Mein Leben in Rosarot

Tragikomödie | Frankreich/Belgien/Großbritannien 1997 | 89 Minuten

Regie: Alain Berliner

Der siebenjährige Ludovic versteht einfach nicht, warum seine Umwelt partout darauf besteht, daß er ein Junge ist, wo er doch viel lieber ein Mädchen sein möchte. Erst als die bigotte Nachbarschaft Arbeitslosigkeit und Ehezwist in der Familie sät, lenkt er seinen Eltern zuliebe ein, bis sie schließlich erkennen, daß Ludovic ein Recht auf seine eigene Identitätssuche hat. Eine von Poesie und Menschlichkeit gleichermaßen erfüllte Geschichte zwischen Drama und Komödie. Farbästhetisch sehr pointiert und hervorragend ausgestattet, hält die Inszenierung genau die Balance zwischen den heiteren und den ernsten Momenten. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MA VIE EN ROSE
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Großbritannien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Haut Et Court/La Sept Cinema/TF 1/WFE/RTBF/Freeway Films
Regie
Alain Berliner
Buch
Alain Berliner · Chris Vander Stappen
Kamera
Yves Capé
Musik
Dominique Dalcan
Schnitt
Sandrine Deegen
Darsteller
Georges du Fresne (Ludovic) · Michèle Laroque (Hanna) · Jean-Philippe Écoffey (Pierre) · Hélène Vincent (Elisabeth) · Julien Rivière (Jerome)
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Tragikomödie
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Diskussion
Reihenhaussiedlungen, deren uniformierte Architektur offensichtlich in einem direkten Zusammenhang mit der geistigen "Gleichschaltung" ihrer Bewohner steht, waren im Kino schon immer eine beliebte (Bild-)Metapher, um an Hand dieses Mikrokosmos einen ironischen Blick auf das Kleinbürgertum zu werfen - in eher märchenhalter Form in "Edward mit den Scherenhänden" (fd 31 717), poetisch überhöht nun in "Mein Leben in Rosarot".

"Rosa" haben die Strampelanzüge bei einem Mädchen zu sein, "blau" bei einem Jungen. So wird es in traditionsbewußten Kreisen seit Generationen gehalten. Aber was ist, wenn ein Junge plötzlich in der rosa-roten Welt der "Barbie"-Puppen lebt, sich Kleider anzieht und mit entwaffnender Unschuld auf die Fragen der Erwachsenen nur antwortet: "Ich wollte schön sein." Hanna und Pierre, die gerade mit ihren vier Kindern in die Siedlung gezogen sind, nehmen es noch als Witz, als ihr jüngster Sprößling zur Hauseinweihung die Nachbarn mit diesem Bekenntnis irritiert. Schließlich weiß man ja, daß der Mensch bis zum siebten Lebensjahr auf der Suche nach seiner Identität ist. Das Fatale ist nur, Ludovic ist Sieben und will offensichtlich entschieden ein Mädchen sein. Die Eltern sind entsetzt. Aber alle angedrohten Strafen erschrecken Ludovic weniger als der Gedanke, ewig ein Junge bleiben zu müssen. Darum wartet er sehnsüchtig auf seine erste Regel und gesteht der verständnisvollen Großmutter, daß er seinen Klassenkameraden Jerome heiraten wird. Aber Jerome ist der Sohn von Pierres Chef. Und seine Eltern finden das gar nicht spaßig. Sofort macht das Wort "Tunte" in der Nachbarschaft die Runde, und Jerome wechselt in der Klasse die Bank. Aber Ludovic gibt nicht auf. Bei einer Schulaufführung schlüpft er in die Rolle des Schneewittchens und erwartet den Kuß des "Prinzen" Jerome. Der Eklat bleibt nicht aus: Durch ein Spalier erboster Eltern verlassen die Fabres das Theater, sehen sich Diskriminierungen ihrer heuchlerischen Nachbarn ausgesetzt. Schließlich muß Ludovic die Schule wechseln. Pierre verliert seinen Job, und in der Ehe beginnt es zu kriseln. Eine Psychologin muß her, die Haare werden abgeschnitten, vergeblich versucht Ludovic sich in machohaften Posen. Schließlich unternimmt er sogar einen Selbstmordversuch, zieht dann zu seiner toleranteren Großmutter. Als Pierre eine neue Arbeit findet, entscheidet sich Ludovic, mit nach Clermont-Ferrand zu ziehen. Doch der Rückschlag läßt nicht lange auf sich warten: Er lernt das Nachbarmädchen Christine kennen, das eigentlich lieber Chris sein möchte. Auf Christines Geburtstagsfeier zwingt sie ihn zum Kleidertausch. Hanna rastet fast aus, aber als sie dem gekränkten Ludovic in seine bonbonfarbene Traumwelt zu den "Barbie"-Menschen Pam und Ben folgt, erkennt sie plötzlich die Nöte ihres Kindes, zumal Christines Mutter sie darin bestärkt, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen.

Genauso selbstverständlich wie Ludovic die Grenze zwischen Realität und Traum überschreitet, um mit Pam durch eine knallig bunte Puppenhaus-Landschaft zu fliegen, schlüpft er auch in die Rolle des anderen Geschlechts. Anders als die Erwachsenen, die ihn schon als Homosexuellen abstempeln wollen, ist er noch offen für die Fragen, die das Leben an ihn zu stellen beginnt. Ludovic ist auf der Suche nach seiner Identität, und natürlich weiß er nicht, was ihn am Ende des Weges erwarten wird. Alle Möglichkeiten sind offen. Daß Alain Berliner diesen ersten Selbstfindungsprozeß weder als thesenartiges Drama inszeniert noch den diffizilen Stoff an vordergründige Gags verraten hat, ist sein großes Verdienst. Geschmackssicher und immer die Balance zwischen heiler Welt und Ernst haltend, durchströmt den Film eine Poesie und Menschlichkeit, wie man sie schon lange nicht mehr von der Leinwand herunter gespürt hat.

Und es sind vor allem die kleinen stummen Gesten die etwas von der Liebe zwischen den Personen vermitteln, gerade in jenen Momenten, als die Kluft unüberwindlich scheint: wenn Ludovic seinem von Arbeitslosigkeit und Ehestreit genervten Vater in den Garten folgt, ihm stumm die Hand reicht und beide sich umarmend wieder ins Haus zurückkehren. Daß der Film emotional so gefangen nimmt, liegt auch in der Konzentration auf das Wesentliche der Geschichte. Die Inszenierung treibt keinerlei äußerlichen Aufwand - selbst die Traumsequenzen wirken einfach nur verspielt -, schafft mit einfachen Mitteln Stimmung: so sind die Farben warm, wenn sie noch das ungetrübte Familienleben der Fabres bebildern, und schlagen dann, als die Krise beginnt, in ein kaltes Grau-Blau um, das ihnen einen fast dokumentarischen Touch gibt. Aber immer bleiben die Bilder klar und schnörkellos. Mit traumwandlerischer Sicherheit führt Berliner vor allem den jungen Georges du Fresne durch seine schwierige Rolle, die man als Kind nur unbeschadet spielen kann, wenn es gelingt, Distanz zu ihr aufzubauen. Und man merkt dem zerbrechlichen Spiel von Georges du Fresne in jedem Moment an, daß er versteht, sich nicht von einer diffusen Identifikation mit der Figur leiten lassen. Genauso präzis interpretiert Michele Laroque die von Toleranz über ohnmächtige Wut bis hin zu wirklichem Verstehen reichende Gefühlsskala ihrer Figur. Und Jean-Philippe Ecoffeys fängt die in seiner Vaterfigur angelegte Karikatur immer wieder durch sein sensibles Spiel auf. Das gilt auch für Helene Vincents Großmutter, die ihre "Modernität" und ihr Ausgeflipptsein als "Nummern-Revue" präsentiert. Ihr wie auch den pointiert eingesetzten Nebendarstellern haben Drehbuch und Regie Rollen zugewiesen, wie sie das Leben nicht glaubwürdiger bieten könnte. Und auch das ist eine der vielen Qualitäten von "Mein Leben in Rosarot": Man fühlt sich einbezogen in eine Geschichte, die - abgesehen von ihren Phantastereien - so jederzeit auch in den eigenen vier Wänden, in der Nachbarschaft oder nur in unserem Inneren ablaufen könnte. Aber gerade dann braucht man vielleicht die Fantasie, um der Realität Paroli bieten zu können. "Mein Leben ,in Rosarot" würde sicherlich die Kräfte dafür frei machen.
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