Der Geschmack der Kirsche

Drama | Iran/Frankreich 1997 | 99 Minuten

Regie: Abbas Kiarostami

Ein Mann mittleren Alters sucht in den nördlichen Außenbezirken Teherans einen Helfershelfer für seinen Selbstmord und findet ihn in einem alten Mann, der das Vorhaben zwar akzeptiert, zuvor aber versucht, den Lebensmüden von der Schönheit des Daseins zu überzeugen. Ein in extrem langsamen Erzählrhythmus entwickelter Film, der die Entscheidungsfreiheit des Menschen ebenso respektiert wie er sich vehement für das Leben einsetzt. Ohne Anflug einer psychologischen Präzisierung spiegelt sich das Seelenleben des Protagonisten ausschließlich in der kargen Landschaft und verdichtet sich zu einer "Arbeitsthese", die die Bereitschaft des Zuschauers zur gedanklichen und emotionalen Mitarbeit voraussetzt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
TA'M E GUILASS
Produktionsland
Iran/Frankreich
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Abbas Kiarostami Prod./Ciby 2000
Regie
Abbas Kiarostami
Buch
Abbas Kiarostami
Kamera
Homayoun Payvar
Schnitt
Abbas Kiarostami
Darsteller
Homayoun Ershadi (Herr Badii) · Abdolhossein Bagheri (Tierpräparator) · Afshin Bakhtiari (Arbeiter) · Ali Moradi (Soldat) · Hossein Noori (Seminarist)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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Das extrem langsam erzählte Drama konzentriert sich nicht auf eine psychologische Präzisierung, sondern auf ein Hohelied auf das Leben.

Diskussion

Ein Mann fährt im Auto durch die nördlichen Außenbezirke Teherans. Andere Männer auf den Straßen denken, daß er billige Arbeitskräfte sucht, und bieten sich ihm an, doch nach einem prüfenden Blick fährt er schweigend weiter. Immer mehr verlässt der Mann im Range Rover die bewohnten Stadtbezirke, bald fährt er nur noch durch Baustellen in öder Landschaft.

Endlich scheint er eine geeignete Person gefunden zu haben. Er spricht sie an, bietet viel Geld – wird aber davongejagt, weil alles verdächtig nach sexuellen Avancen klingt. Auch ein junger Soldat auf dem Weg zur Kaserne, der endlich ins Auto einsteigt und bereit ist, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen, mag Ähnliches denken, als die Fahrt in immer größere Einsamkeit und Abgeschiedenheit führt. Bis er, und mit ihm der Zuschauer, endlich von der Absicht des Mannes erfährt: Er will sterben und plant seinen Selbstmord. Sein Grab hat er bereits ausgehoben. Der junge Soldat soll anderntags prüfen, ob er auch wirklich tot ist, und ihn dann mit Erde bedecken.

Nichts erfährt man über die Motive dieses Lebensmüden, nichts charakterisiert ihn jenseits seiner Kleidung und seines Autos, das ihn als recht wohlhabend und gutsituiert zu erkennen gibt. Der Zuschauer muss viel Geduld aufbringen, um diesem Mann im mittleren Alter auf seiner Fahrt in eine immer abstraktere Landschaft zu folgen; in eine unermeßlich weite und triste Einöde, die deutlicher den Seelenzustand des Mannes spiegelt als jedes der spärlichen Worte. Sie wird von anonym bleibenden Arbeitern „beackert“, aufgebrochen, umgewälzt und verändert ohne erkennbares Ziel; sie ist ein staubiges, extrem ausgetrocknetes Areal voller Geröll und Gestein, das gelegentlich in Bewegung gerät, ohne dass Ursachen und Absichten deutlich würden.

Er verweigert sich filmischen Konventionen

Selten wählt die Kamera etwas innerhalb dieser Unordnung für den Betrachter aus, der selbst seinen Blick über die unendlich langen Plansequenzen schweifen lassen muss und zum Ausharren, ja zur Geduldsprobe gezwungen wird im Wechsel zwischen Landschaftstotalen und halbnahen Einstellungen auf den fahrenden Mann. Der Film verweigert sich demonstrativ auch allen Konventionen eines filmisch in Schnitt und Gegenschnitt „geordneten“ Dialogs; er beobachtet die eine Person und belässt ihr Gegenüber im Off.

„Das Wesentliche ist, sich auseinanderzusetzen und sich vorbehaltlos in Frage zu stellen“, sagt der iranische Regisseur Abbas Kiarostami. Der thematische Nukleus seines jüngsten Films ist entsprechend überschaubar und komplex zugleich: „Selbstmord ist im Iran verboten, als negativer, nihilistischer Akt geächtet. Aber es ist die Aufgabe der Kunst, dieses Problem aufzurollen und die Zuschauer mit dieser enorm wichtigen Frage zu konfrontieren.“

Die drei Personen, die der Lebensmüde anspricht, um sich eines letzten Dienstes zu versichern, sind in ihren Reaktionen repräsentative Bedeutungsträger: Der junge Soldat, der sagt, dass er kein Totengräber sei, ist für den Mann die (Wieder-)Begegnung mit der Jugend, mit der Erinnerung an seine eigene Soldatenzeit. Der nächste erweist sich als islamischer Seminarist aus Afghanistan, für den religiös vorgegebene Grenzen zwischen Gute und Böse existieren. Die Erklärung des Mannes, er wolle sich von seinem Leben „befreien“, verstößt für ihn gegen ein unverbrüchliches Dogma.

Schließlich begegnet er einem alten Mann, der sich als Tierpräparator erweist. Von ihm erfährt man erst gar nicht, wie er ins Auto des Lebensmüden kam: Unvermittelt ist er da und redet ruhig und beharrlich auf ihn ein. Trotz seines bäuerlichen Äußeren entpuppt er sich als ein „Erleuchteter“, der über die Schönheit des Daseins zu philosophieren versteht. Er verspricht, dem Unbekannten notfalls seinen Willen zu erfüllen, wenn er ihn nicht umstimmen kann. Er erinnert ihn an den Mond, die Sterne, den Sonnenaufgang, daran, daß er nie wieder aus einer Quelle würde trinken können. „Willst du alles aufgeben? Auch den Geschmack der Kirsche?“

Bereitschaft zur gedanklichen Mitarbeit nötig

Nur wer sich den Strapazen und der beabsichtigten erzählerischen Monotonie dieser filmischen Parabel ausliefert, wird den von der Kamera eher beiläufig angebotenen Wandel in der Landschaft nachempfinden, der sich während der Ausführungen des Alten vollzieht. Dieser hat den Lebensmüden auf eine andere Straße gelockt, die zwar einen Umweg bedeute, aber entschieden schöner sei. Und in der Tat tauchen erste Anflüge einer Vegetation auf, grüne Bäume und Sträucher, sogar Vogelgezwitscher ist zu vernehmen – unspektakuläre Zeichen des Lebens.

Kiarostami schuf einen Film von äußerster Einfachheit und Direktheit, der in seinen Bildern ebenso karg wie trist bleibt und dennoch das Wunder vollbringt, jenen „Geschmack“ des Lebens anklingen zu lassen, der es lebens- und erstrebenswert macht. Anders als in seinen früheren Werken geht es diesmal weniger um das komplexe Geflecht aus Fiktion und Dokument. Die filmische „Erzählung“ dient vielmehr dazu, eine These zu formulieren, die der Zuschauer weiterdenken und für sich entscheiden soll. Ohne die Bereitschaft zur gedanklichen Mitarbeit bleibt der Film hermetisch und befremdend und entwickelt kaum jene Eigendynamik, die er in seinem Innern besitzt.

Stimmte Kiarostamis vorhergegangener Film „Quer durch den Olivenhain“ (fd 31 517) auf vergleichbar schlichte Weise das hohe Lied der Liebe an, so ist es hier das hohe Lied des Lebens – und eine vehemente Absage an jede Form der Daseinsverweigerung. Nicht minder „trotzig“ aber enthält sich Kiarostami aller möglichen Motive einer solchen Verweigerung: Seiner Hauptfigur billigt er nichts an erklärender Psychologisierung zu, nichts an Motivation oder sozialem Kontext. Nur das, was zu sehen ist, zählt – und sei es „nur“ der Schatten, den der Mann auf eine Bergwand wirft, oder der Himmel über ihm, als er sich in sein Grab legt und den Mond und die Wolken betrachtet.

Danach wird das Bild für viele Sekunden schwarz, während man den einsetzenden Regen vernimmt. Ein auf Video gedrehter Epilog schließt sich an, der weitere Fragen aufwirft, aber keine eindeutigen Antworten gibt. Kiarostami enthüllt die filmische Handlung als Gedankenspiel und verweist zugleich darauf, dass für ihn selbst die Hoffnung auf ein Weiterleben besteht: „Die Dreharbeiten auf Video sind einfach nur da, um Zeugnis von der Rückkehr des Frühlings abzulegen.“

Bei aller Fremdheit, der sich westliche Betrachter ausgeliefert fühlen mögen, ist dies ein Trost von allgemeiner Verständlichkeit: Nach all der (seelischen) Ausgedörrtheit kehrte mit dem Regen auch das Leben zurück. Und mit ihm vielleicht auch der Geschmack der Kirsche.

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