Drama | Kanada 1997 | 112 Minuten

Regie: Atom Egoyan

Ein kleiner Ort in British Columbia verfällt in Agonie, als 14 Kinder bei einem Busunglück ihr Leben verlieren. Ein aus der Stadt angereister Anwalt versucht, das Leid der Eltern durch einen Musterprozeß in bare Münze zu verwandeln. Durch unermüdliche Überzeugungsarbeit gelingt es ihm, die meisten Betroffenen auf seine Seite zu bringen, doch bei der Vorbereitung des Prozesses scheitert er an der Lüge eines überlebenden Mädchens. Ein intensiver, eindringlicher Film über Verlust und Leid, der als Lehrbuch in Sachen überlebenswichtiger Trauerarbeit verstanden werden kann. Trotz des bewegenden Themas hält die sehr artifizielle Machart den Zuschauer zugleich auf eine gewisse Distanz und ermöglicht ihm so eine weitgehend emotionsfreie Auseinandersetzung mit existentiellen Sinnfragen. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE SWEET HEREAFTER
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Telefilm Canada/The Harold Greenberg Fund/The Movie Network/The Covernment of Canada/Canadian Film of Video Prod./Tax Credit Program
Regie
Atom Egoyan
Buch
Atom Egoyan
Kamera
Paul Sarossy
Musik
Mychael Danna
Schnitt
Susan Shipton
Darsteller
Ian Holm (Mitchell) · Caerthan Banks (Zoe) · Sarah Polley (Nicole) · Tom McCamus (Sam) · Gabrielle Rose (Dolores)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Das Leben wartet ebenso wie die Kunst mit Zufällen auf, die sich jedem Erklärungsversuch entziehen. So kommt es, daß nahezu zeitgleich zwei Filme nach Romanen des amerikanischen Ausnahmeautors Russell Banks, der in Deutschland kaum verlegt wird, in die Kinos kommen. Beide handeln von Menschen in größter Not, beschreiben existentielle Ausnahmesituationen, und obwohl beiden die primäre erzählerische Exposition gleich ist – eine vereiste Schneelandschaft als Metapher für eine vereiste Seelenlandschaft – , sind sie doch grundverschieden. Während Paul Schraders „Der Gejagte“ (fd 32 978) von den Seelenqualen eines Dorfpolizisten handelt, der unmerklich in die Fußstapfen seines gewalttätigen Vaters tritt und dessen „Erbe“ antritt, erzählt „Das süße Jenseits“ die Geschichte von einfachen Menschen, denen größtes Unglück widerfahren ist und die lernen müssen, mit dieser (Lebens-)Hypothek zu leben. Beides also sind Filme über allzu großes Leid.

Ein kleiner Ort in British Columbia. Agonie hat sich über dem Flecken ausgebreitet. Der Ort ist praktisch kinderlos, seit der Schulbus auf schneeglatter Straße von der Fahrbahn abkam und 14 kleine Menschen ihr Leben verloren. Diese Situation will Anwalt Mitchell Stephens nutzen, um einen Musterprozeß zu führen, den verwaisten Eltern einen scheinbar berechtigten Schadensersatz einzuklagen und selbst kräftig zu verdienen. Er reist aus der fernen Stadt an und versucht, die Eltern auf seine Seite zu bringen und auf seine Prozeßbedingungen einzuschwören. Zwar stößt sein kommerzielles Interesse zunächst auf Wiederstand, doch nach und nach gelingt es ihm, die glaubwürdigsten Eltern auf seine Seite zu ziehen. Wie wenig den „Menschenfreund“ Stephens die Trauer und die Nöte seiner Klienten scheren, wird spätestens immer dann deutlich, wenn seine Tochter Zoe (Leben) aus der fernen Stadt anruft. Sie ist dem Vater entfremdet, drogenabhängig und – wie sich später herausstellen wird – AIDS-infiziert. Seine Hilflosigkeit hat den Anwalt zum Zyniker gemacht, der im Materiellen sein Heil sucht. Und irgendwie scheint sein Spiel aufzugehen. Die meisten Eltern der verunglückten Kinder schwenken in sein Lager über, nur Billy, der seine Frau vor zwei Jahren und seine Zwillinge vor wenigen Wochen verlor, leistet Widerstand. Er will zumindest den Geist des Dorfes erhalten und mit ihm die kollektive Erinnerung an die Kinder, die er durch einen Prozeß bedroht sieht, der unweigerlich zur Schlammschlacht ausarten muß. Doch als Stephens die Eltern von Nicole hinter sich bringt – sie überlebte als eine der wenigen den Unfall querschnittsgelähmt –, scheint sein Plan aufzugehen. Zwietracht ist längst gesät, die Trauer ist geschäftlichem Kalkül gewichen. Alles scheint bestens, eine Anhörung der Zeugen soll den Prozeß vorbereiten. Alle sagen in Stephens’ Sinn aus, nur Nicole schießt als Hauptzeugin quer: Durch eine bewußte Falschaussage beschuldigt sie die Busfahrerin, mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren zu sein. Der geplante Musterprozeß gegen die Herstellerfirma zerplatzt wie eine Seifenblase. Später trifft Stephens bei einem Inlandflug zufällig eine frühere Freundin Zoes. Sie fragt nach seiner Tochter, neugierig und beharrlich, und endlich kann er sich, nach vielen Notlügen und Abwiegelungsversuchen, seiner Tochter Zoe – seinem Leben – stellen.

„Das süße Jenseits“ ist ein ungeheuer trauriger Film über trauernde Menschen, denen der Grund ihrer Trauer verlustig zu gehen droht. Während Paul Schrader sein durchaus vergleichbares Thema sehr emotional und emotionalisierend angelegt hat, legt Egoyen einen äußerst artifiziellen Film vor, der auf Grund seiner Machart und seines Themas in den Bann schlägt, den Zuschauer bei aller Emotionalität aber außen vor halten will. Dadurch verstellen nie Tränen den Blick auf den sachlichen Kern der Geschichte, sondern man wohnt einem Film bei, der sich als Lehrbuch in Sachen Trauerarbeit verstehen läßt. Vielleicht ist es sogar gerade diese Distanziertheit, die den Film so traurig macht und die Nähe und Anteilnahme einfordert? Wann hat man im Kino schon einmal Gelegenheit, an wirklichen, die Existenz bedrohenden Problemen teilzunehmen? Wann wird wirkliches Leben gezeigt, das zum Stillstand gekommen ist, nur noch um die eigentliche Sinnfrage kreist und zu dem Schluß kommen muß, daß Leben so eigenlich keinen Sinn mehr hat, trotzdem aber gelebt werden muß? Egoyan macht es dem Zuschauer nicht leicht. Es bedarf schon einer regen geistigen Mitarbeit, um der ebenso komplexen wie komplizierten Erzählstruktur auf die Schliche zu kommen. Zunächst scheint die Geschichte linear erzählt, später deuten sich zeitliche und räumliche Sprünge an; viel später kristallisiert sich heraus, daß Egoyan Zeit und Raum geschickt verschachtelt und verwebt, Gleichzeitigkeiten schafft, die von der eigentlichen Fabel nicht vorgegeben sind. Dabei schafft er sich einen erzählerischen (Frei-)Raum, der die Schicksale aller Betroffener zu fokussieren vermag. Reißschwenks in den freien Raum – in den Himmel (!) – verbinden häufig die verschiedenen Ebenen und schaffen mehr als eine filmische Überbrückung, sondern ordnen sich in den spirituellen Gehalt der Geschichte ein, schaffen eine Einheit zwischen den hinterbliebenen Eltern und den Kindern (im Himmel).

Gerahmt und immer wieder unterbrochen ist die Filmerzählung von der Geschichte des Rattenfängers von Hameln, ein Einfall, der in Banks Roman keine Entsprechung findet, sondern zum Film hinzuaddiert wurde. Dieser mittelalterliche Mythos aus dem Westfälischen legt gleich zwei Lesarten nahe: zum einen überhöht sie immer wieder das Verschwinden (den Tod der Kinder) ins Reich der erbaulichen Volksmärchen, zum anderen bringt er die Figur des Rattenfängers ins Spiel, der die Verführbarkeit der Menschen thematisiert und eine latente Geldgier subtil bloßlegt. Vor dem Hintergrund dieses Märchens erhält auch die Figur der gelähmten Nicole besonderes Gewicht: Sie ist das lahme Kind aus Hameln, das den anderen Kindern nicht folgen konnte und als Chronistin der Geschichte dient, im Märchen wie im Film. Durch seine subtile Erzählweise und durch eine Vorlage, die die eigentlichen Wesensmerkmale des Menschseins unter dem Vorzeichen von Trauer und Verlust offenlegen will, ist Egoyan ein höchst intensiver Film gelungen, der in aller Ruhe gesehen und gelesen werden will. Bei aller scheinbaren Entrücktheit erzählt er dabei letztlich die Geschichten ganz einfacher Menschen, die lernen müssen, sich mit dem Verlust geliebter Menschen abzufinden, um trotz des lebenslangen Kummers im Herzen sich im eigenen (Weiter-) Leben einzurichten und ihm eine sinnvolle Ausrichtung zu geben. Das liebevolle Andenken ist wertvoller als das scheinbar lukrative Geschäft. Da ist eine einfache Botschaft, die aber anscheinend immer mehr in Vergessenheit gerät.
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