La Fille Seule

- | Frankreich 1995 | 90 Minuten

Regie: Benoît Jacquot

Eine junge Frau in Paris offenbart ihrem müßiggängerischen Geliebten am frühen Morgen jenes Tages, an dem sie einen Job als Etagenkellnerin in einem Hotel beginnt, daß sie schwanger ist. Im Verlauf ihres ersten Arbeitstages, der sie mit dem hektischen Kosmos des Hotelbetriebes konfrontiert, kommt sie zu einem Entschluß für ihr weiteres Leben. Ein authentischer und schnörkelloser, mit sicherer Hand arrangierter Film, der formal äußerst reizvoll Analogien für die innere Unruhe und die Umtriebigkeit der Hauptfigur findet und sich konsequent zu einer eher melancholisch kommentierten Sinnsuche verdichtet. (O.m.d.U.; TV-Titel: "Das einsame Mädchen") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LA FILLE SEULE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Cinea/La Sept Cinéma/Centre National de la Cinématographie
Regie
Benoît Jacquot
Buch
Benoît Jacquot · Jérôme Beaujour
Kamera
Caroline Champetier
Musik
Anton Dvorák
Schnitt
Pascale Chavance
Darsteller
Virginie Ledoyen (Valérie) · Benoît Magimel (Rémi) · Dominique Valadié (Mutter) · Véra Briole (Sabine) · Virginie Emane (Fatiah)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
Valérie offenbart an jenem Tag dem müßiggängerischen Geliebten Rémi ihre Schwangerschaft, da sie einen Job als Etagenkellnerin annimmt. Früh am Morgen, noch vor Arbeitsbeginn, trifft sie ihn in einem der typischen Pariser Cafes, ist nervös, hat wenig Zeit, muß gleich ins Hotel. Dort angekommen, taucht sie ein in eine ihr bis dahin fremde Welt. Zwischen gekochten Eiern und frisch gespreßtem Orangensaft knüpft sie erste Kontakte mit dem Personal, versucht, sich dem Kosmos des Hotelbetriebes anzunähern. Doch auch hier ist sie von doppelter Unruhe getrieben. Es drängt sie, über ihr Problem zu sprechen. Deshalb ruft sie ihre Mutter an, mehrfach, denn sie wird von einem zudringlichen Kollegen dabei gestört. Außerdem wartet der künftige Kindsvater Rémi noch immer im Café nebenan. Also gilt es, einen günstigen Moment abzupassen, um unbemerkt zu entwischen, um die gereizte Diskussion fortzusetzen. Natürlich nur für kurze Zeit - die Arbeit wartet ja. Hin und her, mit dem Lift auf und ab, Tür auf, Tür zu, "Bonjour" und "Au revoir". Das einzige, was sich in dieser permanenten Unruhe zu manifestieren scheint, ist Valéries Entschluß, das Kind auszutragen: Wenn sie auch äußerlich noch mit dieser Erkenntnis kämpft - die Unruhe ringsum steht nur stellvertretend für diesen inneren Kampf.

Auf den Plot reduziert, scheint das Material kaum für einen abendfüllenden Spielfilm zu taugen. Daß "La Fille Seule" dennoch ein streckenweise geradezu packendes Leinwandgeschehen entwickelt, liegt am mit leichter Hand arrangierten Zusammenspiel ebenso einfacher wie wirkungsvoller Mittel. Man begleitet die mit Virginie Ledoyen hervorragend besetzte Valérie hautnah auf dem Weg ihrer Sinnsuche. Ganz dicht ist die Kamera sowohl an ihrem Gesicht als auch an denen der anderen Protagonisten. Bildfüllend entwickeln die Physiognomien ein Kino der Blicke und kleinen Gesten. Hier stört keinerlei illustrierend eingesetzte Musik - einzig O-Ton-Geräusche bilden den "Soundtrack" dieser atmosphärisch dichten Szenen. Nur ganz zum Schluß, an dramaturgisch einschneidender Stelle, setzt Dvoraks Streichquartett in a-Moll ein - wegen der bisherigen musikalischen Enthaltsamkeit ist die Wirkung nun um so größer. Wenn sich die junge Frau ihren Weg durch das Straßengetümmel zwischen Hotel und Cafe bahnt, gewährt dem Zuschauer die dynamische, dabei stets kontrolliert geführte SteadyCam zudem sehr unmittelbare Szenen aus dem alltäglichen Treiben der Stadt Paris. Überhaupt wurde innen wie außen ausschließlich an authentischen "locations" gedreht. Studioaufnahmen waren für Benoît Jaquot tabu. Natürlich sind hier die Traditionen der "Nouvelle Vague" deutlich zu spüren. Aber auch trotz einer gewissen Ähnlichkeit Benoît Magimels mit dem jungen Belmondo ist Regisseur Jaquot alles andere als ein verspäteter Epigone. Wesentliches Moment der hohen Wirklichkeitsnähe seines Films ist der Umstand, daß Film- und Echtzeit nahezu deckungsgleich sind. Doch diese Annäherung an das klassische Ideal der Einheit von Ort, Zeit und Handlung vollzieht sich nicht durch lange Plansequenzen, wird vielmehr hinter einer staccatoartigen Montage versteckt. Reißschwenks, Handkamera, szenische Einsprengsel, deren Funktionalität völlig offen bleibt, sind formale Analogien zur Umtriebigkeit Valéries. Gerade als man befürchtet, der Film würde ins Genre des Hotelfilms abgleiten und sich im Gläserklirren, in den teppichbodengedämpften Gängen, in den kleinen Intrigen des Personals verirren, bricht die Handlung so unvermittelt ab, wie sie begonnen hat. Ein Zeitsprung von mindestens drei Jahren führt zum filmischen Epilog: Valérie mit ihrer Mutter, die man bisher nur vom Telefon kannte, im "Jardin du Luxembourg". Die beiden Frauen polemisieren über ihre verkorksten Partnerschaften. Es wird klar, daß auch Valérie ohne Vater aufwuchs und daß sie dieses Schicksal gerade an ihren Sohn weitergibt. Ein mehrfach gebrochener Draufblick auf das Geschehen der vorangehenden Spielfilmhandlung: distanziert und relativierend, aber auch melancholisch. Nachdem Valérie ihren Sohn an ihre Mutter übergeben hat, verschwindet sie im Großstadtgetümmel, sie bleibt "La Fille Seule", sie bleibt das einsame Mädchen.
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