Drama | Großbritannien 1991/92 | 95 Minuten

Regie: Stephen Gyllenhaal

Ein Geschichtslehrer in Pittsburgh erzählt in schwerer Lebenskrise seinen Schülern die Geschichte seiner Jugend in einer ostenglischen Meereslandschaft: tragische und dramatische Ereignisse um seine Liebe zu einem Mädchen, das seine Frau wurde, und um seinen geistig behinderten Bruder. Eine inszenatorisch mitunter holprige Auseinandersetzung mit dem (Miß-)Verhältnis von beschriebener und erlebter Geschichte. Der innere Kampf einer späten Selbstfindung spiegelt sich sinnbildhaft in überwiegend literarischen Symbolen, die in betörenden Landschaftsbildern eine filmische Entsprechung finden. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
WATERLAND
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1991/92
Produktionsfirma
Palace and Fine Line/Pandora/Channel 4
Regie
Stephen Gyllenhaal
Buch
Peter Prince
Kamera
Robert Elswit
Musik
Carter Burwell
Schnitt
Lesley Walker
Darsteller
Jeremy Irons (Tom Crick) · Sinéad Cusack (Mary Crick) · Grant Warnock (Tom als Junge) · Lena Headey (Mary als Mädchen) · Callum Dixon (Freddy Parr)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Seit 32 Jahren unterrichtet der Engländer Tom Crick Geschichte an einer Highschool im amerikanischen Pittsburgh; 32 Jahre, in denen er seinen Schülern große historische Ereignisse erklärte, so wie in diesem Moment - im Jahr 1972 - die Französische Revolution. Doch die gelangweilten 15- bis 16jährigen fragen nach dem Sinn eines solch konventionell dargebotenen Lehrfachs; die Vergangenheit ist kaum ein Versprechen für ihre eigene Zukunft, und von den individuellen Ängsten und Katastrophen, Leidenschaften und Bedürfnissen der "Geschichte gewordenen" Menschen bleibt im Geschichtsbuch ohnehin nichts übrig. Für Tom scheinen die Dinge aus dem Ruder zu laufen - nicht nur wegen des aufsässigen Desinteresses der Schüler und nicht nur, weil sein Arbeitsplatz auch von seiten der Schulleitung gefährdet ist und man ihm die vorzeitige Pensionierung nahelegt. Vor allem sorgt sich Tom um das Seelenheil seiner Frau Mary, die immer stärker darunter leidet, daß sie keine Kinder bekommen kann, und sich zusehends in psychothische Reaktionen hineinsteigert. Tom ringt sichtlich um Fassung, Haltung und um Besinnung - Besinnung und auch Rückbesinnung auf die eigenen Ursprünge, auf viele offene Fragen seiner Vergangenheit. Und so hört er auf, die mißtrauischen Schüler Geschichte zu lehren, und beginnt unvermittelt damit, seine eigene Geschichte zu erzählen: eine Geschichte aus den "Waterlands", einer abseitigen Küstenregion im Osten Englands, wo das Land - die "Fens" -mühsam dem Meer abgerungen wurde und in einem ständigen Kampf mit der Natur bewahrt und gesichert werden muß.

Toms Geschichte ist im wahren Sinne "Vergangenheitsbewältigung", und die archaische Landschaft der "Fens" spiegelt sinnbildhaft seinen inneren Kampf einer späten, fast zu späten Selbstfindung. "Vergeßt eure Revolutionen, eure Wendepunkte in der Geschichte", heißt es an einer Stelle des Romans von Graham Swift. "Betrachtet statt dessen den langsamen und mühsamen Prozeß, den unendlichen und doppeldeutigen Prozeß - den Prozeß der menschlichen Verschlammung - der Rückgewinnung von Land." Dieses vornehmlich auf literarische (Sinn-)Bilder der Erkenntnisvermittlung aufgebaute Erzählkonzept, in dem jede Schleuse, jedes Rinnsal und jede Brackwasserlagune zum Symbol für menschliche Regungen, Verdrängungen und Mühen wird, ist filmisch nur schwer zu adaptieren; und in Stephen Gyllenhaals zweitem Kinofilm knackt es manchmal arg in der Konstruktion, wenn allzu gewaltsam (oder auch platt-verspielt) die beiden Erzähl- und Zeit- ebenen miteinander verschachtelt werden. Aber mit zunehmendem Verlauf der Handlung entwickelt das erzählerische Konstrukt doch eine eigentümliche Sogwirkung, fühlt man sich hineingezogen in Toms dramatische Jugenderinnerungen um Liebe und Erotik, um Haß und Tod. Tom erzählt von seiner frühen Liebe zu Mary, die er schon als Schüler (noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs) liebt und begehrt - genau wie sein bärenstarker, aber geistig zurückgebliebener Bruder Dick. Er erzählt von den frühen sexuellen Begegnungen mit Mary im Eisenbahnabteil, in einer abgelegenen Mühle - und von den fatalen Folgen einer unerwarteten Schwangerschaft Marys, die noch viel zu jung ist, um Mutter zu werden. Schließlich offenbart Tom seinen Schülern das Geheimnis der tragischen Herkunft seines (Stief-)Bruders Dick, der in inzestuöser Liebe vom eigenen Großvater gezeugt wurde, zum Mörder wird, um sich schließlich aus Verzweiflung über sein Dasein selbst zu richten.

Eine Geschichte also über "Rückgewinnung von Terrain", damit eng verbunden auch über den Umgang mit der Sexualität, mit tabuisierten, versteckten und schließlich verdrängten Leidenschaften und den Verletzungen und Verstörungen, die daraus erwachsen und durch nichts anderes als Liebe geheilt werden können; doch die Liebe droht auszutrocknen und zu versanden. Ein späte Initiationsgeschichte, die ihre Ernsthaftigkeit ebenso aus der Melancholie der Landschaft wie aus der tiefen Wehmut der in ihr lebenden und an ihr leidenden Menschen bezieht - Menschen, die zugleich auch ein Reflex auf die Verarmung urbaner "Neuzeit-Menschen" sind, die sich allenfalls intellektuell-edukativ Geschichten und Geschichte aneignen, sie aber nicht mehr durchleiden und erfahren. Das ist eine durchaus spannende und erkenntnisreiche Auseinandersetzung mit beschriebener Geschichte einerseits und mit erlebter Geschichte andererseits, faszinierend freilich wie gesagt eher als Entwurf eines Literaten, für den der Film vor allem in den betörenden Landschaftsbildem eine Entsprechung findet.
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