott tauchen läßt, der seinen Körper mit Bodybuilding bläht und dabei innerlich klein bleibt wie eine Maus - ein schlichtes Gemüt, wie Rita und Nanette, die Schwestern; der Großvater natürlich, der sich für ein bißchen Geld noch ein paar Liebesdienste vom Nachbarmädchen kauft; und die Mutter in ihrer fetten Schwerfälligkeit - das einzige berechenbare Element im Chaos, der einzige Leib, an den Leolo sich klammern kann. Selten sind sie alle zusammen, oft steckt einer in der Psychiatrie, einmal sogar alle. Ich träume, also bin ich nicht. Nicht so. Nicht verrückt. Sie tauchen auf, und dann verschwinden sie wieder.

Die Geschichten und Geschichtchen der Familie Louzon haben keine Klammer, sie fransen an den Rändern aus; das, was sie zusammenhält, ist einzig Leolos Blick, immer neugierig, mal naiv, mal fassungslos, als wisse er schon, daß das Elend kein Ende haben wird. Gelegenheitsfilmer Lauzon (sein letztes Werk "Un Zoo La Nuit" datiert auf 1987) blättert in einem Familiealbum, immer wieder schlagen Seiten um, legen sich Aufnahmen übereinander, die an sich nicht zusammengehören. Erinnerung als gefühlsgeladene, schmerzhafte Wühlarbeit, die ihr Opfer "heimsucht" (Lauzon), die weniger verklärt als vielmehr verzerrt, wenn der erwachsene Regisseur sich in die Sicht des 14jährigen Jungen zurückversetzt, der er einmal war. Auch der "Dompteur der Worte" rückt da nichts ins Objektive zurecht, der Alte, der in den Mülltonnen der Stadt wühlt und dabei Leolos Aufzeichnungen findet (eine Hommage an den Lehrer, der Lauzons literarische Talente förderte). Die Bilder, die so ans Licht kommen, sind traumhaft schön, sie berauschen und verstören. Aber sie erschrecken auch, oder sie widern an. Sodomie als Mutprobe, ein ausgeklügelter Mordversuch am Großvater, der auf makabre Weise scheitert - die Selbsttherapie, der sich Lauzon mit diesem Film unterzogen hat, klammert den Schock (auch für den Zuschauer) nicht aus. So wenig Erinnerungen eine Ordnung kennen, so wenig kennen sie Scham. (Sie können höchstes verdrängt sein.) Das Schreiben übriges ist für den jungen Leolo nicht genug Therapie zum Leben "in diesem Friedhof der lebenden Toten". Am Ende kommt auch er ins Hospital, starr im Eiswasser liegend, mit glasigen Augen, die genug gesehen haben. Ich bin nicht.
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