Kinderland ist abgebrannt

Dokumentarfilm | Deutschland 1997 | 90 Minuten

Regie: Sibylle Tiedemann

Dokumentarfilm über zwölf Frauen aus Ulm, die sich ihrer Kindheit während der Zeit des Nationalsozialismus erinnern. Die chronologisch von der Machtergreifung bis zur Kapitulation geordnete Kompilation aus Interviews, Archivaufnahmen und Privatdokumenten enthält sich jeden Kommentars, eröffnet damit aber gerade eine Fülle von Bezugnahmen und Interpretationen. Die banale Alltäglichkeit der ideologischen Muster wird dabei ebenso sichtbar wie der Rückbezug abstrakter historischer Fakten auf das Handeln und Versagen konkreter Menschen. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
TIBA-Film
Regie
Sibylle Tiedemann
Buch
Sibylle Tiedemann · Ute Badura
Kamera
Ute Badura
Musik
Loek Dikker
Schnitt
Inge Schneider
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
„You know“, flicht die dunkelhaarige Frau mit den wachen Augen nach jedem zweiten, in breitem Ulmer Schwäbisch gesprochenen Satz ein, „you know“: Das Umland von Chicago sei wunderschön – aber eben nicht Blaubeuern. Sie, die ohne Namen bleibt, ist eine der zwölf Gesprächspartnerinnen aus der Stadt am Zusammenfluß von Donau und Iller, die Sibylle Tiedemann und Ute Badura vor die Kamera geholt haben, um jene zwölf Jahre des Nationalsozialismus wach werden zu lassen, die sich angesichts der bedrückenden Kenntnisse um so leichter ins historische Abstraktum verflüchtigen. Damals, nach der Machtergreifung 1933, waren sie neun oder zehn Jahre alte Schulmädchen, heute sind sie über 70, schlohaarig zumeist, einige mit Wohnsitz in der USA oder in Israel. Ähnlich wie in Egon Humers „Emigration N.Y. – Die Geschichte einer Vertreibung“ (fd 32 967) rufen die Lebenserinnerungen der alten Frauen ein Maß an Bestürzung, Trauer und Hilflosigkeit hervor, das den Zuschauer zum Mitleidenden macht, bei diesem Dokumentarfilm gelegentlich aber auch zum „Mitläufer“ oder „Mittäter“, weil die Erzählerinnen nicht nur „Jüdinnen“, sondern auch „Arierinnen“ waren und einige ungeschützte Äußerungen von manchem Zeitgenossen wahrscheinlich ohne Erröten geteilt werden. Ein Satz wie der, daß es sich im Gleichschritt eben besser läuft und in einer Gemeinschaft keiner hinterhertrotten muß, klingt in seinem kindlich-naiven Trotz erhellender als jede Mentalitätsgeschichte. Doch die Filmemacherinnen sind weder darauf aus, die Alltagswurzeln des Faschismus bloßzulegen noch solche Universalien zu erörtern wie die Frage, wie das alles hat geschehen können. Indem sich Tiedemann/Badura streng auf die Position der Kamera beschränken, und nicht nur auf jeden expliziten Kommentar verzichten, sondern ihre Kompilation aus Interviews, Archivmaterialien und Privatdokumenten erkennbar chronologisch von der Machtergreifung bis zur Kapitulation ordnen, gewinnt ihre dokumentarische Recherche eine Fülle und Authentizität, die sie zur reichen Quelle macht.

Am wenigsten überraschen dabei die plastischen Schilderungen, wie die Partei das Jungvolk auf seine Seite zog. Fackelläufe, Aufzüge, Fahnen und Fanfaren knüpften an zeitgenössische Moden an; Jugendgruppen und Breitensport sicherten nachhaltigen Einfluß auf Einstellungen und Überzeugungen; die rassische Ausgrenzung vollzog sich sukzessive nach dem Muster „Hunden und Juden Zutritt verboten“. Erinnerungen dieser Art berühren in ihrer Unmittelbarkeit, gelangen aber über den Status des Zeitdokuments kaum hinaus. Aufschlußreicher wirkt das Schicksal einer „Sozi“-Tochter, die bei jeder Gelegenheit schikaniert wurde und bei der auch im Alter noch ein Hauch von Bitterkeit nachklingt. Schwer zu übersehen ist auch, daß die unreflektiertesten Erinnerungen im materiell gesättigten Umfeld artikuliert werden, während die Nachdenklicheren in schlichten Sesseln sitzen. Daß die Geschwister Scholl aus Ulm stammten und begeisterte HJ-Aktivisten waren, hätte man nachlesen können, nicht aber das Kopfschütteln über ihren Aufruf zur Sabotage: Den Söhnen und Brüdern an der Front wollte man doch nicht in den Rücken fallen. Breiten Raum nehmen die Schilderungen ein, wie sich die ausgegrenzten Jugendlichen mit der Situation arrangierten. Jüdische Freizeitgruppen wurden ins Leben gerufen, im „Ghetto“ eine Art Parallelwelt inszeniert und nach Schlupflöchern gefahndet, wie man trotz Verbot ins Kino oder in ein Konzert gelangte. Von den seelischen Narben, dem Bruch der Emigration spricht niemand; nur in der Art, wie die „Überlebenden“, denen rechtzeitig die Flucht gelang, heute Deutsch sprechen, klingen unterschiedliche Strategien an: kaum verhohlener Haß, Distanz, verschüttete Traurigkeit, „you know“. Während die Jüdin aus Chicago „never“ einen Fuß in die Bundesrepublik Deutschland setzten würde, reiste diejenige zum Klassentreffen aus Israel an, deren Großeltern in Auschwitz ermordet wurden.

„Kinderland ist abgebrannt“ ist ein wichtiger Film, weil er die vitalsten Bausteine der NS-Diktatur in Erinnerung ruft und sie vor allem in ihrer banalen Alltäglichkeit anschaulich macht. Eine Satz wie „Die Juden sind schlimm; nicht du, Annelies, nicht du“, ist der Generalschlüssel, mit dem sich jedes Unbehagen kanalisieren läßt. Mehr noch als ein Stück „oral history“ ist die klar strukturierte Rekonstruktion aber auch ein Versuch, die nackte Wahrheit der historischen Fakten auf das Handeln und Versagen konkreter Menschen zurückzuführen und die „großen“ politischen Dimensionen im Alltäglichen zu verankern. Die dunkle Zeit, die sich in den Gesichtern und Erinnerungen dieser Frauen manifestiert, mag zwar vergangen sein, ihre Folgen und Wirkungen aber sind es nicht.
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