Nénette et Boni

Drama | Frankreich 1996 | 103 Minuten

Regie: Claire Denis

Die in Marseille angesiedelte Beziehungsgeschichte eines Geschwisterpaares, das sich nach langer Trennung und trotz gegenseitiger Ablehnung immer intensiver annähert. Der junge Mann betreibt eine mobile Pizza-Bäckerei und hat sich recht und schlecht im Alltag eingerichtet; seine 15-jährige Schwester ist schwanger und bedarf dringend der Hilfe. Wie die Figuren entblättert auch der Film selbst Sensibilität und Intelligenz erst nach und nach, versteckt seine Substanz hinter einem fast eklektisch wirkenden ersten Eindruck. Dabei verweigert er sich dem Diktat eines streng austarierten Handlungsgerüsts und offenbart gerade dadurch jene Freiräume, die intelligentes Kino ausmachen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
NENETTE ET BONI
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Dacia Film/La Sept Cinéma/Canal +/Cenre National de la Cinématographie
Regie
Claire Denis
Buch
Claire Denis · Jean-Pol Fargeau
Kamera
Agnès Godard
Musik
Tindersticks
Schnitt
Yann Dedet
Darsteller
Grégoire Colin (Boni) · Alice Houri (Nénette) · Valeria Bruni-Tedeschi (Bäckersfrau) · Jacques Nolot (Monsieur Luminaire) · Alex Descas (Der Gynäkologe)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Der knapp 20jährige Boniface, kurz Boni genannt, hat sich seinen Alltag im Hafenviertel von Marseille recht und schlecht eingerichtet: mit seinem Zwergkaninchen, der vollautomatischen deutschen Kaffeemaschine, auf die er besonders stolz ist, und seinen hartnäckigen, akribisch in einem kleinen Notizbuch aufgezeichneten Masturbationsfantasien. Mit einer mobilen Pizza-Bäckerei bedient er Hafenarbeiter ebenso wie Nachtschwärmer - aber nur, wenn es seine Geldknappheit unbedingt erfordert. Als Besitzer eines kleinen Hauses, das er von seiner jung verstorbenen Mutter geerbt hat, ist er gegenüber seinen Altersgenossen sogar in einer ausgesprochen privilegierten Position und bildet für sie eine Art Mittelpunkt. Irgendwo gibt es noch seinen Vater, der einst seine Mutter und ihn verlassen hat, ein Ladenbesitzer und "Lampenheini" - hin und wieder schickt Boni einen Fluch in seine Richtung. Nichts könnte Boni weniger gebrauchen als seine kleine Schwester Nénette, die seit Trennung der Eltern beim Vater aufgewachsen ist - und niemand anderes als sie steht eines Tages vor seinemHaus, quartiert sich stillschweigend ein. Daß sie, im wahren Sinne des Wortes, ein Problem mit sich herumträgt, stellt sich erst langsam heraus: Nénette ist schwanger. Die beiden Geschwister nähern sich trotz lautstark nach außen hin artikulierter Abneigung immer weiter an. Boni wächst gar in einem Maße über seine vorgeblichen Lebensmaximen hinaus, das ihn grundlegend verändern wird.

Der eigentlich klassischen Konstellation einer Annäherung zwischen zwei Menschen, die lange voneinander getrennt waren und durch ihre Begegnung eine Katharsis erfahren, vermag Claire Denis verblüffend neue Facetten abzugewinnen. So werden die Figuren auf eine fast beiläufige Weise eingeführt, ihr Tun wirkt zufällig, scheint keiner stringenten Handlungslogik zu unterliegen. Erst nach und nach läßt sich erahnen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. So wie sich Boni lange dagegen wehrt, seinen bequemen, aber wenig verantwortungsvollen Lebenswandel aufzugeben, so zögernd offenbart der Film quasi seinen Plot. Die Kameraarbeit von Agnès Godard entspricht wiederum diesem Verfahren: Ganz dicht schließt sie zu Gesichtern und szenischen Details auf, schafft damit eine Intimität, die zunächst nur Behauptung ist, sich aber schnell mit individueller Charakteristik anreichert. Auch die Montage wirkt auf den ersten Blick eklektisch, fast abrupt, ist voller harter Anschlüsse und eigentlich "überflüssiger" Einstellungen. Es handelt sich hier um eine höchst originelle Mischung aus intellektuellem Understatement und formaler Experimentierfreude. Claire Denis verweigert sich dem Diktat eines streng austarierten Handlungsgerüsts und vermag gerade dadurch ihren Helden, sich selbst und nicht zuletzt dem Zuschauer jene Freiräume einzuräumen, die intelligentes Kino erst ausmachen. Struktur und Substanz ihres Films werden nicht ausgestellt, erweisen sich aber als um so tragfähiger. Wenn man will, stellt auch dies eine Analogie zu Bonis Verhalten dar, der nicht viel Worte macht, im entscheidenden Moment aber seinen inneren Qualitäten entsprechend handelt. Seine Lauterkeit ist in gleichem Maße verinnerlicht und selbstverständlich wie das innovative Potential von Claire Denis filmischer Arbeit. Die Regisseurin äußerte einst in einem Interview mit Michael Omasta: "Was werden Leute denken, die diesen Film in 50 Jahren sehen? Wird man sehen können, daß ein gewisser Stolz darin liegt, ein menschliches Wesen zu sein? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß es Menschen gibt, denen man dieses Recht nimmt. Ich glaube, daß das das eigentliche Thema meiner Filme ist. Und vermutlich auch der Grund, weshalb ich überhaupt Filme mache." Dem braucht eigentlich nur hinzugefügt zu werden, daß zur Integrität von "Nénette et Boni" auch subtiler Humor, Selbstironie und Spiellaune gehören. Vor allem Valéria Bruni-Tedeschi glänzt an der Seite von Vincent Gallo als Bäckersfrau (und in einer Reihe versteckter Rollen) und ist wundervoll gegen ihren sonstigen Typ besetzt.
Kommentar verfassen

Kommentieren