Bertolt Brecht - Liebe, Revolution und andere gefährliche Sachen

Dokumentarfilm | Deutschland 1998 | 95 Minuten

Regie: Jutta Brückner

Dokumentarfilm-Essay über Bertolt Brecht, das aus Anlaß seines 100. Geburtstags bislang wenig thematisierte biografische Aspekte beleuchtet. Angesiedelt zwischen Dokument und Fiktion, verbindet der Film in einer kunstvollen Montage Archivmaterial mit nachgestellten Situationen aus Brechts Leben, die sich zu einer unkonventionellen Entdeckungsreise ins Innere seiner widersprüchlichen Persönlichkeit zusammenfügen. Ein außergewöhnliches Porträt des umstrittenen Klassikers der Moderne, nicht zuletzt dank aufschlußreicher Reflexionen von Zeitzeugen und Experten sowie der um kritische Distanz bemühten Erzählperspektive.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Top Story/arte/Kinoproducion Oy/Athenafilm/Film Form/Goethe-Institut
Regie
Jutta Brückner
Buch
Jutta Brückner · Kaj Holmberg
Kamera
Jyrki Arnikari · Klaus Gottschall
Musik
Eero Ojanen
Schnitt
Salar Ghazi
Darsteller
Peter Buchholz
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
„Wenn die Amerikaner den Sozialismus entdecken, dann wird er funktionieren“, zitiert Jutta Brückner im Epilog ihres Dokumentarfilmessays genüßlich ein Bonmot von Bertolt Brecht, den sie anläßlich seines 100. Geburtstags als kulturpolitische Ikone des DDR-Staates und ein intellektuelles Idol der 68er-Generation einer historischen Revision aus der Perspektive der Nachwendezeit unterzieht. In den vier thematisch gegliederten Kapiteln „Ideologie und Verrat“, „Vom armen B. B.“, „Klassiker im Exil“ und „Die deutsche Revolution“ nimmt sie Brechts Leben unter die Lupe und geht Fragen nach, die bis jetzt gar nicht oder nur unter vorgehaltener Hand behandelt wurden, wie zum Beispiel der Bedeutung seines Herzleidens, hinter dem eine Herzneurose zu vermuten ist, die Brecht in dem Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Mutter einsetzte, um sich von ihr abzunabeln, die aber auch als zwanghafter Antrieb für viele seiner Affären und seine geradezu unerschöpfliche Produktivität gelten darf.

Die Erfahrung, daß Liebe ersticken kann, die Brecht zu der Provokation verleitete, angesichts des Krebstodes seiner Mutter unter demselben Dach mit Jugendfreunden zu feiern, läßt ihn später bei seinen unzähligen Beziehungen, die er meistens zeitgleich unterhält, die Besitzansprüche der Frauen durch die Gegenwart ihrer Konkurrentinnen im Schach halten. Hinter der Fassade eines Dramatikers und Marxisten, der in seinen Theaterstücken eine Klage über soziales Unrecht mit der Hoffnung auf eine Veränderung durch den Sozialismus vereinigt hat und neben Shakespeare zu den meistgespielten in der Welt gehört, verbirgt sich, so Jutta Brückners These, organisierte Schizophrenie. Um dieser auf den Grund zu gehen, schickt die Filmemacherin den Schauspieler und Theaterautor Peter Buchholz auf eine Reise auf den Spuren des armen B.B. Zwischen Dokument und Fiktion angesiedelt, von Prolog und Epilog eingerahmt und Kommentaren unterbrochen, die ganz in Brechtscher Manier der Regisseurin als demonstrierend-erzählende Form dienen, um beim Betrachter durch Distanzierung zu dem „Gegenstand der Untersuchung“ eigenständige Schlußfolgerungen zu initiieren, entwickelt sich der Gang der Handlung in Einzelszenen, Kurven und Sprüngen, die in einer kunstvollen Montage aus Familien- und Theaterfotos, Wochenschauausschnitten, Tondokumenten, Inszenierungsaufzeichnungen authentisches Material in Schwarz-Weiß – oft durch leuchtendes Rot oder Blau verfremdet – mit inszenierten Farbsequenzen verbinden. Diese Methodik ruft Assoziationen an frühere Filme von Jutta Brückner wie „Tue recht und scheue niemand“ (1975) hervor, da sie bereits als Protagonistin der feministischen Strömung im Neuen Deutschen Film nach einer unverbrauchten Filmsprache suchte, die die Authentizität des Dargestellten jenseits versteinerter Kinoformen vermitteln würde. Auch diesmal geht es um unterdrückte Sinnlichkeit und seelische Gewalt, um eine Emanzipationsgeschichte als Loslösung von der Mutter am Beispiel des „feigen Egomanen“ Brecht, der die Frauen ausnutzte, sie der seelischen Stabilität wegen als Nahrung für seine Kunst (ge-)brauchte. Brückner geht aber auch der Frage nach, wie aus dem wilden Anarchisten und avantgardistischen Dichter der 20er Jahre, der eine Affinität für die Gewalt verspührt, in elf Jahren vier Kinder aus drei Beziehungen bekommt, mit Freunden wie Hanns Eisler, Arnold Bronnen, Tretjakow oder Geliebten und Mitarbeiterinnen wie die Schauspielerin Carola Neher und die Übersetzerin Elisabeth Hauptmann in seiner „Factory“ einer „kollektiven Produktionsweise“ frönt, ein Marxist wird, der Lobgedichte auf den Kommunismus und auf Stalin schreibt.

In der Verschlungenheit von Historie und Biografie wird die Geschichte seiner Emigration an Orginalschauplätzen in Dänemark, Schweden und Finnland erzählt, Zeitzeugen und Experten werden befragt, unbequeme Fakten offenbart, die das Bild einer widersprüchlichen Persönlichkeit verfestigen: die Wandlung des idealistischen Dichters Brecht in den disziplinierten Parteiarbeiter, seine jesuitische Unterordnung unter die Parteidisziplin zum „Wohle der Menschheit“; die Flucht nach dem Reichstagsbrand Richtung Moskau, wo Freunde wie Tretjakow und Carola Neher dem stalinistischen Terror zum Opfer fallen, ohne ein Wort des Widerspruchs von seiner Seite; illusionslose Weiterreise nach Skandinavien angesichts von Säuberungsprozessen, die viele Millionen Kommunisten das Leben kosten, nur um Stalins Alleinherrschaft zu sichern; Ringen um das ideologische Glaubenssurrogat, was ihn sogar vor sich selbst noch rhetorische Fragen stellen läßt, wo er bereits über Gewißheiten verfügt; die Beteuerung vor dem McCarthy-Ausschuß, niemals Mitglied der kommunistischen Partei gewesen zu sein; Rückkehr in die DDR, wo seine Frau Helene Weigel das Theater am Schiffbauerdamm übernimmt, er aber mit österreichischem Paß, schweizerischem Konto und westdeutschem Verleger für den Parteiapparat unangreifbar bleibt, weswegen man ihn auch bespitzeln läßt. Eingeklemmt zwischen den blutrünstigen Diktatoren, „mit starrem Blick auf die Utopie hinter den Leichenbergen“, und abgeschirmt in einer Viererbeziehung zwischen Helene Weigel und Margarete Steffin, die seinen Alltag organisieren, sowie Ruth Berlau, die ihm wichtige Kontakte und Visas für die wechselnden Exilländer beschafft, bis die eine an Tuberkulose stirbt und die andere in einer psychiatrischen Klinik landet, um in ihrem Krankenbett später zu verbrennen, gönnt er sich den immateriellen Luxus eines „Raubbaus am menschlichen Leben“, während Europa in Flammen steht. Brecht, der erst zum Patriarchen des Berliner Ensembles wird, als er am 17. Juni 1953 Loyalitätsbekundungen an die politische Nomenklatura verschickt und bei einem Gehalt von 4000 Mark gegenüber dem Durchschnittslohn von 297 Mark ein Theater für die Arbeiter zu machen glaubt, ohne die korrumpierenden Privilegien des totalitären Staates zu hinterfragen. Zuletzt ein Verwalter seines „Nachlasses zu Lebzeiten“, der, von Machthabern isoliert und gehänselt, zumindest seinem spottenden Wunsch an die Nachwelt, „wen immer ihr findet, der bin ich nicht“, gerecht wurde.
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