Krimi | Frankreich 1998 | 173 Minuten

Regie: Jacques Rivette

Eine junge Forscherin, die in Paris an der Entdeckung eines Mittels gegen Krebs arbeitet, wird auf gleich mehrfache Weise mit den tragischen Ereignissen in ihrer Familie konfrontiert. Sie will sich an jenem Mann rächen, der ihren Vater tötete, muß sich aber trotz der Erkenntnisse der wahren Zusammenhänge in ihr eigenes Schicksal fügen. Um die Präsenz einer faszinierenden Hauptdarstellerin rankt sich eine auf der Folie des Kriminalfilms entwickelte, hochkomplexe Paraphrase des antiken Stoffes der "Orestie". Dabei gelingt es Jacques Rivette souverän, die dichte Intensität Hitchcockscher Handlungs- und Stilelemente mit einer tiefgründigen Meditation über die Tragik in der menschlichen Existenz in Einklang zu bringen, wobei sich Spiel und Ernsthaftigkeit auf höchst anregende Weise durchdringen. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
SECRET DEFENSE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Pierre Grise Prod./La Sept Cinéma/T&C Film/Alia
Regie
Jacques Rivette
Buch
Jacques Rivette · Pascal Bonitzer · Emmanuelle Cuau
Kamera
William Lubtchansky
Musik
Jordi Savall
Schnitt
Nicole Lubtchansky
Darsteller
Sandrine Bonnaire (Sylvie Rousseau) · Jerzy Radziwilowicz (Walser) · Laure Marsac (Véronique/ Ludivine) · Grégoire Colin (Paul) · Françoise Fabian (Geneviève)
Länge
173 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Krimi | Drama
Externe Links
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Diskussion
Im Grunde ist „Geheimsache“ eine Auftragsproduktion: Sandrine Bonnaire wünschte sich fünf Jahre nach „Johanna, die Jungfrau“ (fd 30 961) eine neuerliche Zusammenarbeit mit Jacques Rivette, und dieser erdachte sich für sie einen Kriminalfilm. Nun ist freilich ein Kriminalfilm von Rivette alles andere als eine konventionelle Genregeschichte, vielmehr nur der Ausgangspunkt für eine fast schon kosmische Reise ohne (gedankliche) Grenzen und Begrenzungen, für einen typisch Rivetteschen Weltenentwurf, der einen ebenso gefangennimmt wie befreit von allen „Gesetzen“ gängigen filmischen Erlebens. Dabei sind Ausgangsmoment und zentrales Motiv ähnlich klar wie in einem „ordentlichen“ Krimi: Da gibt es Rätsel und Geheimnisse, die bereits in den ersten Minuten durch kleinste Kamerabewegungen in ein subtiles Spannungsverhältnis gesetzt werden; und da gibt es immer wieder, bis auf wenige Sequenzen, Sandrine Bonnaire, ihre Körperhaltung und ihre Bewegungen, vor allem aber ihr Gesicht, das seit Agnès Vardas „Vogelfrei“ (fd 25 543) vor 13 Jahren alles kindlich Unbefangene verloren hat: ein ernster Blick, eingerahmt von scharfen, fast kantig konturierten Gesichtszügen, eine überraschend hohe Stirn, die einen an Tippi Hedren erinnert, womit sich bereits einer von vielen Bezügen in diesem Film zu Alfred Hitchcock ergibt. Ansonsten ist der Eindruck dieses ebenso schönen wie enigmatisch beunruhigenden Gesichts „klassisch“, und in der Tat steht Sandrine Bonnaire im Zentrum einer modernen „Orestie“, einer Variante der antiken Tragödie um Elektra, ihren Bruder Orest sowie die in den Tod mündenden Intrigen um ihren ermordeten Vater Agamemnon.

Sandrine Bonnaire spielt Sylvie Rousseau, eine junge Forscherin, die in einem Pariser Labor an der Entwicklung eines Mittels gegen Krebs arbeitet. Eines Nachts – ein Insert verrät es genau: es ist Freitag, der 9. Mai, gegen 22 Uhr – erscheint dort ihr jüngerer Bruder Paul, um ihr zu offenbaren, daß der Tod ihres Vaters vor fünf Jahren kein Unfall gewesen sei. Als Beweis dafür zeigt er Sylvie ein Foto, auf dem auch des Vaters engster Mitarbeiter Walser zu sehen ist, obwohl dieser behauptete, unmittelbar vor dem Unfall ganz woanders gewesen zu sein. Walser führte nach des Vaters Tod die Firma eigenständig weiter und machte aus dem Waffenunternehmen ein weltweit florierendes Geschäft. Jetzt will sich Paul an ihm rächen. Doch nach quälenden Tagen des Wartens, des Redens und des Versuchs, Ordnung in die Gedanken zu bringen, ist es Sylvie, die die Initiative an sich reißt: Sie reist aufs Land, bewaffnet mit einer Pistole, um Walser in seinem schloßartigen Haus zu töten. Doch eines langen Tages Reise in die Nacht endet mit einer unerwarteten Wendung: Die Kugel trifft Walsers Sekretärin und Geliebte Véronique. Sylvie schwinden die Sinne. Und mit ihrem Erwachen am nächsten Morgen schiebt sich in das Verdrängen ihrer nächtlichen Tat unaufhaltsam die nicht minder verdrängte Erinnerung an eine andere Tragödie in Sylvies Familie: an den unerklärlichen Selbstmord ihrer älteren Schwe-

ster Elisabeth. „Es gibt Unfälle, die so sehr einem Verbrechen gleichen, daß man es nicht unterscheiden kann“, erklärte ihr einmal Walser hintergründig. Und das Unterscheiden wird noch weitaus schwieriger, denn nichts existiert ohne den Bezug auf etwas anderes: die Vergangenheit bestimmt Gegenwart und Zukunft, ein Tod zieht einen anderen nach sich, ein Ende ohne Ende.

„Ich muß die Zellen vorbereiten, sonst sterben sie.“ Das ist einer der ersten Sätze Sylvies in diesem Film, und was sie als Kommentierung ihrer Arbeit meint, entwickelt sich zum düsteren Sinnspruch für ihr Schicksal, gegen das sie nicht angehen kann. Wie selten bei Rivette ist die Handlung ausgesprochen klar akzentuiert, und der Zuschauer vermag ihr mit Neugierde, Anteilnahme und innerer Spannung zu folgen. Dabei entsteht allmählich eine Sogwirkung, wie man sie ansonsten nur noch aus den düstersten Hitchcock-Filmen kennt, vor allem aus „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ (fd 7 835), auf den sich Rivette immer wieder bezieht, wenn er etwa eine Frau als die Doppelgängerin einer Toten aus dem Dunkel treten läßt oder wenn er sehr stark das Moment der Reise als einen auch inneren Vorgang betont: Sylvie im Zug sitzend, Walser im Auto fahrend, wobei die Kamera lange durch die Windschutzscheibe auf die Straße blickt. Vor allem sind es die thematischen Bezüge zu Hitchcocks filmischem Kosmos: die schwindelerregenden Verdopplungen von Handlungselementen, die schicksalhafte Vorbestimmtheit von Ereignissen, die schuldhafte Verstrickung in Begebenheiten, deren Tragweite sich nur ganz allmählich offenbart. Dramaturgisch weit wichtiger als die wenigen Szenen, in denen sich etwas Konkretes ereignet, sind die extrem langen Sequenzen dazwischen, in denen äußerlich nichts oder nur wenig geschieht: lange Gespräche, in denen sich die Personen verbal umkreisen, vor allem aber die akribisch dokumentierten Bewegungen und Aktionen Sylvies, etwa wenn sie nahezu wortlos ihre lange Reise per Zug aus Paris heraus unternimmt, oder wenn sie Métro fährt, an der Haltestation wartet, dann einsteigt, während der Fahrt aus dem Fenster schaut. Das sind extrem lange Momente, die sich der Echtzeit annähern und es ermöglichen, über ihre innere Befindlichkeit, Sylvies Unruhe, Rastlosigkeit und Zerrissenheit zu reflektieren.

Elektra, Orest, Ägisth, Agamemnon – Rivette reflektiert die antiken Gestalten weniger im Sinne der großen griechischen Tragöden als eher in dem Jean Giraudoux’, in dessen Adaption des Stoffes sich eine neue Form der Legitimation des Königsmordes andeutete, wenn auch die Folge davon eine unbeeinflußbare Kette des Sterbens blieb. „Ein Tod ruft einen weiteren nach sich, das ist unausweichlich und ohne Ende“, erklärt Rivette. „Das ist der Sinn der Tragödie.“ Sein Film geht in diesem Sinn weit über einen bloßen Krimi hinaus, auch über die cineastisch reizvollen Bezüge auf das „klassische“ Kino von Hitchcock, Fritz Lang und Douglas Sirk: „Geheimsache“ ist einerseits selbst autonome antikisierende (Film-)Dichtung, zugleich aber auch eine Art geistliche Dichtung, die sich bereits mit einer Vorspannmusik mit eindeutig mittelalterlichen Bezügen ins Spiel bringt. Unwillkürlich muß man da wieder an Sandrine Bonnaire in „Johanna, die Jungfrau“ denken. Rivette hatte dort die Heiligenlegende mit dem sehr modernen Verhalten „seiner“ Johanna konfrontiert; in „Geheimsache“ geht er nun den fast entgegengesetzten Weg, indem er eine moderne Gegenwartsgeschichte mit sehr „archaischen“, streng komponierten, fast statuarischen Szenen aufbereitet, um eine reine und hohe Dichtkunst anzustreben, die aus sich heraus zum Erlebnis des (Welt-)Verständnisses hinführt. (Daß dabei immer wieder auch Anspielungen auf die Wirtschafts- und Kulturmacht des aktuellen Europas zu entdecken sind, ist im übrigen ein weiterer Strang des Films.) Dies ist das unvergleichliche Faszinosum dieses Films: Er ist federleichtes Spiel und zugleich geprägt von tiefgründiger, an die menschliche Existenz rührender Ernsthaftigkeit. Ihm nahezu drei Stunden lang zu folgen, ist gleichzeitig anstrengend und gedanklich inspirierend, weil Rivette das Kino als einer der ganz wenigen Filmemacher noch als eine Art „geistige Droge“ versteht, das die Seele wie ein Fenster öffnet und zu einem geistigen und emotionalen „Höhenflug“ animiert. „Durchschreite die Jahrhunderte, ohne Halt, ohne Blick zurück, und betrachte am Ende das Drama.“ Dies sagt einmal ein Freund zu Sylvie, teils verschwörerisch, teils verführerisch, teils warnend. Und wenigstens dies eine Mal lächelt Sylvie.
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