Gangsterfilm | Großbritannien 1997 | 106 Minuten

Regie: Antonia Bird

Ein professioneller Räuber, der einst in einer sozialistischen Bewegung von East London aktiv war, begeht zusammen mit einer Handvoll Gangster aus dem Viertel einen letzten großen Überfall, nach dem man sich zur Ruhe setzen will. Der Plan gelingt, doch die Beute wird gestohlen, woraufhin die Gang-Mitglieder sich gegenseitig verdächtigen. In stilistisch hochkonzentrierter Weise verbindet der Film Genremotive des Gangsterfilms mit einer realistischen Darstellung der Lebensweise in den ärmlichen Randgebieten Londons. Überzeugend gespielt, zeigt er die Notwendigkeit sozialer Bindungen, um anschließend deren Auflösung festzustellen. Die Hoffnungslosigkeit führt in letzter Konsequenz zum Verlust der Selbstachtung. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
FACE
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
BBC Films/Distant Horizon/British Screen
Regie
Antonia Bird
Buch
Ronan Bennett
Kamera
Fred Tammes
Musik
Paul Conboy · Adrian Corker · Andy Roberts
Schnitt
St. John O'Rorke
Darsteller
Robert Carlyle (Ray) · Ray Winstone (Dave) · Steven Waddington (Stevie) · Phil Davis (Julian) · Damon Albarn (Jason)
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16 (Video)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Gangsterfilm
Externe Links
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Diskussion
Während seine Mutter und seine Schwester mit roten Fahnen durch die Straßen von East London ziehen, um mit klassenkämpferischen Parolen gegen die Lohnpolitik der Regierung zu demonstrieren, ist Ray als Räuber zugange. Einst ist er auch voller Eifer mitmarschiert, doch eines Tages mochte er sich nicht mehr mit dem Glauben an Ideale zufriedengeben; er bedient sich inzwischen lieber, so seine Rechtfertigung, selbst der Mittel einer ohnehin kriminellen Gesellschaft. Bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Daher plant Ray zusammen mit seinem Kumpel Dave und drei weiteren Männern aus dem Viertel den Coup seines Lebens: einen Überfall auf eine Security-Firma. Die spektakuläre Aktion läuft wie geplant, bringt allerdings wieder nicht den erhofften Erlös. Kurz darauf wird jedem der Mitwirkenden sein Anteil an der Beute gestohlen, und Familienangehörige, die im Weg stehen, werden umgebracht. Weniger die Polizei macht der Gang daraufhin zu schaffen als die Tatsache, das fortan jeder jeden verdächtigt.

Nicht nur die Angehörigen Rays wissen um sein Betätigungsfeld; im ganzen Viertel genießt er einen entsprechenden Ruf. Die Gangster leben nicht in konspirativen Höhlen, sondern sind einfache Bürger mit wenig Geld, so wie alle anderen auch, zum Teil auch Familienväter. Alle wissen, daß man sich mehr oder weniger durchschummeln muß, um zurechtzukommen. Wichtiger als die gesetzliche Moral ist die gesellschaftliche, der Zusammenhalt der Kommune, der einzelne Mitglieder im Notfall abfedern kann. Immer wieder trifft man sich im Pub, um sich dieser Bindungen zu versichern. Antonia Bird zeigt in der ersten Hälfte ihres Films das Funktionieren und die Notwendigkeit dieses sozialen Systems, gerade auch am Beispiel von Rays Zerrissenheit. Ray – großartig gespielt von Robert Carlyle – hat seine Ideale keineswegs vergessen, zumal sie ihm täglich von seiner Geliebten aufgetischt (und in Rückblenden vergegenwärtigt) werden. Insofern erinnert er an die Hauptfigur in Antonia Birds Film „Der Priester“ (fd 31 345), die sich in einem ganz ähnlichen Dilemma befand. Auf Schritt und Tritt wird Ray von Selbstzweifeln geplagt, auch wenn er sie im Dialog rüde und mit Zynismus abschmettert: Dieser Coup sollte denn auch sein letzter sein. Innerhalb einer von Arbeitslosigkeit und Monotonie gekennzeichneten Welt, die Antonia Bird mittels weniger Farben darstellt, vorwiegend in düsterem Blau und Schwarz, versprechen allein die menschlichen Bindungen Rettung. Der zweite Teil des Films indes erzählt davon, wie auch diese zerbrechen.

Die Gang – der Filmtitel ist ein Unterwelt-Slangausdruck für Gangster – bricht in dem Moment auseinander, als ihre Mitglieder das gegenseitige Vertrauen verlieren. Indem Antonia Bird dieses Genre-Motiv nicht in einen Genre-Film einbettet, sondern in eine hochkonzentrierte Variante des britischen Vorort-Realismus, erzielt sie eine größtmögliche Wirkung. Nicht bloß eine Gangsterbande zerbricht hier, sondern ein ethischer Konsens, der allein das Zusammenleben auf der Schattenseite der Gesellschaft erträglich und möglich macht. Arm bestiehlt arm – die Selbstzerfleischung der sozial Schwachen vor dem Hintergrund verblassender Ideologeme erinnert an Filme von Buñuel und Pasolini. Doch Antonia Bird macht nicht das Menschliche an sich für den Verlust von Moral verantwortlich, sondern eine erdrückende Lebenswirklichkeit, die den Menschen zuerst ihre Hoffnung nimmt und dann ihre Selbstachtung.
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