- | Belgien/Frankreich/Luxemburg/Tunesien 1996 | 93 Minuten

Regie: Jean-Pierre Dardenne

Ein etwa 15jähriger Junge in einem tristen Vorort von Antwerpen dient seinem Vater lediglich als willkommener Handlanger bei dessen kleinkriminellen Machenschaften. Doch nach dem Tod eines illegalen Einwanderers auf der Baustelle des Vaters beginnt er sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Ein in seiner lakonischen Erzählweise an Robert Bresson, in seiner Genauigkeit und der Beschreibung sozialer Härte an Ken Loach oder Mike Leigh erinnernder Film. Wie eine zornige Entgegnung auf die "belgische Krankheit" reflektiert er eine tief in die Gesellschaft vorgedrungene Vernachlässigung moralischer Kriterien, die in spektakulären Verbrechen oder politischen Affären ihren äußeren Ausdruck findet. (O.m.d.U.; Fernsehtitel: "Das Versprechen") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LA PROMESSE
Produktionsland
Belgien/Frankreich/Luxemburg/Tunesien
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Les Films du Fleuve/RTBF/Dérives/Touza Prod./Samsa Film/ERTT
Regie
Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
Buch
Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne · Léon Michaux · Alphonso Badolo
Kamera
Alain Marcoen · Benoît Dervaux
Musik
Jean-Marie Billy · Denis M'Punga
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Darsteller
Jérémie Renier (Igor) · Olivier Gourmet (Roger) · Assita Ouédraogo (Assita) · Frédéric Bodson (Garagist) · Hachemi Haddad (Nabil)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Diskussion
Kein Sonnenstrahl fällt in die triste Szenerie der Antwerpener Vorstadt: Fabrikanlagen, Werkstätten, Wohnsilos, zerteilt von grauen Straßenzügen, kaum ein Mensch ist zu sehen. Dies ist die Heimat des etwa 15jährigen Igor, Lehrling in einer kleinen Garage. Seine erste Handlung, die man durch ihn erlebt, ist ein Diebstahl. Mit geübten Griffen entwendet er einer älteren Kundin das Portemonnaie - sein Verhalten spricht von Routine, von geschulten Instinkten, die zielsicher auf jede sich bietende Gelegenheit zur Bereicherung lauern. Wie sich wenig später herausstellt, ist kein anderer als der eigene Vater sein Lehrmeister. Igor muß ihm bei seinen kriminellen Aktivitäten zur Hand gehen: Menschenschmuggel, Vermittlung von Schwarzarbeitern, Hehlerei, Erpressung - ganz gleich, welche Betätigung im Spektrum der Kleinkriminalität, Vater Roger ist nicht wählerisch. Für Igor kommt dieses bis dahin recht abenteuerliche Leben ins Straucheln, als er wegen ständiger "arbeitsbedingter" Bummelei seine Lehrstelle verliert. Kurz darauf wird er zum Zeugen, als einer der Schwarzarbeiter auf der Baustelle seines Vaters vom Gerüst stürzt und stirbt. Igor erlebt den Tod des Mannes, der ihm noch das Versprechen ("La Promesse") abnimmt, sich um seine Frau Assita und deren Kind zu kümmern. Von nun an ist nichts mehr, wie es war. Stück für Stück entfernt er sich innerlich von seinem gefühllosen Vater, der den Tod des Mannes zu vertuschen versucht und auch vor schlimmeren Manövern nicht zurückschreckt. Sich endgültig auf die Seite der jungen Afrikanerin zu schlagen, bedarf ungeheurer Kraftanstrengung. Igor ist sich dabei sehr wohl bewußt, daß es kein Zurück mehr gibt. Er muß sich von allem trennen, was sein bisheriges Leben ausgemacht hat - eine um so schwerer wiegende Entscheidung, da sein Schritt scheinbar keine greifbare Perspektive mit sich bringt. Er gibt seine alte, falsche Heimat auf, ohne eine neue in greifbarer Nähe zu haben.

"La Promesse" wirkt wie eine zornige Entgegnung auf die "belgische Krankheit", die offenbar tief in die Gesellschaft vorgedrungene Retardierung moralischer Kriterien, die in spektakulären Verbrechen oder politischen Affären nur ihren äußeren Ausdruck findet. Die Reduzierung zwischenmenschlicher Beziehungen auf nackte Aufwand-Nutzen-Kalkulationen erfährt eine fast beiläufige Darstellung - gerade wegen dieser schulterzuckenden, scheinbaren Normalität ein bestürzender Eindruck. Von der Polizei ergehen Tips bei bevorstehenden Razzien, und um die Öffentlichkeit ruhigzustellen werden von Zeit zu Zeit ein paar "Illegale" geopfert. Als unnormal gelten Impulse gegenseitiger Zuwendung, die nicht auf Soll-und-Haben-Basis beruhen. Logisch, daß der Vater seinen Sohn als Eigentum betrachtet, als Investition, die sich gerade erst auszuzahlen beginnt. Gänzlich unbegreiflich ist hingegen, daß Igor einer mittellosen Afrikanerin hilft, ohne jede Aussicht auf materielle Entlohnung. An Hand des seine Unschuld verlierenden Kindes postulieren die Filmemacher jedoch vehement das Prinzip Hoffnung: trotz seiner Milieuprägung vermag Igor, verschüttete Potenzen seines Empfindens bloßzulegen. Dabei hätte das filmische Unterfangen durchaus zum moralischen Lehr- oder ethnologischen Rührstück mißraten können. So kommt afrikanischer Geisterglauben z.B. zwar vor, wird aber weder denunziert noch glorifiziert. Die Regisseure erliegen nicht der Versuchung, Rituale der Naturreligion als Alternative zur westlichen Verkommenheit auszustellen (ein zu Rate gezogener Medizinmann irrt sich in seinen Weissagungen). Die Dokumentation zivilisatorischer Erosionen dient wiederum nicht als Vehikel für selbsternanntes Gutmenschentum.

"La Promesse" ist lakonisch wie ein Klassiker Robert Bressons, atmet dabei die soziale Härte und Genauigkeit der Arbeiten Ken Loachs oder Mike Leighs: durchweg mit der Handkamera gedreht, ganz ohne überflüssige Spielereien auf den Dolby-Stereo-Tonspuren, Filmmusik nur aus dem Geschehen heraus einsetzend. An Bresson gemahnen auch die professionell relativ unerfahrenen, dabei um so intensiver agierenden Darsteller. Man spürt: das Spiel ist für sie noch kein Spiel, sondern unmittelbare Erfahrung. Im offen bleibenden Ende schließlich formuliert sich der erfrischend undidaktische Ansatz der Inszenierung. Igor offenbart der bis dahin noch immer hoffnungsvollen Assita die Wahrheit über das Schicksal ihres Mannes und verschwindet mit ihr im Halbdunkel eines unwirklich wirkenden Fußgängertunnels.
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