Sling Blade - Auf Messers Schneide

- | USA 1996 | 136 Minuten

Regie: Billy Bob Thornton

Nach 25 Jahren wird ein Mann aus einer Heilanstalt entlassen, der nach entbehrungsreicher Kindheit als Zwölfjähriger aus Eifersucht seine Mutter getötet hat. In demselben Dorf in den Südstaaten der USA, in dem er aufgewachsen ist, versucht er einen neuen Start, bis er schließlich seinen Vorsatz, gewaltlos zu leben, überdenken muß. Eine thematisch und stilistisch äußerst geschlossene Studie über die Standfestigkeit von Glaube und Moral in einer von Entbehrung und Brutalität gezeichneten Welt. Distanziert durch lange Plansequenzen, eingefaßt in eine nahezu farblose Szenerie, beobachtet die Kamera das langsam eskalierende Geschehen, nimmt aber dennoch für die geschundene Kreatur ein.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
SLING BLADE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Shooting Gallery
Regie
Billy Bob Thornton
Buch
Billy Bob Thornton
Kamera
Barry Markowitz
Musik
Daniel Lanois
Schnitt
Hughes Winborne
Darsteller
Billy Bob Thornton (Karl Childers) · Dwight Yoakam (Doyle Hargraves) · J.T. Walsh (Charles Bushman) · John Ritter (Vaughan Cunningham) · Lucas Black (Frank Wheatley)
Länge
136 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Eine Handvoll Personen sitzt regungslos um einen Tisch herum. Das kahle Zimmer wird von der grellen Morgensonne in diffuses, farbloses Licht getaucht. Die Kamera bewegt sich nahezu unmerklich auf den Tisch zu, läßt ihn dann links liegen und wendet sich - noch immer ohne einen Schnitt - den zwei Personen am Fenster zu, von denen die eine pausenlos redet, die andere hinausstarrt und schweigt. Diese kunstvolle Einleitung ist zugleich Exposition: Sie zeigt den Ausgangsort der Handlung, eine Heilanstalt, und den Helden des Films, den wortkargen, seltsamen Karl. Und es ist das erste und letzte Mal, daß Regisseur Billy Bob Thornton so etwas wie Kameravirtuosität vorführt. Noch am selben Tag wird Karl entlassen - nach 25 Jahren - , und fortan beherrscht eine Statik die Szenerie, die so erdrückend ist wie die Aufgabe, die vor Karl liegt - nämlich ein neues Leben zu beginnen - , und sei quälend wie die Atmosphäre in dem Kaff, das er sich dafür ausgesucht hat, weil er kein anderes kennt.

Als noch in der Anstalt eine Nachwuchsreporterin Karl nach seiner Geschichte fragt, beginnt der stämmige, klobige Kerl, der sich vorher scheinbar nur mit Mühe artikuliert hat, zu reden. Sein bisheriges Leben resümmiert er mit einer Sachlichkeit, die auf eine lange Beschäftigung mit sich selbst schließen läßt, mit dem Erfolg einer klaren Einsicht. Aufgewachsen ist er in einem Schuppen, wo er in einem Erdloch schlafen mußte, vernachlässigt von den Eltern, die ihm nur ein wenig Brot und viele verdrehte Bibel-Weisheiten brachten. Dann, mit zwölf, hat er zuerst den Nachbarsjungen mit einer Sichel erschlagen und geköpft, aber nicht, weil der ihn immer gehänselt hat, sondern als vermeintlichen Vergewaltiger, weil er auf seiner Mutter lag; und danach tötete er seine Mutter, weil sie ihn fragte, warum er das gemacht habe. Dann kam die Anstalt, und nun sitzt er da. Spurlos geht so ein Leben an niemandem vorüber. Karl besteht darauf, im Dunkeln zu sitzen, und sein Tonfall ist langsam, tief und schwerfällig, zusätzlich eingefärbt von einem fast unverständlichen Südstaaten-Dialekt voller lokaler Idiome. Er wird es nicht leicht haben in der Welt, in der er schon einmal gescheitert ist. In der ersten Nacht kehrt er in die Anstalt zurück und will dort bleiben. Das geht nicht, aber der Anstaltsleiter verschafft ihm Job und Unterkunft in einer Werkstatt, weil Karl gut reparieren kann. Unterwegs lernt er Frank kennen, einen netten Jungen, der unvoreingenommen mit ihm spricht und ihn gleich zu sich nach Hause einlädt - beinahe so, wie einst bei James Whales "Frankenstein" (fd 5747) nur ein blindes Mädchen ohne Furcht mit Frankensteins Kreatur redete. Frank lebt zusammen mit seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten Doyle, der im Dorf als angesehener und geselliger Unternehmer gilt, grundsätzlich aber gegen alles "Schwache" (Frank) und "Kranke" (Karl sowie Vaughan, der beste Freund der Mutter, ein Homosexueller) eingestellt ist. Doyle terrorisiert die Familie derart, daß Karl seinen Vorsatz, bibeltreu und gewaltlos zu leben, überdenken muß.

Man ist gefesselt von der dichten, fremdartigen Atmosphäre, die fast ohne Farben auskommt, vom Dasein in Bescheidenheit, ja Armut und von der (vorgeblichen) Unbekümmertheit, mit der die Bewohner diesem Dasein begegnen. Kein Satz, der gesprochen wird, läßt unberührt, so nebensächlich sein Inhalt sein mag, denn die Dialoge transportieren vor allem eines: Lebenshaltungen, ohne aber explizit oder gar plakativ zu werden. Das Spiel der Darsteller ist so intensiv, daß man sich bisweilen in einen Dokumentarfilm über die amerikanische Provinz versetzt fühlt. Und erst nach und nach wird einem gewahr, daß sich der Regisseur auch stilistisch so weit vom Hollywood-Standard, ja überhaupt der gängigen Filmsprache entfernt hat, daß man den Mut der "Academy" nur bewundern kann, Thornton den "Oscar" für das beste adaptierte Drehbuch zu verleihen. Rivette oder Ozu mögen ihm vorgeschwebt haben, vielleicht die frühen Sozialdokumentaristen. Ein Wohnzimmer in der Totalen, in Halbdunkel getaucht, die Kamera läuft und läuft, an die zehn Minuten ohne einen Schnitt und ohne daß die Szenen dramaturgischen Mustern folgen - das genügt meistens, alles Notwendige spielt sich im Spannungsfeld zwischen den Personen ab. Immerhin: Was sich anfänglich als Abneigung andeutet - vor allem zwischen Doyle einerseits und Frank und Karl andererseits - , eskaliert zusehends, sowohl über die nicht gerade zimperliche Wortwahl als auch auf physischem Wege. Die Kamera aber bleibt weiter stets auf Distanz, nimmt nicht einmal Stellung - und doch ist in jeder Sekunde die Bedrohung und die Ungerechtigkeit spürbar, die von Doyle ausgeht. Nur wo sich offensichtlich zwei Welten begegnen, die ihr Schicksal nicht teilen werden - etwa zwischen Karl und der Familie des Anstaltsleiters - , verwendet Thornton Schuß und Gegenschuß in gewohnter Schnittfolge.

Thornton, der sich als Drehbuchautor mit "One False Move" (fd 30 266) einen Namen machte, bewältigt die Personalunion aus Regisseur, Autor und Hauptdarsteller mit Bravour. Seine Frage nach der Standfestigkeit von Moral und Glauben in einer brutalen und ungerechten Welt ist stets präsent, scheint immer wieder abgewogen zu werden und wird schließlich bewußt nur für den extremen Einzelfall entschieden. Mit seiner thematischen und stilistischen Geschlossenheit vermag der Film womöglich Wege aus der Sackgasse aufzeigen, in die sich das Hollywood-Erzählkino immer wieder selbst hineinmanövriert.
Kommentar verfassen

Kommentieren