Krimi | USA 1996 | 135 Minuten

Regie: John Sayles

In einer texanischen Kleinstadt ermittelt ein Sheriff in eigener Angelegenheit, als die Überreste einer Leiche gefunden werden: Sein verstorbener Vater, legendärer Vorgänger im Sheriffsamt, kommt als Täter in Betracht. Die Nachforschungen bringen nicht nur eine Reihe von Verstrickungen unter den Honoratioren ans Licht, sondern kreisen immer wieder auch um die Frage von Grenzziehungen und ihrer Gültigkeit. Eine intelligente, die Sehgewohnheiten herausfordernde Reflexion über menschliches Handeln und dessen Freiheit, die formal in Bann schlägt und deren psychologischer Realismus das eigene Nachdenken befördert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LONE STAR
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Rio Dulce
Regie
John Sayles
Buch
John Sayles
Kamera
Stuart Dryburgh
Musik
Mason Daring
Schnitt
John Sayles
Darsteller
Chris Cooper (Sam Deeds) · Elizabeth Pena (Pilar Cruz) · Joe Morton (Delmore Payne) · Clifton James (Hollis Poque) · Miriam Colon (Mercedes Cruz)
Länge
135 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Krimi | Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Warner (16:9, 2.35:1, DD2.0 engl./dt.)
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Diskussion
Um Genres und ihre Gesetze hat sich John Sayles nie sonderlich gekümmert, so wenig wie um Erzählkonventionen oder filmische Moden. Scheinbar frei von äußerem Zwang und kommerziellem Druck verfolgt der amerikanische Independent-Veteran seit bald 20 Jahren unbeirrt seine persönlichen Intentionen: Ein "Autor" par excellence, der neben Buch und Regie stets auch den Schnitt besorgt und in früheren Arbeiten außerdem als Darsteller in Erscheinung trat. Vor zwei Jahren überraschte Sayles, der gerne als "Chronist des amerikanischen Lebens" apostrophiert wird, mit einem Schlenker in mythische Gefilde, als er in "Das Geheimnis des Seehund-Babys" (fd 31 694) eine alte irische Sage wieder zum Leben erweckte. An dieses poetische Märchen erinnert in seinem zehnten Film nur noch der ruhige, unkonventionelle Duktus, dessen Spannungsmomente weniger aus der Handlung oder dem Schnitt resultieren als vielmehr aus der intelligenten Organisation seines Stoffes.

Der "Fall", dem Sam Deeds, der Sheriff einer kleinen texanischen Stadt nahe der mexikanischen Grenze, nachgeht, hat zunächst wenig Spektakuläres. Ein ausgebleichter Totenschädel am Rande der Wüste, die letzten Überreste eines Unbekannten. Der verrostete Sheriffstern in seiner Nähe aber weckt Erinnerungen an Sams Vorvorgänger: an Charly Wade, einen korrupten Choleriker, der 1957 nach einem heftigen Streit mit einem jungen Kollegen zusammen mit der Gemeindekasse spurlos verschwand. Der Deputy, der Wade damals die Stirn bot, war Sams Vater, Buddy Deeds, eine Legende, die als Nachfolger von Wade höchste Anerkennung genoß. Noch heute spricht jeder in Frontera, egal ob Weißer, Schwarzer oder Mexikaner, in höchsten Tönen von ihm, und in Kürze soll er mit einem Denkmal geehrt werden. Sams Verhältnis zu seinenn verstorbenen Vater hingegen ist noch zwiespältiger geworden, seit er vor zwei Jahren in seine Fußstapfen trat. Seine Ermittlungen werden deshalb zur Spurensuche in eigener Sache, zur Recherche nach Zusammenhängen, in denen Öffentliches und Privates, Individuelles und Zeitgeschichte, Mythos und Fakten untrennbar verschmelzen. Je tiefer der Polizist aber in die Vergangenheit eindringt, desto vielfältiger und widersprüchlicher wird das Bild, treten Verstrickungen zutage, die bis in die Gegenwart reichen. Bald ahnt man, daß die Augenzeugen jener Nacht, in der sich Buddy gegen Wade stellte, Hollis, inzwischen Bürgermeister, und Otis Payne, damals noch Kellner in seinem Nachlclub, nur einen Teil der Wahrheit erzählen.

Doch die Kriminalgeschichte um Schuld oder Unschuld von Buddy Deeds dient Sayles nur als Aufhänger, als erzählerisches Movens, an dem entlang er eine Reihe von Nebenfiguren und -themen etabliert, aus denen das thematische Gellecht seines Films erwächst. "Es ist eine Geschichte über Grenzen", sagt der Regisseur, womit er weniger den Rio Grande meint, der ein paar Mal träge ins Bild treibt, als vielmehr jene Trennungslinien, die ungeachtet ihrer scheinbaren Naturwüchsigkeit allein von Menschen errichtet wurden. "Sprich Englisch. Wir sind in Amerika", raunzt die mexikanische Restaurantbesitzerin Mercedes Cruz ihren Angestellten an, oder sie ruft, ohne an ihre eigene "Einreise" zu denken, die Polizei, wenn sie illegale Einwanderer durch die Dunkelheit hasten sieht. Otis' Bar "Big 0" ist der einzige Treffpunkt der Schwarzen von Frontera, die politische Macht liegt in Händen der weißen Minderheit, ein Schulprojekt, das texanische Geschichte nicht aus dem Blickwinkel der Sieger unterrichtet, sondern jeder ethnischen Gruppierung Gerechtigkeit widerfahren lassen will, provoziert erregte Debatten. Im Fokus dieser wunderbar beiläufigen Grenzexkursionen aber steht das neue Aufflammen einer alten Leidenschaft: zwischen Sam und Pilar Cruz, eine Jugendliebe, die von ihren Eltern aufs heftigste und erfolgreich unterbunden wurde. Der wahre Grund, auf den Sam im Laufe seiner Ermittlungen stößt und der nichts mit Rassenfragen zu tun hat, führt nicht nur ins Zentrum jener Vorgänge vor 40 Jahren, sondern treibt die Frage nach Grund und Geltung von Grenzen pointiert auf die Spitze: Über Umfang und Geltung jener Linien, die das Leben unsichtbar strukturieren und begrenzen, entscheidet jeder selbst.

Die Einsicht, daß jeder Grenzziehung ein Willensakt zugrunde liegt, enthebt sie jedoch keineswegs ihrer Wirkungen, da menschliches Handeln Spuren hinterläßt. Die kunstvolle Verschachtelung beider Zeitebenen und der vielen individuellen Sichtweisen, die Sayles' Film zu einem anspruchsvollen Seherlebnis macht, gipfelt einige Male in nahtlosen Übergängen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Sam unterhält sich in Otis' Bar mit Hollis, der in seinen Anekdoten schwelgt: die Kamera schwenkt und ist vier Jahrzehnte zurückversetzt. Oder Pilar wird im Streit mit ihrer herrischen Mutter an jenen Abend im Autokino erinnert, als sie und Sam von seinem furchtbar wütenden Vater auseinandergerissen wurden. Die Kamera folgt dem Handgemenge und weilt im nächsten Augenblick bei Sam, der in der offengelassenen Anlage steht und über damals sinniert. Mit solchen bruchlosen Rück- und Vorblenden will Sayles weniger die historische Kontinuität der Orte verdeutlichen als vielmehr einer existentialistischen Verkürzung vorbeugen, deren Willensprimat allzu leicht den strukturellen Niederschlag von Entscheidungen verkennt Die Gegenwart des Vergangenen wirkt in Sayles' mosaikartigem Gemälde auch deshalb so glaubwürdig, weil den Figuren jede Stilisierung mangelt und der vom Regisseur propagierte "psychologische Realismus" weitgehend das Gefühl aufhebt, einer sich von einem "plot point" zum nächsten hangelnden Kinoerzählung beizuwohnen. Diese dramaturgisch zurückgenommene verhaltene Erzählweise bewirkt zusammen mit der geografi-schen Einbettung der Geschichte in den Süden der USA zwar eine gewisse emotion.ale Distanz, öffnet andererseits aber dem eigenen Nachdenken weite Räume.
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