Biopic | Frankreich/Deutschland/Italien 1997 | 102 Minuten

Regie: Agnès Merlet

Lern- und Studienjahre der Malerin Artemisia Gentileschi (1593-1653), die sich als eine der wenigen Frauen ihrer Epoche in der Kunst etablieren konnte und Gemälde schuf, die wegen ihrer naturalistischen Darstellung von Gewalt bekannt sind. Im Mittelpunkt steht ein Vergewaltigungsprozeß, der von ihrem Vater gegen ihren Lehrmeister und Liebhaber, den Florentiner Landschaftsmaler Agostino Tassi, angestrebt wurde. In stilvoll-schönen Bildern, die nie ins Geschmäcklerische abgleiten, entwickelt sich eine Biografie, die auch nach künstlerischen Konzepten, die Welt zu betrachten, fragt. Ein beeindruckendes Werk voller optischer Finessen, getragen von drei ausgezeichneten Hauptdarstellern. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ARTEMISIA
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Italien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Première Heure/Schlemmer/France 3 Cinéma/3emme Cinematografica/Eurimages/Canal +/CNC
Regie
Agnès Merlet
Buch
Agnès Merlet · Christine Miller
Kamera
Benoît Delhomme
Musik
Krishna Levy
Schnitt
Guy Lecorne
Darsteller
Valentina Cervi (Artemisia) · Michel Serrault (Orazio) · Miki Manojlovic (Agostino Tassi) · Luca Zingaretti (Cosimo) · Emmanuelle Devos (Constanza)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Biopic
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Diskussion
Seit den 80er Jahren datiert die Wiederentdeckung der italienischen Barockmalerin Artemisia Gentileschi (1593– 1653), die durch ihre offenkundige Vorliebe für die Darstellung herausragender Frauengestalten zu einer Identifikationsfigur des Feminismus wurde. Sie ist die erste bildende Künstlerin gewesen, die sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Italien etablieren konnte. Mit ihrem Namen verbindet man Bilder voller Gewalt und Grausamkeit, die amerikanische Kunsthistorikerinnen zu Spekulationen darüber verleiteten, ob die effektvollen Inszenierungen der Gewalt als Reflex auf die eigenen Erfahrungen der Künstlerin zu deuten sind; denn Artemisia hatte als Opfer einer Vergewaltigung selbst Brutalität an eigenem Leib erfahren. Und nur da dieser Vorgang aktenkundig geworden ist, gerieten auch sie und ihr Lebenswerk nicht in Vergessenheit.

Aus ihrem berühmtesten Bild „Enthauptung des Holofernes durch Judith“, das sie in den späteren Jahren noch mehrmals variierte, spricht aber auch eine gewisse Faszination für Gewalt, die Artemisia in einem auffällig schonungslosen Licht zeigte. Das Gemälde wirkt in seiner drastischen Darstellung des Mordes bis heute schockierend: Während die Dienerin von Judith ihr ganzes Körpergewicht auf den liegenden Holofernes drückt, hält Judith seinen Kopf an den Haaren und schneidet ihm mit einem Schwert den Hals durch. Obwohl der biblische Stoff in der Kunstgeschichte beliebt war, wurde er niemals so direkt und eindringlich gestaltet wie in diesem Bild. Die meisten Bearbeitungen des Sujets zeigen die beiden Frauen mit dem abgetrennten Kopf des Königs und nicht die Tat selbst. Dieses suggestive Gemälde inspirierte die junge französische Regisseurin Agnès Merlet dazu, sich in ihrem zweiten Spielfilm mit der Person Artemisias zu beschäftigen, was sie auch in einer Bildsprache von beinahe malerischer Qualität tat. Dabei beschränkte sie sich auf die Anfangsperiode im Schaffen Artemisia Gentileschis, die mit ihrer doppelten Initiation in der Kunst und in der Liebe verbunden ist: Als Tochter des Caravaggio-Schülers Orazio Gentileschi wächst Artemisia in Rom auf und zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe aus. Fasziniert von den Geheimnissen menschlicher Anatomie skizziert sie in der Klosterschule heimlich beim Kerzenlicht ihren eigenen Körper, lernt bald in der Werkstatt des Vaters, der ihr Talent erkennt und fördert, den Umgang mit der Farbe und wird seine wichtigste Mitarbeiterin bei Auftragswerken. Da aber ein Edikt des Papstes den Frauen das Abbilden männlicher Aktmodelle verbietet, bleibt ihr die eigentliche Grundlage der künstlerischen Ausbildung verwehrt. Trotz der Fürsprache ihres einflußreichen Vaters darf sie auch auf Grund ihres Geschlechts nicht die Kunstakademie besuchen. Neugier und Eigenwilligkeit treiben sie dazu an, mit dem gleichaltrigen Fulvio, der in sie verliebt ist, eine Abmachung zu treffen: Für einen Kuß steht er ihr nackt, am Strand, Modell. Hier begegnet sie dem Landschaftsmaler Agostino Tassi, der als Meister der Perspektive gilt und im Freien sein provisorisches Zelt-Atelier aufschlägt. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der beim Kerzenlicht im Atelier kontrastierende Lichteffekte vor dunklem Hintergrund arrangiert, arbeitet der Florentiner Tassi bei natürlichem Licht und mit Hilfe eines Liniengitters, das er für seine in milden Farbtönen gehaltenen Landschaftsbildern einsetzt. Gegen den Widerstand ihres Vaters, der der neuen Malereischule skeptisch gegenübersteht, und den anfänglichen Widerwillen Tassis erkämpft sich Artemisia dank ihrer Aktzeichnungen das Recht, von Tassi unterrichtet zu werden.

Eine neue Sichtweise der Dinge erschließt sich der 17jährigen Artemisia, als Agostino sie in die Kunst der perspektivischen Darstellung einführt. Ihre Welt gerät in Bewegung und mit ihr auch die Kamera. Der Lebemann weckt außerdem ihre sexuelle Neugier. Sie bittet ihn, ihr als Modell für Holofernes zu posieren. Als es aber zu der ersten intimen Annäherung zwischen ihnen kommt, endet sie für beide schmerzlich: Agostino, der wegen der Aktzeichnungen annahm, es mit einer erfahrenen Frau zu tun zu haben, ist entsetzt, als er erkennt, eine Jungfrau vor sich zu haben. Artemisias verstörte Reaktion bewirkt einen Wandel in seiner Wahrnehmung ihrer Person. Für kurze Zeit werden sie ein Liebespaar, bis ein von Orazio gegen den Willen seiner Tochter angestrebter Vergewaltigungsprozeß sie für immer auseinanderreißt. Über den genauen Verlauf des Prozesses, der im Mittelpunkt des Films steht, existieren bis auf einige Aufzeichnungen von Anhörungen, die im Vorfeld durchgeführt wurden, keine Unterlagen. Merlet reizte an dem Stoff gerade die Tatsache, daß sie ihre eigenen Vorstellungen entwickeln konnte. Im Film wird Artemisia erst zum Opfer durch den Prozeß, den ihr Vater vordergründig anstrengt, um ihre Ehre zu retten, eigentlich aber, weil er seinen Ruf wahren und den lästigen Konkurrenten im Wettbewerb um ein prestigeträchtiges Projekt loswerden will. In diesem Künstlerdreieck gelang es Merlet, mit ihren drei Hauptdarstellern Valentina Cervi, Michel Serrault und Miki Manojlovic eine Idealbesetzung zu finden. Die Liebesbeziehung des Künstlerpaares wird von einem unverständigen Umfeld als Provokation empfunden. Zumal sich im Verlauf des Prozesses, auch zu Artemisias Überraschung, herausstellt, daß Tassi ein verheirateter Mann ist. Obwohl seine Freunde, um ihn zu retten, Artemisia zu diffamieren versuchen, weigert sich Tassi, gegen seine Geliebte auszusagen und nimmt schließlich alle Schuld auf sich, um sie vor weiteren Foltern zu bewahren.

Ohne ästhetisierende Tableaus zu entwerfen, handelt der Film eigentlich davon, wie künstlerische Konzepte, die Welt zu betrachten, entstehen, aus der Erfahrung gespeist werden, was in sinnlichen, stilvoll-schönen Bildern vermittelt wird, die niemals ins Geschmäcklerische abgleiten. Im Vorspann flackern kleine Lichtpunkte über die dunkle Leinwand, bis sie allmählich als Reflexe des Kerzenlichts auf den Irisrändern einer großen Pupille erkennbar werden. Dicht an den Gefühlen – in Artemisias Kopf – erhält man Zugang zu ihren inneren Landschaften, was durch ihre Stimme im Off noch verstärkt wird. Durch eine Entgegensetzung der Farben und des Lichts in Innen- und Außenräumen, die mit Kameraschwenks und -fahrten korrespondiert, wird nicht nur eine Beziehung zu den Figuren hergestellt, sondern auch der Gegensatz zwischen den beiden Malschulen, die Artemisias Erfahrungshorizont bestimmen, sinnbildlich erfahrbar gemacht. Perspektivrahmen, die Tassi bei der Arbeit und im Unterricht verwendet, kommen auf sehr suggestive Weise zum Einsatz. Als er von seiner Gefängniszelle aus durch das Fenstergitter Blicke auf die Meereslandschaft wirft, die sich davor ausbreitet, kommt der imaginäre Dialog, den der Film mit der Malerei führt, eindrucksvoll zum Tragen durch die langsame Kamerafahrt, die den symbolischen Perspektivrahmen des Gefängnisgitters und die filmische Kadrierung zur Deckungsgleichheit bringt. In der Schlußszene sieht man Artemisia auf dem Strand, alleine, durch die Erfahrung gereift und ganz ihrer Kunst zugewandt. Ein letztes Mal blickt sie durch das Gitternetz aufs Meer. Gerade hat sie ihrer Stiefmutter angekündigt, von zu Hause wegziehen zu wollen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
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