Der Weg nach Eden

Dokumentarfilm | Österreich 1995 | 82 Minuten

Regie: Robert-Adrian Péjo

Der Ungar János Keresú arbeitet als Seziermeister in einem pathologischen Institut. Minuziös beobachtet der Dokumentarfilm den Tagesablauf dieses Mannes, der die Toten auf ihrem Weg zwischen dem Sterben und der letzten Ruhestätte begleitet. Der in seiner detaillierten Beobachtung bis an die Grenze des Erträglichen gehende Film beantwortet die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, in einem christlichen Sinn. Ein eindringliches Plädoyer für die Würde des Menschen im Sterben, das dazu anregt, die Rolle des Todes in unserer Gesellschaft zu überdenken.
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Filmdaten

Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Prisma
Regie
Robert-Adrian Péjo
Buch
Robert-Adrian Péjo
Kamera
Wolfgang Lehner
Musik
Paul Winter
Schnitt
Robert-Adrian Péjo
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
In Deutschland ist sein Beruf kaum noch anzutreffen, in seinem Heimatland Ungarn gibt es hingegen noch hundert seines Fachs: Der 44jährige János Keresú ist Seziermeister am Pathologischen Institut eines Budapester Krankenhauses. Wie ein moderner Charon begleitet er die Toten, meist alte Menschen, aus einer Sterbeklinik und den umliegenden Hospitälern, auf dem "Weg nach Eden" zu ihrer letzten Ruhestätte. Mit distanzierter Kamera beobachtet der Dokumentarfilmer Robert-Adrian Péjo den beruflichen und privaten Alltag des schnauzbärtigen Mittvierzigers Keresú inmitten von Wohlstandsinsignien wie einer VW-Limousine und einem Eigenheim mit Garten am Stadtrand. Die Fokussierung auf die postmortale Körperlichkeit sowie die Atmosphäre von Leichenhalle und Prosektur dienen aber nicht dem Zweck, vordergründigen Schauer und Nervenkitzel zu erzeugen wie in themenverwandten Spielfilmen ("Nightwatch", fd 31 178; "Kissed", fd 32 835). Es geht Péjo vielmehr um die eschatologische Dimension unseres Erdendaseins: Welchen Platz hat das Sterben in unserer Gesellschaft? Was geschieht mit dem Körper nach dem letzten Atemzug? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Diese Fragen stellt Keresú - und mit ihm der Regisseur - gleich zu Filmbeginn. Und zunächst antwortet der als ein ganz gewöhnlicher Angestellter gezeichnete Seziermeister, er wisse es nicht. Doch 80 Filmminuten später bekräftigt er das tröstende Bekenntnis des Fimtitels: "Wer sich so mit dem Tod beschäftigt, dem wird klar, daß danach noch etwas anderes kommt."

Als Gegengewicht zur Distanziertheit der Kamera fungiert die Voice-Over-Erzählung auf der Tonebene. In der Ich-Form läßt Keresú die Zuschauer an den speziellen Problemen seiner Profession sowie an seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben. Die Authentizität und Bestimmtheit dieses Monologs ist eine der Stärken des Films (wozu auch der deutsche Sprecher Christian Brückner beiträgt). Gemeinsam mit einem Kollegen bereitet Keresú die sterblichen Überreste der Toten auf den Abschied der Verwandten, die Beerdigung oder die Feuerbestattung vor. Die Körper sind vom Todeskampf gezeichnet, ihre pergamentartige, rotgefleckte Haut kündet von der Vergänglichkeit alles Irdischen: eine eindringliche Vanitasdemonstration gegen die Körperhysterie und den Schönheits- und Jugendwahn unserer Zeit. Doch nicht der Tod selbst ist für den Seziermeister in seiner gelben Montur das Schlimmste, sondern das Sterben ohne Würde. Daher sein Credo, die Verstorbenen so zu behandeln, als hätte er es nicht mit leblosem Fleisch zu tun. Auch im Tod haben sie für ihn den vollen Anspruch auf ihre Menschenwürde. Respekt-und beinahe liebevoll richtet Keresú eine alte Frau her: behutsam zieht er ihr Nylonstrümpfe an, vergewissert sich, daß sie richtig sitzen; er schneidet ihre Fingernägel, stutzt aus der Nase wachsende Härchen und schamponiert die fettigen Haare. Zu guter Letzt mildert Keresú mit dem Schminkkasten die Spuren des Todes in ihrem Gesicht. Denn, so weiß er aus Erfahrung, die Hinterbliebenen wollen nicht in das Anlitz des Todes schauen, sondern die Toten so wiedersehen, wie sie sie zu Lebzeiten gekannt haben. Dies ist ebenso Teil der Verdrängung des Letzten im Leben eines jeden Menschen wie das Befremden, das Keresüs Beruf bei vielen seiner Freunde und Bekannten auslöst, ihr Ausdruck ist. Das Paradoxe an seinen Bemühungen: den Toten schenkt er soviel Aufmerksamkeit, wie sie diese oft alleinstehenden Menschen in den letzten Jahren ihres Lebens nicht erfahren haben.

Das Kernstück des Films ist die Beobachtung einer detaillierten Leichensezierung zu medizinischen Zwecken - ein bis an die Grenze des Erträglichen drastischer Anschauungsunterricht in Sachen Anatomie (und nichts für Zuschauer mit schwachen Nerven). Péjos genaue Wahrnehmung des Vorgangs fern aller kruden Freak-Faszination, fern auch jeden Voyeurismus führt sämtliche Splatter-und Slashereffekte ad absurdum. In seinem Verzicht auf jegliche Effekthascherei, beispielsweise bei Geräuschen und Musik, hebt sich "Der Weg nach Eden" ab von sich dokumentarisch gerierenden Arztserien à la "Emergency Room". Schweigsam arbeiten die Obduktionsprofis: Mit sicheren Schnitten durchtrennt Keresú die Geschichtshaut des Toten auf der Höhe der Ohren und zieht sie ab, als wäre sie nicht mehr als eine Maske. Mit einer kleinen Kreissäge wird die nun freiliegende Schädeldecke durchtrennt, geöffnet und abgenommen. Der Pathologe entfernt das Gehirn, zerschneidet es in dünne Scheiben und sucht nach krankhaften Veränderungen. Dann wird die Bauchdecke mit einem Skalpell aufgeschnitten: Bei dem korpulenten Leichnam muß sich der Prosektor durch das fahlgelbe Fettgewebe zu den inneren Organen vorkämpfen. Auch sie werden entnommen und untersucht - zurück bleibt der Körper als eine leere Hülle. Auch wenn Péjos Sympathie für Keresú deutlich spürbar ist, so unterschlägt er doch implizit kritische Szenen nicht, beispielsweise wenn der Hobbykoch Keresú einen Fisch so fachmännisch ausweidet wie vorher den Leichnam in der Pathologie. Als Keresú nach der Sektion die herausgetrennten Körperteile wieder in den schon fast mit grober Paketkordel zugenähten Körper wirft, kommt das sogar einer Infragestellung seines Respekts vor den Toten gleich, da dies wie eine Degradierung zu einem menschlichen Müllsack wirkt.
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