Der Tanz des Windes

Drama | Deutschland/Großbritannien/Frankreich/Niederlande/Indien 1997 | 86 Minuten

Regie: Rajan Khosa

Nach dem Tod ihrer Mutter und Lehrerin gerät eine berühmte indische Raga-Sängerin in eine schwere seelische Krise, weil ihre Stimme versagt und sie sich mit inneren Anfechtungen auseinandersetzen muß. Ein beeindruckender Debütfilm, der mit ruhigen Bildern und einer herausragenden Hauptdarstellerin von der Notwendigkeit und den Schwierigkeiten der Individuation handelt und in Gestalt einer märchenhaften Suche das Verhältnis von Tradition und Selbstbestimmung thematisiert. (O.m.d.U.; Videotitel: "Dance of the Wind") - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DANCE OF THE WIND | SWARA MANDAL
Produktionsland
Deutschland/Großbritannien/Frankreich/Niederlande/Indien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Pandora/Elephant Eye/Illuminations Film/JBA/Filmcompany/NFDC
Regie
Rajan Khosa
Buch
Robin Mukherjee · Rajan Khosa
Kamera
Piyush Shah
Musik
Shubha Mudgal
Schnitt
Emma Matthews
Darsteller
Kitu Gidwani (Pallavi) · Bhaveen Gossain (Ranmal) · Kapila Vatsyayan (Karuna Devi) · Roshan Bano (Tara) · Punamava Mehta (Schülerin Shabda)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Die religiösen und kulturellen Traditionen des Westens kennen durchaus intensive Formen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses; das Konzept des „Guru“ aber ist ihnen fremd. Das Sanskrit-Wort bezog sich ursprünglich auf Brahmanen, die junge Veda-Studenten bei sich aufnahmen, wurde bald aber für jede Art geistlicher Lehrer gebraucht, die in Indien ihr Wissen in Form von Lebensgemeinschaften weitergaben. Vor allem im Zusammenhang der Esoterikwelle hat sich die Vorstellung eines weisen Führers verfestigt, dem man sich bedingungslos anvertrauen kann, weil er über Fähigkeiten verfügt, die die Schmerzen persönlicher Erfahrungen mildern. Wie kurzsichtig solche Hoffnungen indes sind und wie wenig sie sich Rechenschaft über die Dialektik von Abhängigkeitsverhältnissen geben, erzählt der leise, fast meditative Debütfilm. Pallavi ist Tochter und Schülerin der berühmten Raga-Sängerin Karuna Devi, die sie seit früher Kindheit in der Kunst der heiligen Gesänge unterrichtet. Obwohl sich Pallavi selbst längst einen Namen gemacht hat und in Neu Dehli Jüngere um sich schart, bilden der Rat und die Anerkennung der Mutter den entscheidenden Rückhalt. Als diese stirbt, fällt die Sängerin in eine schwere seelische Krise, von der der Verlust ihrer Stimme nur der Anfang ist. Schon kurz vor dem Tod der Mutter hatte die ehrgeizige Pallavi in einer Art Vision einen weißhaarigen alten Mann mit einem kleinen Straßenmädchen gesehen, das mit unglaublich reiner Stimme Lieder aus ihrem und Karunas Repertoire sang. Außerdem hatte ein Windstoß das Armbändchen ihrer Mutter vor die Füße der Bettlerin geweht, mit dem das musikalische Vermächtnis symbolisch weitergegeben wird. Als Pallavi ins Freie stürzte, war das Mädchen mitsamt dem Band verschwunden. Die Suche nach dieser zerlumpten Erscheinung wird für Pallavi fortan zur zwanghaften Idee, über der die Künstlerin alles andere vergißt. Ihr Mann beobachtet mit wachsender Sorge den psychischen Verfall seiner Frau, behält seine Informationen über das Lebensgeheimnis ihrer Mutter aber zunächst für sich. Karuna Devi war ihrerseits einst die Schülerin eines Meisters, der es nicht überwinden konnte, als sie ihn verließ, um zu heiraten. Munir Baba, die ominöse Größe im Leben der Karuna Devi, verschwand spurlos und wählte das Schweigen – aus Trotz und Verbitterung, daß seine Novizin ihren Lebensunterhalt fortan mit Konzerten der heiligen Gesänge bestritt.

„Für jeden kommt der Moment, wo er sich von seinen Lehrern lösen und eine eigene Weltanschauung gewinnen muß“, benennt der 1961 in Indien geborene, heute in England lebende Rajan Khosa die Ausgangsidee seines Films, dessen ruhige, intensive Bilderfolge in Bann schlägt. Langsam schwenkt die Kamera in der Eröffnungssequenz über dichtbelaubte Bäume auf eine Lichtung mit einer Tempelanlage, aus der die melodiösen Laute stammen, die den Bildern unterlegt sind. Ein kleines Mädchen spielt mit Tönen und der Akustik des Kuppelbaus, ungezwungen und frei. „Ich lerne sie im Traum“, klärt das Straßenmädchen die Sängerin über die Herkunft der Lieder auf. „Hör auf zu suchen“, schreibt Karunas Meister aufs Täfelchen, als Pallavi ihn gefunden hat und darum bittet, seine Schülerin werden zu dürfen: Die Möglichkeit der Freiheit ist auch ihre Pflicht, selbst wenn jede Entscheidung in Unsicherheit geboren wird. Khosa schildert diesen Prozeß der Individuation eher beiläufig und als Quintessenz der wenig spektakulären Handlung, wobei ihm die außergewöhnliche mimische Wandlungsfähigkeit seiner Hauptdarstellerin eine solch indirekte Erzählweise erst möglich macht. Denn in Kitu Gidwanis Gesicht spiegeln sich die Auseinandersetzungen, Ängste und Widersprüche, die ihr Inneres zerreißen, ohne daß sie in dramatischen Aktionen nach außen gekehrt werden müßten. Der „Tanz des Windes“, die unsichtbare Kraft, die in die Wipfel der Bäume fährt und wenn schon nicht die Verhältnisse, so doch wenigstens Blätter (und Gedanken) zum Tanzen bringt, wirbelt zwar die Sicherheiten durcheinander, die sich in Bräuchen und Sitten niedergeschlagen haben. Doch wie wenig es mit einem simplen Dualismus getan ist, der in europäischer Verkürzung das eine gegen das andere ausspielt, legt der Film schon durch sein Sujet nahe: die seit 5000 Jahren mündlich tradierte Musik, in der heilige Überlieferung und individuelle Aneignung miteinander harmonieren. Vielleicht läßt sich der Zauber dieser sanften, wohltuenden Klänge ja auch dahin deuten, daß in ihrem Widerstreit der Zusammenklang nicht völlig verloren geht. Pallavis Suche nach der verlorenen Stimme folgt märchenhaften Mustern, in denen sich ein wacher Sinn, vage Ahnungen und Elemente mythischer Erzählungen vermischen; am Ende ist sie nicht nur reifer und erfahrener geworden, sondern hat etwas von der Weisheit verstanden, die sich in den spirituellen Traditionen ihres Landes manifestiert.
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