Die Reise (1992)

Drama | Argentinien/Frankreich 1992 | 139 Minuten

Regie: Fernando E. Solanas

Ein junger Mann macht sich von der Südspitze Feuerlands aus auf die Suche nach seinem Vater, der vor der argentinischen Militärjunta ins Exil floh. Seine Suche führt ihn quer durch den lateinamerikanischen Subkontinent und konfrontiert ihn mit wirtschaftlich und moralisch verwahrlosten, unter vielfältigen Formen der Ausbeutung leidenden Ländern. Kein Entwicklungsroman im eigentlichen Sinne, dazu bleibt die Hauptfigur zu blaß, aber eine durch ihre Bilderfülle und surrealen Einfälle fesselnde Reise durch die Seelenlandschaft eines Kontinents, die mit melancholischem Blick dessen Verwahrlosung registriert. (Kinotipp der katholischen Filmkritik; neuer Titel: "El Viaje - Die Reise") - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
EL VIAJE
Produktionsland
Argentinien/Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Cinesur/Les Films du Sud
Regie
Fernando E. Solanas
Buch
Fernando E. Solanas
Kamera
Félix Monti · Roberto H. Mateo
Musik
Egberto Gismonti · Astor Piazzolla · Fernando E. Solanas
Schnitt
Alberto Borello
Darsteller
Walter Quiroz (Martin) · Dominique Sanda (Helena) · Soledad Alfaro (Vidala) · Ricardo Bartis (Studienaufseher) · Cristina Becerra (Violeta)
Länge
139 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Road Movie

Diskussion
Die Gegend, in der der junge Martin lebt, "unwirtlich" zu nennen, wäre ein Euphemismus. "Seine" Stadt heißt Ushuaia, ist die südlichste der Welt und liegt in Feuerland, der Südspitze Argentiniens. Eine Stadt inmitten einer meist schneebedeckten Landschaft, deren karge Schönheit sich zwar gut auf Kalenderblättern macht, aber als Lebensraum nicht eben einladend wirkt. Dennoch ist es zunächst weniger die Sehnsucht nach - in jeder Hinsicht - "wärmeren" Gegenden, nach Freiheit und Abenteuer, die Martin nach Absolvierung eines mit militärischem Drill geführten Internats von zu Hause forttreibt. Was ihn sämtliche Brücken hinter sich abbrechen läßt, ist eher die Enttäuschung über seine gescheiterte Liebe zu seiner Jugendfreundin Violeta und der ständige Zwist mit seinem Stiefvater, den Martins Mutter geheiratet hat, nachdem ihr Mann vor der Militärjunta ins Exil flüchtete und seine Familie zurückließ. Martin kennt seinen Vater fast nur nur aus unzähligen Briefen und vor allem Bildergeschichten, die er ihm im Laufe der Jahre geschickt hat. Eines Morgens verläßt er sein Elternhaus in Ushuaia, um sich per Fahrrad auf die Suche nach seinem Vater zu machen. Für dessen Aufenthaltsort hat er allerdings nur einige vage Anhaltspunkte, die kaum eine genauere Ortsbestimmung zulassen als: irgendwo in Südamerika. Die Reise wird für Martin zu einer ebenso beschwerlichen wie abenteuerlichen Odyssee durch die verschiedensten topographischen wie klimatischen Landschaften und Kulturen, sowie die nicht minder differierenden politischen Systeme. Nachdem er die kargen Weiten Patagoniens durchquert hat, auf Arbeiter getroffen ist, die auf einer verlassenen Schaffarm wohnen und für ausländische Konzerne Öl fördern, gelangt er nach Buenos Aires. Die argentinische Hauptstadt, umgeben von einem riesigen Überschwemmungsgebiet, in dem die Bewohner vor sich hin leben, als sei knietiefes Wasser in ihren Wohnungen die normalste Sache der Welt, gleicht einer surrealen Venedig-Ausgabe: unzählige Wasser-Kanäle stinken vor Kot und Unrat, während die Ministerriege mit Frack und Schwimmflossen das Volk mit Durchhalteparolen "füttert". Martins Reise geht weiter ins bolivianische Hochland, wo, neuesten Gerüchten zufolge, sein Vater sich aulhalten soll. Doch wo immer er ankommt, heißt es, sein Vater habe den Ort vor kurzem verlassen und sei nun da und dort. Vermutlich. Und so strampelt Martin nach Brasilien, trifft die "neue" Ehefrau seines Vaters, muß aber von ihr hören, daß sie mit ihm schon seit längerer Zeit nicht mehr zusammenlebt. Nach einigen weiteren Umwegen fuhrt die Spur des Vaters Martin schließlich nach Mexiko...

Nachdem Fernando E. Solanas in seinem letzten Film ("Süden - Sur", fd 27 224) die Rückkehr aus dem französichen Exil in seine argentinische Heimat in metaphorischen Bildern beschrieben hat, unternimmt er mit "Die Reise" eine großangelegte (Wieder-)Entdeckung des südamerkanischen Kontinents. Und wieder sind es in erster Linie unvergeßliche Bilder, Panoramen von bezwingender Schönheit, die die Magie des Films bestimmen. Eine Hommage an Südamerika in Tableaus, die die Vielfalt von Landschaft und Kulturen, von den unwirtlichen Weiten Patagoniens über die Anden bis zum brasilianischen Urwald lebendig werden lassen. Doch zugleich schickt Solanas seinen jugendlichen Helden auf eine Reise durch die Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas. Eine Geschichte, die wie die Aktualität in erster Linie von Ausbeutung bestimmt ist. Doch in die Melancholie und Bitterkeit dieser Bestandsaufnahme mischt sich immer wieder die Perspektive des staunenden Jugendlichen, die mitunter auch gegen Naivität nicht gefeit ist. Darüber hinaus zieht Solanas so ziemlich alle Register filmischer Stilarten. Da wird fast Dokumentarisches (die Arbeit in einer brasilianischen Goldmine) mit romantisch verklärten Liebesgeschichten verbunden, böse Satiren (in Brasilien entwerfen Designer eine "fesselnde" Kollektion für die Regierungsparole "Den Gürtel enger schnallen!") mit (des Vaters) Comic-Strips zur lateinamerikanischen Geschichte kombiniert, und, wie etwa in den Romanen eines Marquez, mit leichter Hand Reales und Surreales verknüpft - am eindringlichsten in jenen Sequenzen des Überschwemmungsgebietes rund um Buenos Aires. Die Bilder, die Solanas hier erfindet, können es in puncto Fabulierlust und satirischem Biß ohne weiteres mit denen Luis Buñuels aufnehmen. Gegen diese überbordenden Einfälle und die phantastische Bilderpracht fällt Martins Reise zu "sich selbst", seine Initiation und Suche nach seinen Ursprüngen und Wurzeln - im Patriarchat noch immer die Suche nach dem starken Vater (sein Stiefvater erscheint als lauer Schwächling) - allerdings merklich ab. Angesichts all der auf ihn einstürzenden Eindrücke scheint ihm kaum Zeit zu bleiben, Erfahrungen zu machen. "Martin" bleibt in erster Linie der Beobachter am Rande, ohne daß die Figur im Verlauf der Reise sonderlich an Konturen gewänne. Der Entwicklungsroman, die education sentimentale, wie die Figuren überhaupt bleiben eher beiläufiges Supplement, so wie die Form des road-movie in erster Linie als Vehikel eines ebenso imposanten wie liebevollen und zugleich (nicht zuletzt durch die Musik von Astor Piazzolla und Egberto Gismondi) melancholischen Blicks auf den südamerikanischen Subkontinent funktioniert.
Kommentar verfassen

Kommentieren