Junk Mail - Wenn der Postmann gar nicht klingelt

Tragikomödie | Norwegen 1996 | 83 Minuten

Regie: Pål Sletaune

Ein nicht sonderlich diensteifriger Postbote, der gern die Briefe seiner Kunden öffnet oder sie in einem Versteck hortet, schleicht sich mit einem Nachschlüssel in die Wohnung und damit in das Leben einer jungen, von ihm verehrten Frau, womit er eine Lawine dramatischer Ereignisse auslöst. Eine mit skurrilem Humor gewürzte Tragikomödie mit liebenswerten unkonventionellen Figuren. Die präzise Inszenierung betont trotz aller surrealen Momente immer wieder die Lebensnähe der Geschichte. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
BUDBRINGEREN
Produktionsland
Norwegen
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Movie Makers/Norsk Film/Atlas Film
Regie
Pål Sletaune
Buch
Jonny Halberg · Pål Sletaune
Kamera
Kjell Vassdal
Musik
Joachim Holbek
Schnitt
Pål Sletaune
Darsteller
Robert Skjaerstad (Roy) · Andrine Seather (Line) · Per Egil Aske (Georg) · Eli Anna Linnestad (Betsy) · Trond Hovik
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Warum, fragt man sich, verteidigt Roy so verbissen seine Posttasche gegen drei Junkies, wo er doch sonst nicht gerade ein mustergültiger Vertreter seines Berufsstandes ist? Denn allzu gerne liest er in den Briefen seiner Kunden oder schmeißt sie gleich in eine mit nichtzugestellter Post ausgefüllte „Höhle“ im Bogen eines Zugtunnels. Aber genau diese Zwiespältigkeit paßt zu Roy, der einerseits die personifizierte Langeweile ist und mißmutig und ungepflegt seinen Dienst versieht, andererseits doch ungeahnte Energien entwickelt, wenn seine Neugierde geweckt wird. Eines Tages beobachtet er eine junge Frau, die in einer Buchhandlung ein Medizinlexikon stiehlt. Noch unentschlossen, ob er mehr von der „professionell“ ausgeführten Tat oder von der Täterin fasziniert ist, folgt er ihr zu ihrer Arbeitsstätte in einer Reinigung. Am nächsten Tag kreuzen sich ihre Wege wieder: Line wohnt in einem der heruntergekommenen Häuserblocks seines Zustellbezirks. Sie läßt ihren Schlüsselbund am Briefkasten hängen, und Roy kann der Versuchung nicht widerstehen, sich Nachschlüssel machen zu lassen. Fortan nimmt er Lines Wohnung immer in Besitz, wenn sie nicht zu Hause ist, und nähert sich so einer Frau, der er seine Gefühle nicht offenlegen kann. Aber das Eindringen in Lines Privatsphäre bringt noch etwas an den Tag: Offensichtlich ist sie in einen Raubüberfall auf einen Geldboten verwickelt. Als Roy auf Lines Bett einschläft, wird er erst wach, als sich der Schlüssel im Schloß dreht. Zum Glück nimmt ihn die schwerhörige Line nicht wahr. Als er sich aus der Wohnung schleichen will, entdeckt er sie in der Badewanne, vollgepumpt mit Schlaftabletten. Er ruft den Rettungswagen. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nimmt Roy allen Mut zusammen und lädt Line zum Kaffee ein. Auch Line will reinen Tisch machen und gibt ihrem damaligen Komplizen Georg das bei ihr versteckte Geld zurück. Roy hat die beiden beobachtet und folgt nun Georg, dem er in einem günstigen Moment das Geld entreißt. Unglücklicherweise verliert er dabei seine mit einer Gravur versehene Armbanduhr, so daß Georg ihn ausfindig machen kann. Als er in Roys Wohnung ein Foto von Line entdeckt, zählt er eins und eins zusammen. Und als es Roy gelingt, Georg zu entwischen, macht sich dieser auf den Weg, um Line zur Rede zu stellen. Da kommt Roy und Line das Schicksal in Figur zweier Schläger zu Hilfe, die es eigentlich auf den Postboten abgesehen haben. Das Paar kann vor dem arg ramponierten Georg fliehen, der bei dem Versuch, die beiden aufzuhalten, ausgerechnet in jenem „toten“ Briefkasten landet, der so viele Geheimnisse Roys und seiner Kunden birgt.

Ähnlich wie ihre niederländischen Kollegen pflegen auch einige nordische Filmemacher einen bizarr-surrealen Humor, der viel zu selten den Weg in die hiesigen Kinos findet. Dabei strahlen die Protagonisten dieser Filme viel mehr Leben aus als die „Kunstfiguren“ der marktbeherrschenden Hochglanzproduktionen. Freilich muß man schon bereit sein, sich auf „Helden“ wie Roy einzulassen, da er zu jener Sorte Mensch gehört, neben die man sich nur ungern in der Straßenbahn setzt, weil man ihre Ungepflegtheit nicht riechen möchte. Und dennoch hat Roy, der die Vorurteile auch mit seinen Eßgewohnheiten bestärkt, etwas Liebenswürdiges an sich. So korrespondiert seine befremdende Neugier auf wundersame Weise mit dem Interesse, diese skurrile Figur näher kennenzulernen. Dieselbe Spannung verspürt man bei Line, die zwar als Diebin und Räuberin eingeführt wird, aber eine Verletzlichkeit und Wärme ausstrahlt, die das Interesse an ihrem wahren Charakter weckt. In dem Maße, wie man sich den beiden annähert, kommen sich auch Roy und Line näher, ohne sich ihre Gefühle zu offenbaren. „Es“ geschieht irgendwo im Innern der beiden in sich verkrusteten, in ihren Schrullen gefangenen Menschen.

Daß man diese Zuneigung spürt, liegt an der großartigen Schauspielkunst von Robert Skjaerstad und Andrine Saether sowie an Pal Sletaunes präziser Führung, die die Darsteller in den Mittelpunkt stellt und den Bildern kein ablenkendes Eigenleben gestattet. Kameramann Kjell Vassdal „liest“ in den Gesichtern und fängt ebenso intensiv die Atmosphäre Oslos jenseits der Touristen-Routen authentisch ein. Die funktional eingesetzte Kamera betont dabei noch den (neo-)realistischen Ansatz der Inszenierung, der wunderbar mit dem skurrilen Humor der Geschichte korrespondiert, der auch der Tragik des Alltäglichen ihren Platz läßt. Beschämt und traurig zugleich, würde man am liebsten den Raum verlassen, wenn Roy die Liebesbezeugungen einer genauso einsamen Kollegin oder die einer Kneipenbekanntschaft abweist. Und genauso „leidet“ man mit, wenn ein Kollege Roys bei einem Karaoke-Wettbewerb zaghaft seine Stimme erklingen läßt. Auch der „böse“ Georg und die beiden Schläger wirken eher wie Bekannte aus der Nachbarschaft, und vielleicht sind sie einem deshalb alle so sympathisch in dieser trotz aller Fantastereien so lebensnahen Geschichte.
Kommentar verfassen

Kommentieren